Gefängnisseelsorge Berlin: Jugendliche zwischen Schuld und Neubeginn
In der Jugendstrafanstalt Berlin-Plötzensee begleitet Diakon Thomas Marin junge Inhaftierte. Gespräche über Verantwortung, Sinnsuche und Vergebung – zwischen Inhaftierungsschock und Resozialisierung.

Vergitterte Fenster, Stacheldraht auf dem Dach, überall verschlossen Türen, die man nicht alleine öffnen kann. Wer zum ersten Mal im Gefängnis einsitzt, erleidet in der Regel einen Schock. „Inhaftierungsschock" heißt das in der Fachsprache, eine Reaktion auf das Eingesperrtsein, den plötzlichen Freiheitsentzug.
57.000 Gefangene sind derzeit in den Justizvollzugsanstalten in Deutschland inhaftiert, 320 in der Jugendstrafanstalt Berlin in Plötzensee im Norden der Hauptstadt. Bari, 18 Jahre alt und wegen versuchten Totschlags verurteilt, ist einer von ihnen. Wie alle Gefangenen in dieser Geschichte heißt er eigentlich anders.
Zwischen Haftalltag und Erinnerung
In gewisser Weise sei er froh, dass er jetzt „im Knast" sei, sagt der junge Afghane, ein schlanker Mann mit kurzen dunklen Haaren. Er empfinde die Strafe als etwas, das er verdient habe. „Auch wenn man es nicht wieder gut machen kann." Er habe das Datum, an dem er jedes Jahr einmal vorbei muss, genau im Kopf und wisse auch noch, was er anhatte an jenem Tag. „Man vergisst es nie. Wie den Geburtstag." Von dem Mann, den er fast getötet hätte, sah er sich selbst und seine Familie bedroht, erzählt er. So sei es dann passiert. „Für mich hat es sich angefühlt, als hätte ich mich verteidigt."
Das Jugendgefängnis, ein Gebäude aus rotem Backstein mit weißen Gitterfenstern, liegt unweit der Justizvollzugsanstalt Plötzensee für Erwachsene. In der NS-Zeit wurden auf dem Gelände zahlreiche Widerstandskämpfer hingerichtet.
Gottesdienst, Gespräche, Gemeinschaft
Diakon Thomas Marin ist hier seit 18 Jahren katholischer Seelsorger für die Gefangenen, die zwischen 14 und 24 Jahren alt sind. Wenn er mit dem Generalschlüssel quer über den Hof geht, kann es passieren, dass einer der Gefangenen, der gerade mit einem Betreuer auf dem Weg zum Fußballplatz ist, ruft: „Herr Marin, wie geht's Dir? Bis bald, mein Bester!" Marin - grauer Bart, wache Augen, weißer Priesterkragen - antwortet dann meist etwas schnoddrig mit Berliner Schnauze: „Bis eben noch janz jut." Dann schiebt er erklärend nach: „Die Jungs wissen, dass ich sie mag."

