Melanie Wolfers - Die Kunst, mutig zu sein (6/7)
Sich zu entscheiden braucht Mut. Denn egal, ob man ein heikles Thema anspricht, sich früh pensionieren lässt oder sich für jemanden einsetzt – in all diesen Situationen lässt man sich auf ein Geschehen mit offenem Ausgang ein. Man geht das Wagnis ein, dass man möglicherweise falsch liegt oder enttäuscht wird. Denn ob das Gespräch gelingt oder ob unser Engagement zum Erfolg führt, haben wir nicht 100 prozentig im Griff.
Jede bedeutsame Entscheidung bleibt ein Wagnis! Kein Wunder, dass viele es vorziehen, sich gar nicht erst zu entscheiden. Lieber belassen sie alles beim Alten, als dass sie Neues wagen – selbst dann, wenn sie sich mies fühlen. Doch der schlechteste Weg, den man wählen kann, ist der, keinen zu wählen! Unglück entsteht oft weniger aus Fehlentscheidungen als aus fehlenden Entscheidungen. Denn wenn wir nicht entscheiden, dann entscheiden andere oder anderes über uns: der Lauf der Zeit, Umstände oder Menschen mit ihren gutgemeinten Ratschlägen.
Ehrlich gesagt: Es überrascht mich, wie viele Menschen ihr Leben führen,
als hätten sie danach noch eins und noch eins und noch eins … Aber
Leben lässt sich nicht aufschieben! Entweder ich ergreife es hier und
jetzt – oder lasse es an mir vorübergleiten. Entweder ich verschlafe es –
oder bin wach dabei. Aufwecken kann eine tiefe, unter die Haut gehende
Einsicht in die Begrenztheit sein: in die Endlichkeit der eigenen Kraft
und Lebenszeit. In die Beschränktheit der Mitmenschen, der natürlichen
Ressourcen und der Machbarkeit von Dingen.
Natürlich, der Tod ist
ein Totschlagargument. Aber er ist trotzdem ein Argument. Denn er wird
kommen, und dann wäre es gut, sagen zu können: Ich habe mein Leben
gelebt! Und es nicht nur hingenommen. Um das Leben hier und jetzt beim
Schopf zu ergreifen, hilft es, ab und zu vom vorgestellten eigenen Ende
her auf das Jetzt zu schauen. Wer wirklich spürt: „Ich habe nur dieses
Leben“, entdeckt dessen Kostbarkeit oft mit einer neuen Klarheit. Die
Einmaligkeit der Beziehungen und die Bedeutsamkeit des eigenen Tuns
treten heller zutage. Und dies kann dazu animieren, intensiver zu leben
und beherzter zu entscheiden.
Nicht nur die Angst vor
Ungewissheit oder einer möglichen Fehleinschätzung führt in
Entscheidungsblockaden. Ebenso schallen innere Alarmglocken angesichts
des Preises, den man für eine Entscheidung zahlen müsste. Denn in jeder
Entscheidung für etwas scheiden wir andere Möglichkeiten aus. Sich
entscheiden bedeutet, zu diesem Ja und zu jenem Nein zu sagen. Wer ein
selbstbestimmtes Leben führen will, braucht also den Mut, sich selbst
zu beschränken. Und das wird möglich im Blick auf das Größere, zu dem er
Ja sagt.