Beziehung
27.08.2025

Was schulden wir unseren Eltern?

Eltern investieren in ihre Kinder. Aber: Müssen wir uns wirklich revanchieren? Lebensberater Christoph Hutter erklärt, warum die Antwort auf diese Frage unbequem ist – und jede Familie sie neu verhandeln muss.
    

Foto: © sebra - stock.adobe.com

„Da haben Sie mir aber ein Thema aufgegeben“, sagt Christoph Hutter und lacht. Der Leiter der Ehe-, Familien-, Lebens- und Erziehungsberatung im Bistum Osnabrück hat zum Gespräch einen Stichwortzettel vor sich liegen. „Das mache ich sonst nicht“, sagt er. Und dass er entgegen seiner sonstigen Gewohnheiten mit etlichen Menschen in seinem Umfeld vorher darüber gesprochen hat, ob wir unseren Eltern etwas schulden – und wenn ja, was. Die Frage, schickt Hutter voraus, sei komplex. Zudem sei „Zug drauf“, weil beide Antworten – nichts! und: viel! – plausibel seien. Und weil die Frage, wie alles, was Familie betrifft, mit Emotionen verbunden sei: mit Liebe und Schmerz, mit Freude und Leid, mit Erwartungen und Vorwürfen, mit Schuldgefühlen und Erinnerungen. Da sachlich zu bleiben und „alles sauber zu durchdenken“, sei schwierig, sagt Hutter. Aber wichtig.

Warum Kinder kriegen egoistisch ist

Und dann haut der Berater als Erstes eine These raus, die provokativ klingt: „Kinder zu kriegen, ist ein unglaublich egoistischer Akt.“ Ja, Kinder kosteten Zeit und Geld, gibt er zu, und oft mache man ja den Kinderlosen den Vorwurf, egoistisch zu sein. Aber faktisch sei es doch so: „Man entscheidet sich für Kinder, weil man sie will. Weil man es sich toll vorstellt, Kinder zu haben.“ Kinder, sagt Hutter, gäben dem Leben Sinn, und zwar: dem Leben der Eltern. Für diese Sinnstiftung würden die Kinder ungefragt gebraucht. „Wenn es in der Beratung diese Form der Familienaufstellung gibt, in der ein erwachsenes Kind sich hinstellen und sagen soll: ‚Mama, ich danke dir, dass du mich geboren hast‘, dann ist das schwierig. Das war nicht der Wunsch des Kindes. Wir wurden einfach ins Leben geschubst, da gibt es nichts zu danken.“
    

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Warum Kinder ihren Eltern nichts schulden

Auch dass Eltern manches opfern für ihre Kinder, viel Zeit und Geld investieren in ihre Erziehung und Ausbildung, sei „nichts, was die Kinder irgendwann zurückgeben müssten“, sagt der Theologe, der selbst Vater von vier Kindern ist. Seine Begründung: „Zwischen Eltern und Kindern gibt es immer ein Gefälle. Das muss man für gesunde Beziehungen akzeptieren.“ Daraus folgt, dass die Eltern entscheiden, wie viel sie geben, und dass sie ihre Entscheidungen selbst verantworten müssen. Auch in Sachen Geld. „Eltern sollten nie mehr geben, als sie können“, sagt Hutter. „Sie türmen sonst eine Hypothek auf, die die Kinder nie zurückzahlen können.“ Und auch nicht müssen. „Die Eltern entscheiden, den Reitunterricht zu finanzieren, die Markenkleidung zu kaufen oder das teure Handy. Das ist nichts, wofür die Kinder sich irgendwann irgendwie revanchieren müssten.“ Auf den Punkt bringt es Hutter so: „Wir schulden unseren Eltern nichts.“ Einerseits.

Eltern prägen ein Leben lang

Andererseits: „In den 25 Jahren, in denen ich in der Beratung arbeite, habe ich noch nie jemanden erlebt, der sagt: ‚Ich schulde meinen Eltern nichts!‘ und dabei ganz gelassen bleibt.“ Es seien immer Emotionen im Spiel, egal ob Zorn oder Schuldgefühle, denn: „Meine Eltern sind immer Teil von mir, das ist unser Schicksal.“ Schon genetisch gilt das, aber auch in der Prägung, die wir in Kindheit und Jugend erfahren haben. „Unsere Persönlichkeit kommt nicht aus uns selbst, sondern aus unseren Beziehungen“, sagt Hutter. „Martin Buber hat mal gesagt: ‚Wir werden Ich nur am Du‘ – und das gilt in der Familie ganz besonders.“ Die Eltern, sagt der Berater, „stecken in mir drin, ob ich will oder nicht. Ich kann mich von ihnen fernhalten, aber von ihnen lossagen kann ich mich nicht.“


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Wenn Eltern alt werden: Geben statt zurückzahlen

Im Gegenteil sei es die Aufgabe, gerade in schwierigen Familienkonstellationen, „mich dazu zu verhalten“. Und wenn ich mich dazu verhalte, mein Verhältnis zu den Eltern kläre, dann kommt auch die Frage ins Spiel, ob und was ich ihnen geben will. Aber nicht im Sinne einer Pflicht, die ich ihnen schulde, sondern im Sinne einer Gabe, die ich ihnen schenke. Zeit zum Beispiel, Hilfe im Haushalt, Pflege. „Irgendwann im Leben, etwa wenn wir zwischen 40 und 60 sind, kippt das Gefälle zwischen Eltern und Kindern und die Eltern werden bedürftig“, sagt Hutter. „Dann müssen wir unsere Beziehung zu unseren Eltern neu bestimmen.“ Menschen hielten soziales Ungleichgewicht nicht gut aus: „Also geben wir anderen, was sie jetzt brauchen, damit die Waage wieder ins Gleichgewicht des Gebens kommt. Weil wir das wollen, weil es gut für uns alle ist, weil es allen guttut.“

Eltern ehren heißt nicht: Pflicht zur Pflege

Wenn es allen guttut. Denn eine moralische Norm, sagt Hutter, ist es nicht. Auch nicht aus christlicher Sicht, auch wenn das manchmal so dargestellt werde. Und was ist mit dem vierten Gebot: Du sollst Vater und Mutter ehren? „Da stimme ich zu“, sagt Hutter. „Aber ehren heißt für mich, mich ehrlich mit ihnen und unserer gemeinsamen Geschichte auseinanderzusetzen. Es bedeutet keine unbedingte Pflicht, mich zu kümmern.“ Auch die Kinder finanziell heranzuziehen, etwa für die Pflege, hält er für problematisch. „In biblischer Zeit waren Kinder für den Unterhalt ihrer alten Eltern zuständig, sonst wären die verhungert“, sagt er. „Aber heute ist die Generationengerechtigkeit etwas, das die Allgemeinheit beantworten muss, nicht die einzelne Familie.“ Nach einer Stunde ist der Zettel abgearbeitet. „Spannendes Thema“, sagt Hutter. Und eines, zu dem sich alle Eltern und allen Kindern eine eigene Meinung bilden sollten. Sachlich und sauber durchdacht.


Susanne Haverkamp
Artikel von Susanne Haverkamp
Theologin und Journalistin
Sie ist ein Kind des Ruhrgebiets, inzwischen in der norddeutschen Tiefebene zu Hause, Mutter zweier ziemlich erwachsener Kinder und genauso gern in Bewegung wie mit einem Buch im Liegestuhl. Beruflich schätzt sie den Austausch mit Leserinnen und Lesern, die Glaube und Kirche kritisch, aber wohlwollend hinterfragen.