Bibel im 21. Jahrhundert (3)
„Wie lese ich die Bibel mit den Augen des 21. Jahrhunderts?“ – Dieser Frage geht die MK nach. Von der Arche Noah bis zum Jüngsten Gericht greift sie heiße Eisen der Heiligen Schrift auf und erläutert sie interessierten Gläubigen von heute.
Diese Woche geht es um die Frage, in welchem Sinne Jesus der „Sohn“ seines „Vaters“ ist und wie er sich darin von uns unterscheidet.
Stephan Witetschek ist Privatdozent für Neutestamentliche Exegese, Heisenberg-Stipendiat der Deutschen Forschungsgemeinschaft und Leiter des Projekts „Memoria Apostolorum“ an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München.
Glaubt mir doch, dass ich im Vater bin und dass der Vater in mir ist.“ (Joh 14,11) „Typisch Johannesevangelium!“, möchte man zu diesem Zitat sagen: ein Miteinander, Ineinander und Durcheinander von Vater und Sohn, bei dem sich doch niemand so recht auskennen kann. Aber versuchen wir es doch einmal und orientieren wir uns dabei am Prolog des Johannesevangeliums (Joh 1,1–18): Im Johannesevangelium bezeichnet Jesus Gott oft als seinen Vater – oder einfach nur als „den Vater“. Sich selbst bezeichnet er dann einfach als „den Sohn“. Wenn dann – wie im Eingangszitat – vom Ineinander-Sein die Rede ist, dann soll das die enge Beziehung von Gott und Jesus, von Vater und Sohn beschreiben. Jesus ist für das Johannesevangelium nicht einfach ein Mensch wie jeder andere. Er ist ganz bei Gott; nach Joh 1,18 sogar „im Schoß des Vaters“. Dass er nun als der Mensch Jesus von Nazareth in dieser Welt lebt, ändert nichts an seiner engsten Verbindung zu Gott. Jesus ist „im Vater“.
Seine Aufgabe ist aber: Gott in der Welt bekannt machen.
In Joh 1,18 heißt es sogar: Gott auslegen, also interpretieren, für Menschen erkennbar machen. Eigentlich ist Gott unsichtbar, für uns nicht erkennbar. Das räumt das Johannesevangelium ohne Weiteres ein (Joh 1,18; auch Joh 6,46). Aber Jesus soll gerade das Unmögliche möglich machen: Als „Wort Gottes“ steht er für die Kommunikation zwischen Gott und Welt. Er verkörpert die Zuwendung, ja die Liebe Gottes zur Welt. In diesem Sinn ist der Vater „in ihm“.
Die Beziehungsbegriffe „Vater“ und „Sohn“ sind Metaphern, Bilder, mit denen unsere Sprache versucht, sich an die Beziehung von Gott und Jesus anzunähern. Gerade im Johannesevangelium wird Jesus ja einerseits einfach als „Gott“ bezeichnet (Joh 1,1.18; vor allem Joh 20,28), andererseits wird er aber von Gott unterschieden (ebenfalls in Joh 1,1.18! – und öfter). Die Begriffe „Vater“ und „Sohn“ eignen sich gut, um dieses komplexe Verhältnis (eng zusammengehörig, aber doch nicht völlig identisch) zum Ausdruck zu bringen. Jesus als „Sohn Gottes“ zu bezeichnen, ist dann also Ausdruck einer „hohen Christologie“, die vor allem die göttliche Seite an Jesus stark betont, oder?
So eindeutig ist es auch wieder nicht. Im Alten Testament ist Gott der Vater des Volkes Israel, und diese Metapher wird durch alle Höhen und Tiefen der Beziehung zwischen Gott und seinem Volk durchbuchstabiert (Dtn 32,6; Jes 63,16; 64,7; Jer 31,9; auch Hos 11,1–4). Auch im heutigen jüdischen Gottesdienst wird Gott als „unser Vater, unser König“ angesprochen (das christliche Vaterunser unterscheidet sich davon nicht wirklich). In diesem Sinn muss man es wohl zunächst verstehen, wenn Jesus selbst Gott als „Vater“ (etwa Lk 11,2) beziehungsweise „Abba“ (Mk 14,36) ansprach (siehe Kasten).
Daneben dient aber die Vater-Sohn-Beziehung als Bild für die exklusive Beziehung eines prominenten Einzelnen zu Gott (2 Sam 7,14; Ps 2,7; 110,3). Zunächst waren dies wohl Aussagen über den König von Juda/Jerusalem. Als dieses Königtum seit dem Babylonischen Exil (nach 587 vor Christus) erledigt war, bezog man sie auf eine Hoffnungsgestalt: den Messias. Für die ersten Christ/-innen füllte Jesus diese Rolle perfekt aus; die oben genannte Stellen aus dem Alten Testament bezog man gern auf ihn (vgl. zum Beispiel Mk 12,35–37; Apg 2,32–36; 13,33; Hebr 1,5).
Auf derselben Linie liegt das Johannesevangelium (siehe oben). Aber auch hier hat die Metapher „Vater“ mehrere Dimensionen und schöpft aus dem ganzen Reichtum der biblischen Tradition. In der Ostererzählung des Johannesevangeliums (Joh 20) gibt der auferstandene Jesus der Maria Magdalena folgende Botschaft an seine Jünger mit: „Ich gehe hinauf zu meinem Vater und eurem Vater, zu meinem Gott und eurem Gott.“ (Joh 20,17).
Denken wir weiter: Jesus, der Sohn, und die vielen Kinder (Söhne und Töchter) Gottes sind durch den einen Vater verbunden. Christsein heißt, an Jesu Beziehung zu Gott teilzuhaben. In kanonischer Perspektive gewinnen wir dann einen Zugang zum Vaterunser (siehe Mt 6,9–13). Die Anrede an Gott als „unseren Vater“ verbindet nicht nur Christ/-innen untereinander (das allein ist schon beachtlich!), sondern auch mit Jesus, der in einem ganz eigenen Sinn Gott als „Vater“ (oder: „Abba“) anspricht. Die Metapher „Vater“ ist so vielschichtig, dass sie erlaubt, nicht nur „nach“ oder „wie“ Jesus zu beten, sondern mit Jesus.
"Abba"
Jesus redete Gott im Gebet als „Abba“ an (Mk 14,36). Dieses aramäische Wort im Mund Jesu hat sich in der griechischen Jesusüberlieferung als Fremdwort erhalten. Dabei heißt „Abba“ einfach „der Vater“ oder „o Vater“ (als Anrede). Es gibt keinen Grund, dieses Wort an sich als kindliches „Lallwort“ oder als Ausdruck besonderer Zärtlichkeit und Zuneigung („Papi“ oder Ähnliches) zu interpretieren. Interessant ist aber, dass kein Geringerer als Paulus die aramäische Anrede „Abba“ zweimal nennt (Röm 8,15; Gal 4,6). An beiden Stellen geht es um den Geist Gottes, der Christ/-innen befähigt, Gott als „Abba“ anzusprechen. Dass Paulus hier ein aramäisches Fremdwort wiedergibt (und dann auch übersetzt), könnte darauf hinweisen, dass er wusste, wie Jesus gebetet hatte. Das bedeutet: Für Paulus ist christliches Beten, das vom Geist Gottes inspiriert ist, ein Beten mit Jesus und Teilhabe an der Gottesbeziehung Jesu.