Gerechtigkeit
08.07.2025


30 Jahre Genozid von Srebrenica

Europas vergessener Völkermord

Vor 30 Jahren, im Juli 1995, wurde das Massaker von Srebrenica verübt. Über 8.300 Menschen, überwiegend männliche bosnische Muslime, wurden ermordet. Sabina Ferhadbegović, Historikerin und Heisenberg-Stipendiatin am Leibniz-Institut für Europäische Geschichte in Mainz, erinnert an ein monströses Verbrechen, das vielen kaum bekannt ist.

     

Bei einer Gedenkveranstaltung zum zehnjährigen Jahrestag des Massakers wurden am 11. Juli 2005 rund 600 Opfer des Genozids von 1995 bestattet. Bei einer Gedenkveranstaltung zum zehnjährigen Jahrestag des Massakers wurden am 11. Juli 2005 rund 600 Opfer des Genozids von 1995 bestattet. Foto: © imago/ZUMA Press Wire

Als im Februar 2022 der russische Angriffskrieg auf die Ukraine begann, war das Entsetzen in Europa groß. In den Medien war viel vom „ersten Krieg auf europäischem Boden seit dem Zweiten Weltkrieg“ die Rede – ein Satz, der verrät, wie sehr der kriegerische Zerfall Jugoslawiens aus dem kollektiven Gedächtnis verdrängt wurde.

Die Bilder der zerstörten Städte Vukovar und Dubrovnik oder des belagerten Sarajevo sowie die Berichte über Internierungslager, Massenvergewaltigungen, Massenvertreibungen und Morde scheinen in Vergessenheit geraten zu sein. Mit ihnen auch Srebrenica – jener kleine Ort im Osten Bosnien-Herzegowinas, in dem sich im Juli 1995 das schlimmste Verbrechen in Europa seit 1945 ereignete: der Genozid an mehr als 8.300 Bosniaken.

Vorgeschichte und Ausgangslage

Um die Ereignisse von Srebrenica zu begreifen, muss man in die frühen 1990er Jahre zurückblicken, als Jugoslawien zerfiel. Bosnien-Herzegowina, eine multiethnische Teilrepublik mit Bosniaken (bosnischen Muslimen), Serben und Kroaten, erklärte im April 1992 seine Unabhängigkeit. Doch kaum war der neue Staat ausgerufen, begannen nationalistische Kräfte unter den bosnischen Serben – unterstützt von der Regierung in Belgrad – mit dem Versuch, ein eigenes serbisches Territorium auf bosnischem Boden zu schaffen: die „Republika Srpska“. Ihr Ziel war die ethnische Homogenisierung der von ihnen beanspruchten Gebiete. Unter dem Deckmantel der politischen Neuordnung begann eine groß angelegte militärische Aktion mit Massakern, Vertreibungen, Inhaftierungen und systematischen Vergewaltigungen aller, die als Nicht-Serben wahrgenommen wurden.

Die militärischen Kräfteverhältnisse waren von Beginn an ungleich. Während die bosnisch-serbische Seite fast das gesamte Arsenal der Jugoslawischen Volksarmee übernahm – inklusive schwerer Artillerie, Panzer und Luftwaffe –, verfügte die bosnische Regierung über kaum organisierte Streitkräfte. Ein von der UNO verhängtes internationales Waffenembargo verschärfte die Situation zusätzlich: Es galt formal für alle Kriegsparteien, traf in der Realität jedoch vor allem die Regierung in Sarajevo. Während die serbischen Truppen gut ausgerüstet in die Offensive gingen, konnten sich die bosnischen Streitkräfte kaum bewaffnen oder verteidigen.
    

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Enklave und „Schutzzone“

In dieser Eskalation formte sich auch der Schauplatz Srebrenica. Im Mai 1992 gelang es Einheiten der bosnischen Armee, die Stadt aus der Kontrolle der serbischen Streitkräfte zu befreien. Bald darauf wurde sie zur Zuflucht für Zehntausende Vertriebene. Srebrenica, nun eine bosniakische Enklave inmitten serbisch kontrollierter Gebiete, war völlig überfüllt und verfügte über keine Wasserversorgung, keinen Strom, keine Nahrung und keine medizinische Versorgung. Um die humanitäre Katastrophe einzudämmen, erklärte der UN-Sicherheitsrat die Stadt im April 1993 zur „Schutzzone“ und entsandte UN-Blauhelme. Doch was als Schutz gedacht war, wurde zur tragischen Farce.

Am 11. Juli 1995 wurde die Illusion von Sicherheit endgültig zerstört. Die Armee der Republika Srpska marschierte, unterstützt von Paramilitärs und serbischen Spezialeinheiten, in Srebrenica ein – ohne auf ernsthaften Widerstand zu stoßen, weder von der bosnischen Armee noch von den UN-Schutztruppen. Die dringend erwartete Luftunterstützung der Vereinten Nationen blieb aus. Tausende Menschen flohen zum UN-Stützpunkt im nahe gelegenen Potočari, in der Hoffnung, dort Schutz zu finden. Doch die niederländischen Blauhelme verweigerten die Evakuierung und übergaben die Schutzsuchenden dem bosnisch-serbischen Militär.

