
Buchprofile - Rezension
Verlorene Tochter von Kirche und Staat: Ingeborg Gleichaufs umsichtige Biografie über Gudrun Ensslin und das Umfeld des deutschen Terrorismus in den 1970er Jahren.
Eine "Waffen- und Klamottenfetischistin" in einer Gespensterarmee sei sie gewesen, sagt Enzensberger in seinem Selbstinterview "Tumult" (2014) über Gudrun Ensslin. Welche Lebensgeschichte hatte diese Frau, die 1940 in einem protestantischen Pfarrhaus geboren wurde und sich am 18. Oktober 1977 in ihrer Gefängniszelle erhängte? Ingeborg Gleichauf erzählt Ensslins Biografie aus der nötigen Distanz, ohne falsche Nähe und voreiliges Verstehenwollen. Ensslin war eine hochbegabte Studentin, Stipendiatin der Studienstiftung, zugleich aber, sobald sie sich auf die Seite der gewaltbereiten Stadtguerillas und späteren Terroristen schlug, manipulierbar und unsicher, eine "verlorene" Tochter von Kirche und Staat. Gleichauf gelingt es, Ensslins gebrochene Person in vielen Lebenssituationen nachzuzeichnen, etwa in den Briefen, die sie einerseits an den Vater ihres Kindes, Bernward Vesper, schrieb (durchdacht und klar) und andererseits (chaotisch und realitätsblind) an Andreas Baader, das selbst ernannte Haupt des "Baader-Meinhof-Komplexes" (Stefan Aust). Mitleid ist für Gleichauf keine angemessene Haltung der Biografie, wohl aber Umsicht und Vorsicht bei der Bewertung der Quellen. So kommt eine sehr gut lesbare Biografie über eine Schlüsselfigur der westdeutschen Zeitgeschichte heraus, eine politische Lektion über Terrorszene, Justiz, BKA und Medien. - Sehr empfehlenswert.
Michael Braun
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Artikelbeschreibung
Gudrun Ensslin - was bewegte sie, was prägte sie und wie war sie wirklich?
Gudrun Ensslin gehörte zur Führungsspitze der RAF und war zugleich weit mehr: eine literarisch hochgebildete Person. Umfassend beschreibt die Autorin Ensslins geistige wie politische Entwicklung und zeigt, wie aus dem intellektuellen Bürgertum des Nachkriegsdeutschlands gewaltbereite Radikalisierung möglich war.
Gudrun Ensslin gehörte zur Führungsspitze der RAF und war zugleich weit mehr: eine literarisch hochgebildete Person. Umfassend beschreibt die Autorin Ensslins geistige wie politische Entwicklung und zeigt, wie aus dem intellektuellen Bürgertum des Nachkriegsdeutschlands gewaltbereite Radikalisierung möglich war.
Im Mittelpunkt dieser Biographie steht eine extreme Person und ihr extremer Lebensweg. Ingeborg Gleichauf räumt mit den gängigen Klischees und Vorurteilen auf, die Gudrun Ensslin als Produkt eines provinziellen Pastorenhaushalts sehen. Sichtbar wird vielmehr eine vielseitig begabte Persönlichkeit der Zeitgeschichte. Souverän schildert die Autorin die Zeitumstände, die die Entwicklung einer Gewaltbereitschaft begünstigt haben. Ensslins Lebensweg prägten nicht sie allein. Ihre intensive Schreibtätigkeit und die Literaturbegeisterung waren zentral für ihre Weltanschauung. Die Autorin zeichnet alle Lebensstationen nach und widmet sich ausführlich den bisher vernachlässigten K
indheits- und Jugendjahren Ensslins. Eindringlich schildert sie Ensslins Beziehungen. In einer besonderen Verbindung von Erzählung und Analyse gelingt es ihr, uns eine ebenso schwierige wie vielschichtige Person nahezubringen, die unsere Gesellschaft radikalverändern wollte.
Personeninformation
Ingeborg Gleichauf, geboren 1953, studierte Philosophie und Germanistik und promovierte über Ingeborg Bachmann. Unter ihren zahlreichen Veröffentlichungen finden sich erfolgreiche Biographien über Max Frisch, Hannah Arendt und Simone de Beauvoir. Sie lebt in Freiburg.
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