Bibel im 21. Jahrhundert (5)
„Wie lese ich die Bibel mit den Augen des 21. Jahrhunderts?“ – Dieser Frage geht die MK nach. Von der Arche Noah bis zum Jüngsten Gericht greift sie heiße Eisen der Heiligen Schrift auf und erläutert sie interessierten Gläubigen von heute.
Diese Woche geht es um die Frage: Was sagte der Apostel Paulus über die Arbeit?
Stephan Witetschek ist Privatdozent für Neutestamentliche Exegese, Heisenberg-Stipendiat der Deutschen Forschungsgemeinschaft und Leiter des Projekts „Memoria Apostolorum“ an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München.
Wir hören aber, dass einige von euch ein unordentliches Leben führen und alles Mögliche treiben, nur nicht arbeiten. Diesen gebieten wir und ermahnen sie in Jesus Christus, dem Herrn, in Ruhe ihrer Arbeit nachzugehen und ihr eigenes Brot zu essen.“ (2 Thess 3,11–12). Mit dieser Ansage konkretisiert „Paulus“ (siehe Kasten) das sprichwörtlich gewordene „Wer nicht arbeiten will, soll auch nicht essen“ (2 Thess 3,10).
Es befremdet, im Neuen Testament so ein knallhartes Arbeitsethos zu finden. Von Solidarität, sozialem Ausgleich oder Rücksicht auf die Schwachen ist hier augenscheinlich nichts zu merken. Grund genug, die Kontexte dieser Stelle etwas genauer zu betrachten.
Unmittelbar vor der zitierten Stelle weist „Paulus“ auf sein eigenes Beispiel hin: Er selbst hat üblicherweise seinen Lebensunterhalt mit eigener Arbeit erwirtschaftet – und sich nicht etwa von reichen Gönnern/-innen finanzieren lassen. Dieses Bild, das hier von Paulus gezeichnet wird, dürfte historisch zutreffen: Auch im 1. Thessalonicherbrief hat er betont, dass er und seine Mitarbeiter für ihren Lebensunterhalt gearbeitet haben, um der Gemeinde in Thessalonike nicht zur Last zu fallen (1 Thess 2,9) und unabhängig zu bleiben. Zum Schluss ermahnt er seine Christen/-innen, diesem Beispiel zu folgen.
Im 2. Thessalonicherbrief wird dies noch zugespitzt und verschärft. Die eigene Erwerbsarbeit scheint überhaupt ein Markenzeichen des Paulus gewesen zu sein, das ihn von anderen Aposteln unterschied. Seine beiden Korintherbriefe sind dafür aufschlussreich (1 Kor 9,1–18; 2 Kor 11,7–10; 12,13–18); hier geht es vor allem darum, dass der Apostel Paulus etwas nicht in Anspruch nahm, was ihm nach allgemeiner Auffassung zustand. Das scheint in Korinth für solches Befremden gesorgt zu haben, dass manche sich fragten, ob Paulus überhaupt ein richtiger Apostel sei. Auch für die Apostelgeschichte ist die Erwerbsarbeit ein fester Bestandteil des Bildes, das sie von Paulus vermittelt (Apg 18,3; 20,33–35).
Damit entsprach Paulus nicht ganz den Idealen der Antike:
Erwerbsarbeit galt überwiegend nicht als erstrebenswert (eine
prinzipiell positive Bewertung von Arbeit finden wir erst in der Regel
des heiligen Benedikt, also circa 500 Jahre nach Paulus). Wer Rang und
Vermögen hatte, ließ seine Sklaven für sich arbeiten. Intellektuelle
lebten normalerweise von ihrem Vermögen. Gewiss gab es in griechischen
Städten anlässlich mancher Feste Geldverteilungen an die Bevölkerung,
aber diese sollten keinen sozialen Ausgleich schaffen oder Teilhabe
ermöglichen, sondern sie bestärkten symbolisch die bestehende soziale
(Hack-)Ordnung: Prominente Angehörige der Oberschicht, die im Stadtrat
saßen und öffentliche Ämter innehatten, bekamen viel, einfache Bürger
bekamen weniger. Wer kein Bürgerrecht hatte, bekam normalerweise gar
nichts. Auch das sprichwörtliche Angebot „Brot und Spiele“ richtete sich
in Rom an Bürger, die dem Kaiser zujubeln und im Übrigen ruhig bleiben
sollten. Von einer Grundsicherung für alle war die Antike weit
entfernt.