Der Völkermord von Srebrenica

Was dann geschah, ist ein Verbrechen von unfassbarem Ausmaß: Serbische Einheiten trennten Männer und Jungen von den Frauen. Die Frauen wurden deportiert, ohne dass die UN-Blauhelme kontrollierten, was mit ihnen geschah. Die männlichen Flüchtlinge aber wurden systematisch ermordet – in Feldern, Wäldern, Lagerhallen und Gruben. Viele Leichen wurden in Massengräbern verscharrt, später exhumiert und umgebettet, um das Verbrechen zu vertuschen. Über 8.300 Menschen verloren in wenigen Tagen ihr Leben, nur weil sie Muslime waren. Nur wenige überlebten. Hasan Nuhanović etwa, weil er als Dolmetscher für die UN arbeitete. Oder Nedžad Avdić, der als 17-Jähriger eine Massenerschießung schwer verletzt überlebte und sich aus dem Massengrab rettete.

Erst nach und nach erfuhr die Weltöffentlichkeit von den Dimensionen des Massakers. Frauen warteten vergeblich auf ihre verschwundenen Männer und Söhne. Erst als Satellitenbilder der USA Massengräber zeigten, wurde die internationale Gemeinschaft auf das Ausmaß des Verbrechens aufmerksam. Sie führten zur Operation Deliberate Force, einem massiven NATO-Luftangriff auf serbische Stellungen. Dieses Eingreifen zwang die serbische Führung an den Verhandlungstisch. Im Dezember 1995 beendete das Friedensabkommen von Dayton den Krieg offiziell.

Nachgeschichte: Erinnerung,
Leugnung, Last der Wahrheit

Doch mit dem Frieden waren die Konflikte nicht vorbei. Die internationale Justiz reagierte und der Internationale Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien (ICTY) eröffnete Prozesse. Im Jahr 2001 wurde erstmals ein General der Republika Srpska wegen Völkermords verurteilt. Es folgten weitere Verurteilungen, darunter auch der gesamten politischen und militärischen Spitze der Republika Srpska. Der ehemalige serbische Präsident Slobodan Milošević starb im Gefängnis in Den Haag vor Abschluss seines Prozesses.

Dennoch bleibt die Erinnerung umkämpft. In der Republika Srpska und in Serbien wird der Völkermord vielerorts bis heute geleugnet. Auch in den Niederlanden ringt man mit der eigenen Rolle: Eine Mitverantwortung der niederländischen UN-Truppen wurde lange verdrängt oder relativiert. Es waren Überlebende wie Hasan Nuhanović oder die „Mütter von Srebrenica“, die durch juristische Kämpfe und persönliche Zeugnisse das kollektive Schweigen durchbrachen.


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Erschreckende Passivität

Über Jahre hinweg zeigten die europäischen Staaten eine erschreckende Passivität. Eine gemeinsame europäische Linie blieb aus. Während in Bosnien Städte zerstört, Zivilisten ermordet und Hunderttausende vertrieben wurden, dominierte eine Haltung des Zusehens, die oft als diplomatische Zurückhaltung getarnt war.

Hinzu kam eine tief verwurzelte Wahrnehmung, die das Geschehen als bloßen „Bürgerkrieg“ abtat – als blutigen Ausbruch archaischer Gewalt, wie man ihn angeblich vom Balkan kenne. Damit wurde übersehen, dass es sich um gezielte, politisch gesteuerte Kampagnen handelte, angetrieben von einer zerstörerischen Logik: der Idee des ethnisch homogenen Nationalstaats, die mit den Mitteln des Völkermords umgesetzt wurde. Dass diese Form ethnonationalistischer Gewalt mitten in Europa möglich war, bleibt eine fundamentale Herausforderung für das europäische Selbstverständnis.

Parallelen zur Ukraine

Auch heute erinnert das zaghafte, verspätete und zögerliche Vorgehen gegenüber der russischen Aggression in der Ukraine erschreckend an das Wegsehen während des Bosnienkriegs. Wieder fehlt eine geeinte europäische Außenpolitik, wieder dominiert das Zögern.

Die Rückkehr genozidaler Gewalt – erst in Bosnien, nun in der Ukraine – ist jedoch kein Phänomen der europäischen Peripherie, das sich aussitzen ließe, sondern, wie der deutsche Historiker Joachim von Puttkamer bemerkt, ein mögliches Vorbeben neuer ethnonationalistischer, kulturell aufgeladener, postdemokratischer Konflikte. Deshalb ist es notwendig, den Völkermord in Srebrenica als festen Bestandteil in Schulbüchern, an Universitäten und in der öffentlichen Debatte zu verankern – als Bezugspunkt für Fragen der internationalen Verantwortung, der Erinnerungskultur und der europäischen Geschichte.

Sabina Ferhadbegović