Stille im Lärm
Warum Kopfhörer unser Rückzugsort geworden sind
Musik, Podcasts, Ruhe – Kopfhörer sind für viele der tägliche Begleiter im urbanen Raum. Doch was bedeutet das für unser Miteinander? Fördern sie Individualität oder soziale Isolation? Der Soziologe David Waldecker erklärt, wie Kopfhörer unser Zusammenleben prägen und welche gesellschaftlichen Folgen die akustische Abschottung hat.

Kabellos, lärmreduzierend, allgegenwärtig: Kopfhörer gehören heute zum Stadtbild. Menschen tragen sie im Bus genauso wie im Supermarkt oder auf den Wegen dorthin. Die „schalldichte Rundumverkapselung" sei zu einem urbanen Grundhabitus geworden, erklärte schon der Literaturkritiker Richard Kämmerlings in einem Meinungsbeitrag der "Welt". Doch wie wirkt sich diese akustische Isolation auf die Gesellschaft und den Einzelnen aus? Und warum ist das Tragen von Kopfhörern eigentlich so beliebt?
Der Soziologe David Waldecker hat sich schon 2017 in einem wissenschaftlichen Beitrag mit der Frage befasst. Neun Jahre später blickt er auf einen regelrechten Siegeszug der Kopfhörer. „Die drahtlosen Airpods hat dem Ganzen einen Schub gegeben", sagt Waldecker, der heute an der TU Darmstadt beschäftigt ist. Nutzten die meisten Menschen 2017 noch kabelgebundene Kopfhörer, haben sich spätestens mit der Corona-Pandemie kabellose Bluetooth-Kopfhörer durchgesetzt. Mit den Knöpfen im Ohr lässt sich telefonieren, Musik oder ein Podcast hören – überall dort, wo es eine Netzverbindung gibt.
Wie Kopfhörer unser Sozialverhalten beeinflussen
Laut Waldecker sind Kopfhörer aber viel mehr als ein Gebrauchsgegenstand. „Sie sind auch ein Zeichen an die Umwelt", sagt der Soziologe, der eine Doktorarbeit zur Soziologie der Musikproduktion geschrieben hat. „Manche setzen Kopfhörer auf, damit sie nicht angesprochen werden, das gilt vor allem für Frauen. Andere wiederum tragen Kopfhörer, um anderen zu suggerieren, dass sie nichts hören, während sie deren interessante Gespräche belauschen." Die meisten nutzten Kopfhörer aber wohl, um sich dem Umgebungslärm zu entziehen und sich unterhalten zu lassen. „Viele Kopfhörerträger finden, dass sie entspannter durch das Leben gehen", sagt Waldecker.
Doch an der massenhaften Kopfhörer-Nutzung stören sich auch viele. Schließlich wird der Kopfhörerträger erstmal unansprechbar – hört nicht das Klingeln hinter sich, steht manchmal im Weg herum, ohne es zu merken. Ob sich das Kopfhörertragen auch im Unfallgeschehen widerspiegelt, lässt sich nach Auskunft der Unfallforschung der Versicherer nicht genau sagen, dazu gebe es keine Daten. Fest stehe nur: Ablenkung im Verkehr sei eine Gefahr.
Technologie und Abschottung
Waldecker sagt: „Seitdem Kopfhörer in der Öffentlichkeit getragen werden, gibt es die Kritik, dass Menschen sich durch das Tragen von ihren Mitmenschen abkapseln." Kopfhörer wurden mit der Einführung des Walkmans in den 1980er Jahren verstärkt in der Öffentlichkeit als Freizeitbegleiter getragen. Bemerkenswert sei, dass das erste Modell von Sony 1979 über ein eingebautes Mikrofon verfügte, über das Umgebungsgeräusche an die Walkmanhörer weitergegeben werden konnte. Mitte der 80er Jahre verschwand diese Funktion dann wieder, berichtet Waldecker.
Allein diese Entwicklung zeige, dass der Gegensatz von akustischer Isolation und öffentlicher Interaktion damals bereits problematisiert wurde. Waldecker beschreibt in seinem Essay von 2017 mit Bezug auf die Historikerin Heike Weber, wie das private Musikhören in der Öffentlichkeit in den 1980er Jahren „insbesondere in Verbindung mit der Sozialfigur des Yuppies und dem damals in Westdeutschland aufkommenden Joggen (...) mit einer Kaltschnäuzigkeit assoziiert" wurde, „die gut zum damaligen Zeitgeist passte: 1982 wurde der Begriff 'Ellenbogengesellschaft' zum Unwort des Jahres gewählt".
