Vom Anfang bis zur Apokalypse (3)
Bürger, die fremde Männer vergewaltigen wollen, Inzest, kinderlose Ehen, Leihmutterschaft und ein Coitus interruptus aus Feindseligkeit. Dazu kommen gerade noch verhinderte Menschenopfer oder ein versuchter Brudermord, nachdem es Kain ein paar Kapitel schon vorher tatsächlich erwischt hat. Das Buch Genesis kommt mir wie die große und atemlose Drama Queen unter den biblischen Schriften vor.
Ich bin nicht völlig unbeschlagen in meine Bibellektüre eingestiegen. Aber dass sich die einzelnen Geschichten um Lot, um Hagar, um Tamar und Onan oder um Isaak und Josef auf gerade einmal gut 40 Seiten zusammendrängen – es war mir nicht mehr bewusst. Auch nicht, wie knapp und deutlich sie sind.
Mich verblüfft, wie entschlossen und tabulos Frauen darum kämpfen,
Mutter zu werden. Es geht handfest um Fortpflanzung. In der Geschichte
von Lot auch um die Würde und die Achtung vor dem Körper, wenn er zwei
Engel in männlicher Gestalt vor der Vergewaltigung durch andere Männer
schützt. Wenig später lassen sich seine Töchter zielbewusst von Lot
schwängern, weil nach dem Ende Sodoms keine anderen Männer mehr da sind.
Aus diesem Doppelinzest gehen mit Moab und Ben Ammi zwar zwei
Leibfeinde Israels hervor, aber das Verständnis für das Handeln der
beiden jungen Frauen ist da.
„Das Leben ist am größten:/Es steht nicht mehr bereit“, heißt es in
einem Gedicht von Bertolt Brecht. Wie der wortgewaltige Atheist aus
Augsburg schielen die Menschen in der Genesis kaum ins Jenseits, sondern
wollen auf der Welt bleiben, wenigstens in ihren Nachkommen. Das ist
das Nachleben, auf das sie sich verlassen. Darum sind Kinder so kostbar.
Selbst wenn es erotisch einmal knistert wie bei Jakob und Rahel und
eine bisschen sentimentale Liebesgeschichte sich andeutet: wenn Frau und
Mann zusammenliegen, dann sollte etwas Drittes dabei herauskommen. Für
zweckfreie Lust hat das Buch Genesis keinen Sinn, für bürgerliche und
auch kirchliche Moral erst recht nicht. Dennoch trägt die Kirche etwas
vom Sinn dieses biblischen Erbes weiter: Dass Menschen wertvoll sind,
für ihre Eltern und noch mehr für sich selbst und sie deshalb schon im
Mutterschoß zu schützen sind. Dass Sexualität eine große Aufgabe ist,
kein unverbindlicher Spaß und keine Triebabfuhr.
Hören wir
als Zeitgenossen und Genussmenschen des 21. Jahrhunderts nicht gerne,
weil immer ein Unterton mitschwingt: Geschlechtsverkehr ist nicht zum
Vergnügen da. Gleichzeitig wissen wir, wie eine engherzige verdruckste
Sexualmoral mit ihren minutiösen Verboten Frauen, Männer und Kinder
kaputtmachen kann. Die Kirchen waren immer sehr gut darin
vorzuschreiben, was geht, wenn zwei Leiber zusammenkommen und noch mehr
was nicht geht. Und manchmal wünsche ich mir, die Theologen hätten sich
mehr Gedanken um das fünfte anstatt um das sechste Gebot gemacht. Das
Buch Genesis ist dagegen alles andere als verdruckst und macht nicht
viele Vorschriften: Es sagt nur „Das Leben ist am größten“ – behalt es
nicht für Dich allein, gib es unbedingt weiter, wenn du es irgendwie
kannst und hüte es.
(Alois Bierl, Chefreporter Sankt Michaelsbund)
Vom Anfang bis zur Apokalypse - Was verbirgt sich eigentlich dahinter?
Unser Kollege, Chefreporter Alois Bierl, wird in einem Jahr die
komplette Bibel lesen. Jede Woche lässt er uns an diesem spannenden
Experiment und seinen Erfahrungen teilhaben.