Gerechtigkeit
17.10.2024
Was schulden wir unseren Eltern?
„Ehre deinen Vater und deine Mutter“, sagt das vierte Gebot. In welcher Pflicht stehen Erwachsene eigentlich ihren Eltern gegenüber?

Eltern sind für ihre Kinder verantwortlich, jedenfalls bis zu einem gewissen Alter. Aber umgekehrt? Gibt es eine besondere Verantwortung der erwachsen gewordenen Kinder für ihre Eltern, gibt es sogenannte „filiale Pflichten“? Was schulden wir unseren Eltern, vor allem dann, wenn sie alt und auf Unterstützung angewiesen sind?
Fragen dieser Art sind Gegenstand philosophisch-ethischer Debatten. Zugleich sind es lebenspraktisch-existenzielle Fragen: Nicht wenige erwachsene Kinder treibt die Frage um, was sie ihren Eltern schulden, wie viel Kraft sie in die Unterstützung, Betreuung oder Pflege ihrer Eltern investieren wollen, können und sollen. Was schulden sie tatsächlich, was ist ein unbegründetes, aber mächtiges Schuldgefühl? Welche Grenzen dürfen und sollen sie setzen?
Fragen dieser Art sind Gegenstand philosophisch-ethischer Debatten. Zugleich sind es lebenspraktisch-existenzielle Fragen: Nicht wenige erwachsene Kinder treibt die Frage um, was sie ihren Eltern schulden, wie viel Kraft sie in die Unterstützung, Betreuung oder Pflege ihrer Eltern investieren wollen, können und sollen. Was schulden sie tatsächlich, was ist ein unbegründetes, aber mächtiges Schuldgefühl? Welche Grenzen dürfen und sollen sie setzen?
Soll man Schlechtes mit Gutem abwägen?
Besonders komplex wird die Frage, wenn Eltern ihre Kinder vernachlässigt oder geschädigt haben. Wie kann ein Kind das abwägen mit dem, was es vielleicht zugleich an Gutem erfahren hat? Welches elterliche Fehlverhalten macht es moralisch akzeptabel, wenn ein erwachsenes Kind seine Unterstützung einschränkt oder die Beziehung abbricht? Und: Wenn es mehrere Kinder gibt – wie kommen sie zu einer fairen Aufteilung der Aufgaben und Belastungen?Fragen, auf die es keine allgemeingültigen Antworten gibt, aus der sich einfache Lösungen ableiten lassen! Vielleicht können folgende Hinweise helfen:
Keine vertraglichen Tauschbeziehungen
Erstens: Die Rede vom „Schulden“, von „Rechten“ und von „Pflichten“ kann in die Irre führen. Die Schweizer Philosophin Barbara Bleisch hat ein Buch mit dem programmatischen Titel „Warum wir unseren Eltern nichts schulden“ geschrieben. Eltern-Kind-Beziehungen sind eben keine quasi-ökonomischen, vertraglichen Tauschbeziehungen, weswegen die Prinzipien einer aufrechnenden Tauschgerechtigkeit hier kaum passen.So auch die Psychologin und Autorin Sandra Konrad: „Wer glaubt, dass Kinder bei ihren Eltern in einer Schuld stehen, stellt sich Beziehungen wie eine Excel-Tabelle vor, die irgendwann ausgeglichen sein muss.“ Wenn Eltern ihr Bestes für ihre Kinder geben, ist das eher ein großes Geschenk, für das Dankbarkeit angemessen ist, aus dem aber keine Rechte oder „Schuldscheine“ erwachsen. Und wenn erwachsene Kinder ihre Dankbarkeit zeigen, ist das zwar moralisch lobenswert, aber keine Pflicht. Daraus eine einklagbare Pflicht zu machen, mindert die besondere Qualität einer aus Dankbarkeit und Liebe sich speisenden Zuwendung.
Persönliche Bedürfnisse und Grenzen
Zweitens: Im offenen Gespräch unter den Beteiligten kann sich zeigen, wem welche konkrete Verantwortung zukommt. Was wünsche ich von den Eltern, Kindern oder Geschwistern? Was können und sollen die Einzelnen geben? Welche Belastungsgrenzen kann und will ich nicht überschreiten? Darüber gilt es offen zu sprechen, sich dabei in die anderen hineinzuversetzen, aber auch eigene Bedürfnisse zu artikulieren. All das kann herausfordernd sein, Mut erfordern, enttäuschen und weh tun. Aber: Oft verfestigen sich und eskalieren Konflikte, weil eigene Wünsche und Bedürfnisse – oder Phantasien, was die anderen denken, fühlen und wollen – nicht auf den Tisch kommen.Drittens: Es klingt paradox, aber Distanz kann Nähe ermöglichen. Wenn sich Kinder im Laufe des Erwachsen-Werdens von ihren Eltern emotional abnabeln, müssen sie keine insgeheimen Aufträge und Erwartungen mehr erfüllen und können Schuldgefühle ihre Macht verlieren. Diese Ablösung führt nicht zum Bruch – ganz im Gegenteil. Gerade „abgelöste“ Kinder können ihren Eltern aus freien Stücken und Dankbarkeit heraus Zuwendung schenken – ohne das eigene Wohl opfern zu müssen. Diese Ablösung ist freilich eine große, oft lebenslange Reifungsaufgabe jedes Menschen. Dazu braucht es Unterstützung durch „frei-gebende“ Eltern, manchmal auch beratende oder therapeutische Unterstützung.
Wir sollten das Gebot, die Eltern zu ehren, nicht als ewig drückende Pflicht der Schuldbegleichung verstehen. Die Eltern zu „ehren“ kann heißen, die uns geschenkte Liebe zu würdigen und in aller Freiheit mit Liebe zu beantworten.
Thomas Steinforth, Referent für Theologische Erwachsenenbildung an der Domberg-Akademie in Freising
In einer Online-Veranstaltung am Montag, 11. November, geht die
Domberg-Akademie von 19 bis 21.15 Uhr gemeinsam mit den Referenten Prof.
Dr. Jörg Löschke und Dr. Andrea Filova der Frage nach, was erwachsene
Kinder ihren Eltern schulden. Die Teilnahme kostet 15 Euro. Anmeldung
unter https://domberg-akademie.de.