Beziehung
24.07.2025


Caritas-Wohnheim in Berlin 

„Hier macht einem keiner was vor“: So wohnen Erwachsene mit geistiger Behinderung in Berlin

Im Caritas-Wohnheim in Berlin wird Gemeinschaft nicht nur organisiert, sondern gefühlt. Leiterin Petra Aisenbrey schafft ein Zuhause, in dem Menschen mit Beeinträchtigung selbstbestimmt leben können. 
    

Ein gedeckter Esstisch in der Wohnküche im Caritas-Wohnheim für Erwachsene mit Behinderung Ein gedeckter Esstisch in der Wohnküche im Caritas-Wohnheim für Erwachsene mit Behinderung Foto: © Nina Schmedding/KNA

„Komm mal her, Frau Aisenbrey", sagt die junge Frau und hält die andere, die Leiterin des Wohnheims, an den Händen fest, als sie ihr unverhofft in der Wohnküche begegnet. Sie stehen da und lächeln sich an, einfach so, sekundenlang. Dann löst sich Sonderpädagogin Petra Aisenbrey aus dem Griff. Für sie ist die Leitung dieser Einrichtung für Erwachsene mit geistiger Beeinträchtigung „der Traumjob", wie sie erzählt. „Ich liebe das - auch die totale Offenheit und Ehrlichkeit der Bewohner. Keiner macht einem hier was vor."

Rund 300.000 Menschen mit geistiger Beeinträchtigung leben nach Angaben von Verbänden in Deutschland; gemeint ist damit, dass ihr Intelligenzquotient (IQ) geringer als der der Durchschnittsbevölkerung ist. Je nach Ausprägung kann das die Selbstständigkeit im Alltag beeinträchtigen, so dass diese Menschen auf Unterstützung angewiesen sind, zum Beispiel das Down-Syndrom oder eine Autismus-Störung haben. Eine geistige Beeinträchtigung kann etwa genetisch angeboren sein aber auch entstehen, wenn die Mutter in der Schwangerschaft Alkohol getrunken hat.

Im Caritas-Wohnen für Erwachsene am Michaelkirchplatz in Berlin-Mitte, einem ehemaligen Klosterstift, leben insgesamt 24 Bewohner zwischen 20 und 63 Jahren in drei Wohngruppen; im gleichen Haus sind zwei Kindergruppen untergebracht. Es gibt einen großen Gymnastikraum mit Trampolin, einen Entspannungsraum, einen geräumigen Innenhof. An den Wänden hängen Bilder, die die Bewohner selbst gestaltet haben.

Gesellschaftliche Vorurteile:
Wo Akzeptanz noch fehlt

Ablehnung von Menschen mit Behinderungen? Die gibt es, immer noch: Im rheinischen Sinzig etwa protestierten unlängst Anwohner mit einem Brief gegen den Neubau eines Hauses für eingeschränkte Menschen in ihrer Nachbarschaft. Grundsätzlich habe sich die gesellschaftliche Akzeptanz aber deutlich verbessert, sagt Petra Aisenbrey - auch wenn sie Sätze wie „Die hätten sie besser vergast" von Anwohnern einer anderen Einrichtung, in der sie tätig war, vor Jahren noch gehört hat.

In dem backsteinernen Haus am Michaelkirchplatz bekommt sie gelegentlich Beschwerde-Mails, allerdings im höflichen Ton. „Das sind Anwohner, die hier Eigentumswohnungen gekauft haben und sich dann durch langes nächtliches Schreien gestört fühlen. Das kann hier bei manchem Bewohner schonmal vorkommen", gibt sie zu, sagt aber auch: „Sie wussten ja, als sie die Wohnung kauften, dass wir hier wohnen, zumal es diese Einrichtung seit über 25 Jahren gibt."
    

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Petra Aisenbrey: Warum sie diesen Job liebt

Als junges Mädchen hat Petra Aisenbrey nach dem Abitur in einer Nervenklinik als Pflegehelferin gearbeitet und danach Sonderpädagogik studiert. Sie hat promoviert, war lange an der Uni und in der wissenschaftlichen Unternehmensberatung tätig. Und dann wollte sie wieder zurück zur Arbeit mit Menschen mit Beeinträchtigung.

„Hier war ich immer am glücklichsten", sagt die 58-Jährige, eine Frau mit blondgrauen Locken, die in dunkelblauer Hose, Pullover und farblich abgestimmten Pumps schlichte Eleganz ausstrahlt. Sie hat ihr Büro unten im Haus, geht aber regelmäßig durch die Wohneinheiten, um sich bei den Bewohnern in Erinnerung zu rufen und auch nach dem Rechten zu schauen. Sie sieze die Bewohner ganz bewusst, um die Augenhöhe zu gewährleisten, erklärt sie. Diese sind da allerdings unkomplizierter: „Hallo, Aisenbrey", ruft eine Bewohnerin ihr auf dem Flur hinterher. „Manchmal heiße ich auch Kartoffelbrei", sagt die Sonderpädagogin mit einem Schmunzeln.

