Kolumne
Das Böse liebt unsere Gleichgültigkeit
Umzingelt von Krisen scheint unser gutes Leben zu verschwinden und das Böse überall zu gewinnen. Aber das muss nicht sein - wenn wir nicht gleichgültig werden, sondern handeln. Eine Geschichte von Hinschauen, Zusammenhalten und Hoffnung für eine ganze Familie. Eine Kolumne von Angela Krumpen.
Das kleine Mädchen ist starr vor Angst, als es die Treppe zu dem großen Haus hochgeht. Obwohl sie erst fünf ist, kennt sie schon Abschiebegefängnisse am Rande Europas. Jemand nimmt sie an die Hand, gemeinsam gehen sie in das neue, große Haus. Hier werden das Mädchen, ihre Geschwister und ihre Eltern für die nächsten Monate in einem Kirchenasyl in Sicherheit sein. Für die Zeit danach sieht es auch gut aus. Die Familie wird in Deutschland Asyl beantragen können: Da die Eltern – Jesiden – Opfer des Genozides des IS waren, gibt es zumindest die Chance auf Schutz.
Hoffnung für eine ganze Familie
Dass das Mädchen und seine Familie eine Perspektive haben, haben sie einer jungen Frau zu verdanken: Als Schulsozialarbeiterin arbeitet sie in einer Grundschule, wo ihr ein Junge der Familie aufgefallen war. Das Kind war einfach aus der Schule weglaufen, als ein Polizist zur Verkehrserziehung kam. Die junge Frau ging dem Jungen nach, bestellte die Eltern ein und erkannte schnell die besondere Notlage der Familie. Sie wollte nicht hinnehmen, dass die Familie wegen des sogenannten „Dublinabkommens“ abgeschoben wird.
Dieses Abkommen besagt, dass Menschen nur dort Asyl beantragen dürfen, wo sie in Europa zuerst registriert worden sind. Das war in diesem Fall ein osteuropäisches Land am Rande von Europa. Hier war die Familie ein Jahr im Abschiebegefängnis inhaftiert, hier wurde eines der Kinder misshandelt. Die junge Sozialarbeiterin lässt sich die Geschichte erzählen, informiert sich, sucht Unterstützung und Verbündete. Ein paar Wochen später bringt sie die Familie hunderte Kilometer entfernt in ein Kirchenasyl.
Nicht gleichgültig werden
Warum erzähle ich diese Geschichte? Für mich zeigt sie wie in einem Brennglas, was wir gerade in unserem Land brauchen. Jetzt, wo Rechtsradikale von dem Sturz der Demokratie träumen und konsequent daran arbeiten, an die Macht zu kommen. Jetzt, wo uns die Klimakrise zu Recht ängstigt, und jetzt, wo in Europa wieder Krieg geführt wird.
Was wir jetzt am Allermeisten brauchen, damit unser Leben gut bleibt, ist: Zusammenhalten. Hinschauen. Tun, was in unserer Macht steht. Vor allem aber: nicht gleichgültig sein. Uns nicht lähmen lassen von Angst und dem Gefühl: „Ich kann ja doch nichts machen!“ Doch, wenn jede und jeder von uns in seinem eigenen Leben hinschaut, so wie die junge Sozialarbeiterin, können wir viel machen. Und wenn wir nicht wollen, dass die Zeiten sich wieder pechschwarz verfinstern, müssen wir das sogar!
Eigentlich sind wir so stark
Eine der eindringlichsten und glaubwürdigsten Warnungen, wie wir das Pechschwarze abwenden, hat uns gerade Alexej Nawalny als Vermächtnis hinterlassen. Bevor er freiwillig nach Russland zurückging, hat er für den Fall, dass er ermordet werde, ein Video aufgenommen. In diesem 42 Sekunden kurzen Video sagt Nawalny unter anderem: „Ich habe Euch etwas sehr Offensichtliches zu sagen: Ihr dürft nicht aufgeben. Wenn sie entscheiden, mich zu töten, ist das der Beweis, wie unglaublich stark wir sind. Die einzige Sache, die das Böse triumphieren lässt, ist, wenn gute Menschen nichts machen. Also, sei nicht inaktiv.“
Sei nicht inaktiv, sagt Nawalny. Er könnte auch sagen: Sei nicht gleichgültig. Denn es ist nicht gleich gültig, ob Kinder in sichere Häuser gehen und ganze Familien wieder eine Zukunft haben. Für ein gutes Leben ist es nie gleich gültig, wenn wir gleichgültig sind. Oder eben nicht.