Der Slogan „Wer nicht arbeiten will, soll auch nicht essen“
passt jedenfalls nicht zum Selbstverständnis der Oberschicht in der
griechischen und römischen Antike. Er passt eher in ein Milieu, in dem
die Sorge für den eigenen Lebensunterhalt jeden Tag akut war: kleine
Handwerker oder Gelegenheitsarbeiter. Für manche Angehörigen dieser
Gesellschaftsschicht mag die christliche Vorstellung von einer
entscheidenden Zeitenwende attraktiv gewesen sein.
Die Kritik
im 1. und 2. Thessalonicherbrief (1 Thess 4,11–12; 2 Thess 3,11–12)
lässt vermuten, dass manche engagierte Christen/-innen (als „religiöse
Virtuosen“?) aus ihren normalen wirtschaftlichen Verflechtungen
ausstiegen und Zuwendungen von anderen Christen/-innen erwarteten (oder:
die Gutmütig-keit anderer Christen/-innen ausnutzten). Diese radikale
Form der Jesus-Nachfolge setzte voraus, dass es ein Netzwerk von
Unterstützern/-innen gab. Oft ging sie mit der Vorstellung einher, dass
das Ende der Welt nahe bevorstehe (vgl. etwa Mt 10,5–23; Lk 9,1–6;
10,1–16). Diese Erwartung erfüllte sich nicht, und so mussten spätestens
die Christen/-innen der zweiten Generation sich anders orientieren (so
etwa 2 Thess 2,1–11).
Im 2. Thessalonicherbrief – genauso wie in den Pastoralbriefen (1–2 Tim; Tit) – begegnet uns das Anliegen,
unter
christlichem Vorzeichen ein möglichst „normales“ Leben auf Dauer
innerhalb dieser Welt und ihrer Strukturen zu führen. In der Forschung
nannte man das gern „bürgerliches Christentum“. Darin scheint mir aber
der positive Wert der zitierten Textstelle zu liegen: Der christliche
Glaube wird nicht in einem Paralleluniversum gelebt, sondern in dieser
Welt, wie sie ist.
Auch der „Paulus“ des 2.
Thessalonicherbriefes hält eine gläubige Perspektive über diese Welt
hinaus aufrecht (2 Thess 1,3–12; 3,13–14). Aber die dazugehörige
Lebensform muss innerhalb dieser Welt und ihrer Strukturen (die sicher
nicht ideal sind) zweckmäßig und nachhaltig sein. Die „Ordnung“, die
„Paulus“ dafür einfordert, erlaubt es einer christlichen Gemeinschaft,
über den Tag hinaus in dieser Welt zu bestehen.
2. Thessalonicherbrief
Im ersten Thessalonicherbrief (1 Thess) wendet sich Paulus an seine Gemeinde in Thessalonike (heute: Thessaloniki), die er bald nach der Gründung wieder verlassen hat, und gibt Anweisungen zu aktuellen Problemen. Dieser Brief gilt als der älteste erhaltene Paulusbrief (circa 51 nach Christus in Korinth geschrieben); der Apostel scheint hier noch damit zu rechnen, dass er selbst den „Tag des Herrn“ erleben könnte (1 Thess 4,15–17). In 2 Thess wird genau diese Vorstellung abgelehnt (2 Thess 2,1–11). Auch deshalb neigt man in der modernen Forschung vielfach zu der Annahme, dass der 2. Thessalonicherbrief erst gegen Ende des 1. Jahrhunderts von jemand anderem unter dem Namen des Paulus geschrieben wurde – vielleicht sogar in Thessalonike selbst.sw