Wie Kopfhörer unser Sozialverhalten beeinflussen
Inzwischen erlebe das Kopfhörertragen aber eine breite sozial Akzeptanz: Je mehr Menschen sie trügen, desto akzeptierter würden sie. Und längst sind sie nicht mehr nur in oder auf den Ohren jüngerer Menschen zu sehen, sondern auch bei älteren Generationen. Zudem sei das Wissen darüber verbreitet, dass viele Menschen Kopfhörer tragen. Seien Menschen lange davon ausgegangen, dass man mit anderen einen gemeinsamen Hörraum teile, werde heute damit gerechnet, dass Mitmenschen "Nicht-Hörende" seien – und zwar nicht wegen einer Behinderung, sondern wegen der Kopfhörer.
Der Philosoph Georg Simmel schrieb einst, Menschen müssten eine gewisse Blasiertheit und Abgestumpftheit entwickeln, um in der Großstadt zu leben. „Gerade in beengten Räumen, in der Bahn beispielsweise, kommen uns fremde Menschen zwangsläufig nah", sagt Waldecker. Diese Enge zwinge teilweise dazu, Gespräche mitzuhören, die einen nichts angingen, die man gar nicht hören wolle. Kopfhörer aufzusetzen sei eine gute Lösung mit geringen sozialen Kosten, findet der Soziologe.
„Es wäre aufwendiger und riskanter, jemand anderem zu sagen, er oder sie solle leiser sein, weil man sich gestört fühlt. So eine Situation könnte in einem Konflikt enden – das wäre das Gegenteil von dem, was ich haben möchte: Ruhe." Dass Kopfhörer-Modelle auch eine "Noise-Cancelling"-Funktion hätten, mache das Weghören noch einfacher. Diese Funktion blendet Umgebungsgeräusche aus und ist nach Angaben einer Sprecherin des Elektronikhändlers MediamarktSaturn aktuell ein „besonders gefragtes Feature". Waldecker betont, dass sich Menschen allerdings schon immer von anderen distanziert hätten: etwa durch das Zeitunglesen in der Bahn.
Warum wir Stille im Lärm suchen
Der Soziologe wagt auch eine These: Die in der öffentlichen Wahrnehmung zunehmende Polarisierung der Gesellschaft könne zu einem verstärkten Rückzug beigetragen haben. „Vielleicht will ich nicht hören, wie mein Sitznachbar schlecht über Ausländer redet oder die Ehe für alle verteufelt", nennt er Beispiele. Wenn niemand mehr hinhöre, sei das aber für den gesellschaftlichen Zusammenhalt problematisch. „Der Rassist fühlt sich bestätigt, wenn er unwidersprochen andere beleidigen kann", fürchtet der Soziologe.
Für den Einzelnen könne die akustische Abkapselung darüber hinaus zu mehr Einsamkeit führen. „Dann hat der Einsame noch nicht mal mehr den ritualisierten Austausch, ob Kopfhörerträger oder nicht", warnt Waldecker. Andererseits bezweifelt er, dass der Mehrheit der Menschen wirklich etwas fehle, wenn sie nicht gemeinsam mit anderen Fahrgästen über komische Ansagen des Lokführers lachten oder in Eintracht die Augen verdrehten. „Wir haben wahrscheinlich ein zu romantisches Bild unserer Gesellschaft. Wahrscheinlich verpasst man nicht viel, wenn man Kopfhörer trägt." Je mobiler die Menschen seien, desto mehr Gelegenheiten böten sich ihnen jedenfalls, Kopfhörer zu tragen.
MediamarktSaturn beobachtet derweil eine steigende Nachfrage nach sogenannten Open-Ear-Kopfhörern: Diese sitzen nicht im oder auf dem Ohr, sondern nahe des Ohrs und übertragen die Musik durch Knochenschall oder Luftübertragung. Dadurch sollen Nutzer Musik hören können und dabei gleichzeitig noch ihre Umgebung wahrnehmen. Nach Angaben des Elektronikhändlers werde diese Gleichzeitigkeit aber vor allem bei Outdoor-Aktivitäten geschätzt – und offenbar weniger in der Stadt.