Manchmal lebt man im Heim besser als bei den Eltern
Rita Kondo und Doreen haben in einer Mädchenwohngruppe des skf in Thalkirchen gewohnt. Heute sind sie starke, selbstbewusste Frauen. Beim 50-jährigen Jubiläum der Einrichtung haben die beiden von ihren Erfahrungen berichtet.
Doreen ist groß, schlank, trägt die Haare hochgesteckt und eine kleine runde Brille. Heute ist sie 38 und Sozialarbeiterin und kann professionell einordnen, warum ihre Mutter sich nicht um sie gekümmert hat: „Sie war einfach überfordert mit der Situation als relativ junge alleinerziehende Mutter. Ihre eigene Geschichte und ihren eigenen Problemen haben sie so vereinnahmt, dass da keine Kapazität mehr war, um sich um ein Kind zu kümmern.“
Doch damals hat sie sich nur eines gewünscht. Nämlich: dass endlich jemand auf ihre Not aufmerksam wird. Sie erinnert sich an Gespräche, die ihre Mutter und der Nachbar von gegenüber beim Rauchen geführt haben. Zum Beispiel nach einem Tag, an dem das junge Mädchen vor lauter Not aus Leibeskräften geschrien hatte. Der Nachbar hatte das offensichtlich gehört, denn er fragte die Mutter: „Na, hattet ihr gestern wieder eine Grundsatzdiskussion?“ – anstatt ihr Hilfe zukommen zu lassen.
Als ihre Mutter überhaupt nicht mehr nach Hause kam, war Doreen 15. Eine Lehrerin hat das Jugendamt verständigt. „Das war zum ersten Mal die Erfahrung: da sieht jemand, dass es mir nicht gutgeht.“ Vorher war sie so damit beschäftigt, eine Fassade aufrecht zu erhalten. Das hat viel Kraft und Energie gekostet. Doch zu dem Zeitpunkt war ihr das nicht bewusst, denn sie kannte ja nur diese Variante von Familie. Mit dem Anruf beim Jugendamt war eine riesengroße Erleichterung eingetreten, weil endlich jemand reagierte.
Eine ähnliche und doch auch ganz andere Geschichte hat Rita Kondo. Sie ist bei Menschen aufgewachsen, die qua Gesetz ihre Stiefeltern und somit Erziehungsberechtigte waren. Aber: Sie haben Sie nur als billiges Hausmädchen benutzt, körperlich und psychisch misshandelt und gedemütigt. Mit 12 hat sie von einer Freundin erfahren, dass sie nicht bei diesen Menschen bleiben muss und hat sich ans Jugendamt gewandt.
Und auch sie hat die Erfahrung gemacht, dass sie ernst genommen wird, dass ihr jemand zuhört und auf ihrer Seite ist. Aber ihre Gefühle sind noch eine ganze Weile Achterbahn gefahren. „Da sind auch schon mal Stühle geflogen. Es ist einfach eine schwierige Zeit. Du bist mit dir selber beschäftigt und hast nie gelernt, deine Gefühle zu steuern. Und dann ist auch noch immer jemand da. Das muss man auch annehmen und damit umgehen können. Und das konnte ich damals nicht.“
Heute sagen beide: Die Zeit in der Einrichtung war eine schöne Zeit, weil immer jemand da gewesen sei für sie. Rita Kondo: „Du wirst nicht geschlagen, du bist einfach geschützt.“ Und Doreen ergänzt: „Das war vielleicht einer der klarsten Schnitte, die es in meinem Leben gab. Ich glaub schon, dass ich da ganz viel sortieren und nachholen konnte. Und dass da einfach ein Stück Heilung passiert ist.“