Jeder hat hier sein eigenes Zimmer, gegessen wird in der hellen Wohnküche der jeweiligen Gruppe. An diesem Freitagabend ist Fischtag. Auf dem geräumigen Sofa sitzt Sabine, 65 Jahre alt, die wie alle Bewohner in dieser Geschichte eigentlich anders heißt. Sie hat Feierabend, war den halben Tag in der Behinderten-Werkstatt. Jetzt wartet sie aufs Abendessen. „Happhapphapp", sagt sie und wiederholt noch einmal: „Happhapphapp". Ihre Betreuerin Michaela Voß stellt klar: „Das hat jetzt nicht unbedingt was mit Essen zu tun, es heißt einfach, dass es ihr gut geht."

Das Leben in den Wohngruppen

Es ist nicht immer leicht, zu erkennen, was Menschen möchten, die sich kaum mit Worten ausdrücken können, sagt Petra Aisenbrey. Zudem: Man könne dem Willen eines geistig behinderten Menschen nicht immer gerecht werden - auch wenn sein Wille richtig erkannt wurde. Die Fachfrau erzählt das Beispiel eines Bewohners mit einem Pica-Syndrom - jemand, der dazu neigt, ungenießbare Substanzen oder Gegenstände, wie beispielsweise Stöcke oder Batterien zu verspeisen. „Damit derjenige sich nicht selbst tödlich verletzt, muss man das verhindern", sagt sie - auch wenn das gegen den momentanen Willen verstoße.

Jede Wohngemeinschaft wird rund um die Uhr von mindestens einer Fachkraft betreut - Menschen, die nicht ständig wechseln und die die Bewohner deshalb gut kennen. Nur bei personellen Engpässen, beispielsweise bei Ausfällen durch Krankheit muss die Einrichtungsleiterin auf eine andere Lösung zurückgreifen: „Ich versuche hier, einen Stamm an festen Aushilfskräften aufzubauen, um den Bedürfnissen meiner Bewohner gerecht zu werden", sagt die Pädagogin und erklärt: „Niemand möchte von ständig wechselnden fremden Menschen im Intimbereich gewaschen werden."
  

Petra Aisenbrey, Leiterin des Caritas-Wohnheims für Erwachsene mit Behinderung Petra Aisenbrey, Leiterin des Caritas-Wohnheims für Erwachsene mit Behinderung Foto: © Nina Schmedding/KNA
[inne]halten - das Magazin 20/2025

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Der Glaube an Engel ist für viele Menschen von großer Bedeutung.

Lesen Sie im [inne]halten-Magazin unseren Themenschwerpunkt und weitere Geschichten und Berichte aus dem kirchlichen Leben.

Selbstbestimmung im Alltag:
Kleine Aufgaben, große Wirkung

Erzieherin Michaela Voß arbeitet gern hier: „Ich mag die Gemütlichkeit, die Fröhlichkeit." Dass sie bald in Pension geht, tut der 63-Jährigen leid: „Die sind mir alle ans Herz gewachsen, auch wenns mal Ärger gibt." Frank, 42 Jahre alt, räumt gerade sein Zimmer auf. „Bin fertig", meldet er Michaela in der Küche. „Na, Deinen Mülleimer haste aber vergessen", sagt sie. Das Aufräumen des eigenen Zimmers gehört zu den Aufgaben, die die Bewohner, die dies können, selbst erledigen müssen. So gut es geht, kaufen sie auch selbst ein - Frank ist etwa für die Besorgung des Waschmittels zuständig.

Ein Wochenplan, der im Flur an der Wand hängt, zeigt mit kleinen Bildern, wer an welchem Tag Aufgaben für die Allgemeinheit zu erledigen hat. Lesen können die Bewohner in aller Regel nicht.

Aber Fernsehen oder Videos schauen viele gern - und Musik mögen sie. Frank etwa trägt ein T-Shirt von Beatrice Egli, einer Schweizer Schlagersängerin. Andrea, 37 Jahre alt, die das Down-Syndrom hat, liebt Tanzen. „Und Horrorfilme", sagt sie begeistert. Den Film „Sara, die kleine Prinzessin" mag sie dagegen nicht so gern. „Da sterben die Eltern", sagt sie mit Nachdruck, um deutlich zu machen, wie schlimm sie das findet. Oft besuche sie zu Hause ihren Papa.

Menschen mit Beeinträchtigung, Menschen mit Einschränkungen - oder einfach behinderte Menschen? Für Petra Aisenbrey ist die Formulierung nicht entscheidend: „Es kommt in der Hauptsache nicht auf die Worte an sich an, sondern wie man es meint - auf die innere Haltung", findet sie. Sie strahlt Zuversicht aus und wirkt wie ein Mensch, der auch mit harten Realitäten gut klar kommt. Trotz aller Erfahrung gibt es Dinge, die ihr nahe gehen. Das kleine Mädchen zum Beispiel, das in der Wohnung seiner Mutter in Obhut genommen wurde. Die Siebenjährige wog nicht einmal mehr zehn Kilogramm und war völlig dehydriert, erzählt die Pädagogin. „Es gibt Dinge, die nimmt man mit nach Hause."

KNA
Artikel von KNA
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