Krieg im Nahen Osten
Das Massaker der Hamas und das Jahr danach
Der Judaist Christian Rutishauser kommentiert: Der Nahostkonflikt hat ein Jahr nach dem 7. Oktober 2023 eine weltweite Dimension angenommen.

Das Massaker der Hamas am 7. Oktober 2023 und der folgende Gazakrieg sind Teil des politischen Nahostkonflikts. Doch noch viel mehr steht auf dem Spiel, wie die gesellschaftlichen Eruptionen in West und Ost sowie der weltweit ansteigende Antisemitismus zeigen. Die postkoloniale Sicht, die das Massaker als legitimen Befreiungskampf der Palästinenser gegen Israel deutet, versucht die Intention der Vereinten Nationen, nach der Schoah dem jüdischen Volk einen souveränen Staat an der Seite eines palästinensischen Staates zu schaffen, zu verdrängen. Jüdische Israelis wiederum sind retraumatisiert, weil der eigene Staat sie vor archaischer Gewalt, die an die Pogrome Europas erinnert, nicht schützen konnte.
Der jüdischen Tradition ist jedes Leben wertvoll
Die Palästinenser aber stellen sich angesichts der horrenden Opferzahlen des Kriegs großteils hinter die Hamas. Sie werden Geiseln einer islamistischen Ideologie, die nicht nur antisemitisch ist, sondern sich grundsätzlich gegen den Westen richtet, wie es der Iran seit Jahren erklärt. Die von der Hamas gehaltenen israelischen Geiseln aber treffen die israelische Gesellschaft zutiefst. Die eigene Bevölkerung im Krieg ausliefernd, weiß die Hamas, dass der jüdischen Tradition jedes einzelne Leben wertvoll ist. Wie leicht ist da Israel zu spalten, weil ein Teil nur mit Gegengewalt reagieren will und einige den Krieg sogar als national-religiösen messianischen Endkampf verstehen!
Wer kämpft im Nahen Osten eigentlich gegen wen? Und worum geht es im weltanschaulichen Kampf bei uns im Westen? Vor Ort stehen sich Extremisten gegenüber. Es kämpfen Menschen, die eine homogene und identitäre Gesellschaft wollen, gegen solche, die für eine offene, plurale Gesellschaft einstehen. Verdichtet zeigt sich ein Konflikt, der heute alle betrifft. Christen und Christinnen haben hier mit ihrem Ethos einen Beitrag zu leisten.
Kehrt die "jüdische Frage" zurück?
Global gesehen aber ist, so schrecklich es klingen mag, die „jüdische Frage“ zurück. Sie hat das Europa der Moderne umgetrieben. Viele ließen sich von den Nazis verführen, die eine „Endlösung“ anboten. Menschliche Lösungen sind aber immer begrenzt. Herausforderungen bleiben, um sich in ihnen zu bewähren. Vor allem aber lehrt der Glaube seit dem Konzil, dass das jüdische Volk im „unwiderrufenen Bund“ mit Gott steht und der Kirche an die Seite gegeben ist – als Stachel und als Segen.
(Pater Christian Rutishauser SJ, Judaist und Theologe an der Universität Luzern)