Termine mit Marin sind in der Anstalt begehrt, die Gottesdienste sonntags ganz gut besucht. „Es ist natürlich auch eine Abwechslung", sagt der 59-Jährige. „Hier ist es ja recht 'reizarm'".
In seinem Büro auf der zweiten Etage in einem Nebengebäude trifft sich seine Gruppe; hier führt er auch Einzelgespräche. Gesellschaftsspiele stehen im Regal, an der Wand ein Kreuz und ein Bild von Papst Leo XIV. Sie trinken Kaffee, reden oder spielen Karten. Manchmal singen sie auch aus den zerfledderten Liederbüchern.
Bari, der in der Gefängniswerkstatt Tischler lernt, hat dem Seelsorger ein Schachbrett aus Holz gezimmert. Glatt geschliffen steht es in dem kleinen Büro im Regal. „Weil ich Herrn Marin so dankbar bin", sagt Bari.
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Bildung statt Rückfall
Auch Frederik, ein junger Mann mit hellen Augen und blondem Haar, sucht den Seelsorger regelmäßig auf. Seit vier Jahren ist der 24-Jährige im Gefängnis - verurteilt wegen Mordes. „Schuldig im Namen des Volkes", sagte der Richter bei der Urteilsverkündung. „Ich denke jeden Tag daran, was ich getan habe", sagt Frederik. „Ich weiß, dass ich irgendwann wieder nach Hause kann. Jemand anders kann nie wieder nach Hause." Dieser andere ist der Unbekannte, den er im Streit getötet hat. „Abgestochen", wie Frederik selbst sagt.
„Es ist den allermeisten schon bewusst, dass sie ein Unrecht begangen haben", sagt Seelsorger Marin. Nur selten werde eine Tat als solche nicht eingesehen. Er glaubt, dass keiner aus dem Knast herausgeht, wie er hineingekommen ist. „Ob das besser oder schlechter ist, liegt an ihnen selbst, sage ich den Jungs immer", erklärt der Seelsorger. „Die Zeit hier kann man nutzen und auch als Chance sehen: Es gibt welche, die machen hier im Gefängnis ihr Abitur. Draußen hätten sie vielleicht weiter Drogen gedealt."
Bitte um Vergebung
Morgens aufstehen, Schule oder Arbeit in den Werkstätten, danach Mittagessen, nachmittags Freizeit. Bari zum Beispiel hat Gitarrenunterricht. Beim Kaffeetrinken in Marins Büro zeigt er, was er gelernt hat. „Über den Wolken, da muss die Freiheit wohl grenzenlos sein" von Reinhard Mey, das Lied mag er am liebsten. Marin und die anderen in der Runde nennen es das „Uber-Lied". „Weil ich so Probleme habe, das 'Ü' auszusprechen", sagt Bari mit einem Schmunzeln.
Frederik hat der Mutter des jungen Mannes, den er getötet hat, in einem Brief geschrieben, wie sehr ihm seine Tat leidtut. „Eine Entschuldigung hätte die Mutter nicht akzeptiert", sagt Marin. „Aber den Brief als solchen schon."
Der Gefangene trägt unter dem T-Shirt einen Rosenkranz mit weißen Perlen wie eine Kette um den Hals. Nicht nur heute, wenn „die Presse" da ist. Sondern jeden Tag, wie er erzählt. Er bete auch jeden Abend. „Auch für die Mutter meines Opfers. Ich bete dafür, dass es ihr gut geht." Manchmal zweifele er aber an Gott, sagt er. „Wenn es ihn gibt, warum hat er dann zugelassen, dass ich so etwas tue?" Dass er abgerutscht sei, daran hätten seine Eltern keine Schuld: „Ich bin selbst schuld. Ich hatte eine wunderschöne Kindheit. Ich hatte alles."

Zwischen Albträumen und Hoffnung
Sein Kumpel Jan, 20 Jahre alt, sieht es ähnlich. Manchmal, wenn er morgens aufwacht, glaubt er, dass alles wieder in Ordnung, dass er in Freiheit ist. Das sind die guten Nächte. „Dann träume ich oft von meiner Familie, meinen Freunden. Das Draußen spielt dabei immer eine Rolle", sagt Jan. Es gibt aber auch die bösen Träume. „Da geht es um die Tat." Auch er ist wegen Mordes verurteilt, war bei der Tat noch minderjährig.
Das Wichtigste sind für ihn die Besuche seiner Familie. Den Geburtstag seiner Schwester hat Jan, ein sportlicher Typ, auf den Arm tätowiert. Auch er geht in den Gottesdienst, obwohl er nicht getauft ist. „Viele hier mit ihren Problemen interessieren sich dafür. Auch mir gibt es Hoffnung."
Missionieren will Seelsorger Marin nicht. „Ich schüttel hier keine Bibelsprüche aus dem Ärmel. In erster Line geht es mir darum, für den Menschen da zu sein", stellt er klar. „Ich möchte den Jungs, die zu mir kommen, einen anderen Horizont aufspannen. Dass da vielleicht eine Dimension ist, die man an sich ranlassen kann."