Vom Anfang bis zur Apokalypse (1)
Von der Erschaffung der Welt bis zu ihrem Ende in 365 Tagen in einem Buch. Oder in 73 Büchern in einem Band. So viele zählt die katholische Kirche zu ihrem Bibelkanon. In einem Jahr will ich die Heilige Schrift komplett lesen. Darum heißt das Ganze auch: vom Anfang bis zur Apokalypse.
Vor 33 Jahren habe ich das schon einmal gemacht. Zugegeben mit vielen überschlagenen Seiten, wie man Fachliteratur studiert, weil ich meine Prüfungen bestehen wollte. Nun will ich mir dieses merkwürdige Buch noch einmal geben. Dieses Mal wirklich Zeile für Zeile und festhalten, wie es mir dabei so geht, welche Stellen mir auffallen und welche Tricks ich finde, um durchzuhalten. Schon lange wollte ich diese Lektüre in meinem Leben noch einmal wiederholen. Mittlerweile weiß ich auch, wie schnell drei Jahrzehnte vergehen und ich kann nicht davon ausgehen, noch einmal so viel Zeit zu haben, so hoch liegt das Durchschnittsalter bei Männern in Deutschland nicht.
Vor ein paar Monaten ist mir in einem öffentlichen Bücherschrank, in
denen Leser ihre alten Bücher verschenken, eine „Neue Jerusalemer Bibel“
ins Auge gefallen und ich habe sie etwas gerührt mitgenommen. Durch die
gleiche Ausgabe habe ich mich damals durchgeschlagen und war froh, als
die letzte Seite umgeblättert war und die bunten Karten auf der
Innenseite des Buchdeckels auftauchten. Die in der Neuen Jerusalemer
Bibel enthaltenen wissenschaftlichen und dennoch gut verständlichen
Kommentare habe ich besonders gemocht. Wegegeben habe ich mein Exemplar
trotzdem, wozu sollte ich es noch einmal brauchen, die Prüfungen waren
geschrieben. Ich erinnere mich noch die körperliche Erleichterung als
ich den kiloschweren Band nicht mehr in meiner Hand spürte und an die
innere, die damit einher ging.
Exegetische Fragen plagen mich heute nicht mehr, viele andere aber
sehr wohl. Wenn ich sonntags die Lesungen und das Evangelium höre,
kommen mir diese Lebensfragen in der Bibel gut aufgehoben vor, obwohl
oder weil sie so ein widerborstiges Buch ist, widersprüchlich und
abgründig, selbst in den zur Verkündigung ausgewählten Stellen, die
vieles weglassen. Jeder Vers fordert zu unzähligen Deutungen heraus. So
oft sie auch bestens begründet sind, schlau und oft brillant, mich haben
sie oft davon abgelenkt, mich vom Text wie von einem Strom treffen,
treiben und auch tragen zu lassen.
Ein Gedanke des
Philosophen und Märchenforschers Franz Vonessen lautet: Nicht du deutest
das Märchen, das Märchen deutet dich und es lässt sich auch auf die
Bibel übertragen. Du liest dich darin selbst, lernst dich kennen, musst
darauf antworten und kannst das niemand anders überlassen. Nicht einmal
den scharfsinnigsten Theologen, selbst wenn sie als Schwimmhilfe im
Strom der heiligen Wörter unentbehrlich sind. Wenn´s um wichtige
Angelegenheiten geht, sieht man nicht nur mit dem Herzen gut, man liest
auch nur mit dem Herzen gut, auch wenn der Kopf dazu unentbehrlich ist.
Und jetzt geht´s los: Genesis 1. Eine symbolische Woche braucht Gott, um
uns Menschen auf die Erde zu stellen. Und in einer Woche muss mir dazu
etwas einfallen.
(Alois Bierl, Chefreporter Sankt Michaelsbund)