Melanie Wolfers - Nimm der Ohnmacht ihre Macht
Jede und jeder erleidet im Laufe des Lebens schmerzhafte Verluste. Doch: Es gibt Wege, die aus dem Schmerz und der Ohnmacht herausführen. Und dazu gehört die heilsame Kraft der Trauer.
„Ja, es ist so: Ich habe diesen Menschen für immer verloren.“ „Ja, meine Frau leidet an Demenz und Monat für Monat verlieren wir einander mehr.“ Solche Sätze für sich selbst zu formulieren, tut unsagbar weh! Für ein solches Ja zum Unveränderlichen reicht es nicht, sich mit positivem Denken über einen erlittenen Verlust hinwegzutrösten oder einfach daran zu glauben, dass schon alles sein Gutes habe. Es gibt keinen Schleichweg an der Trauer vorbei!
Doch wenn Sie trauern und klagen können, sind Sie auf dem Weg der
Heilung. Denn wenn Sie Ihre Trauer über das Verlorene zulassen,
akzeptieren Sie die Veränderung, die sich nicht mehr rückgängig machen
lässt. Sie nehmen wirklich Abschied von dem, was endgültig vergangen
ist. Unwiderruflich loszulassen tut weh! Aber mit der Zeit kann sich
etwas verwandeln. Kann sich etwas in Ihnen verwandeln. In der Trauer
liegt eine kreative Kraft, durch die sich irgendwann eine neue Ordnung
auftut.
Zum einen vermag die Trauer über das Verlorene oft
auch den Blick für das Bleibende zu öffnen. Ich entdecke, dass die guten
gemeinsamen Stunden mit der anderen Person nicht einfach
durchgestrichen sind. Oder dass das Leiden an der ungewollten
Kinderlosigkeit uns als Paar mehr zusammengeführt hat. Vielleicht blitzt
dann sogar ein Gefühl von Dankbarkeit auf … Dankbarkeit streicht die
Trauer nicht durch, doch sie bewahrt das Herz vor der Verzweiflung. Und
dazu kann ich mich entschließen: Dass ich anerkenne, was Dankbarkeit in
mir weckt.
Zum anderen kann die Trauer uns Möglichkeiten entdecken lassen, die wir bislang übersehen haben, weil wir auf unseren bisherigen Lebensentwurf fixiert waren. Sie kann unsere Fähigkeit zur Wandlung wachrufen und den inneren Raum schaffen, einen neuen Anfang zu setzen. Wo sich eine Tür schließt, öffnet sich eine neue.
„Was habe ich unwiederbringlich verloren und worüber trauere ich?“ – Mit dieser Frage im Sinn können Sie spazieren gehen und Ausschau halten nach einem Gegenstand, der etwas von diesem Kostbaren symbolisiert, das Sie verloren haben. Dann wählen Sie einen besonderen Ort aus, an dem Sie den Gegenstand niederlegen und auf diese Weise den Verlust und den Kummer, den Sie spüren, symbolisch ausdrücken. Sie können diesen Ort immer wieder aufsuchen, um mit neuen Zeichen den Verlust und ihre Trauer darzustellen. So wächst mit der Zeit ein kleiner Trauerhügel.
„Das Leben ist das, was einem zustößt, während man gerade eifrig
andere Pläne schmiedet.“ Dieser Satz von John Lennon kam mir im
vergangenen Jahr oft in den Sinn. Ich hatte geplant, nach einem
erfüllten Sommer mein Buch fertigzustellen, mit Freunden durch die
herbstlichen Wälder zu wandern, mir Zeiten der Stille zu gönnen und mit
meiner Gemeinschaft schöne Stunden zu verbringen. Doch es kam ganz
anders: Ein mir nahestehender Mensch hatte einen Unfall und mir war
klar: „Hier bin ich gefordert!“ Kaum kam ich bei der besagten Person an,
um sie zu unterstützen, packte mich eine hartnäckige Erkrankung, die
mich über mehrere Monate im Griff hielt.
Sich für andere Aspekte des Lebens öffnen
Auch wenn die altertümliche Formulierung „sich in eine Situation
ergeben“ nach lebensfeindlicher Selbstaufgabe klingt: In ihr liegt etwas
Humanes! Denn sich zu ergeben ermöglicht, sich aus einem krampfhaften
Dauerkampf zu befreien und wieder offen zu werden für andere Aspekte des
Lebens. Gerade das Eingeständnis der Ohnmacht kann zum unerwarteten
Wendepunkt werden: Im Tiefpunkt der Krise lassen wir alle konkrete
Hoffnung auf eine Wiederherstellung des alten Lebens fahren und haben
noch keinen blassen Schimmer vom neuen. Und genau durch dieses Lassen
kann der Tiefpunkt – wie beim Buchstaben U – zum Wendepunkt werden und
sich unverhofft die Zuversicht einstellen, dass selbst in der
allergrößten Not noch nicht das letzte Wort gesprochen ist. Damit
verbunden: Wer das Schwere anerkennt und sagt: „Das gehört dazu!“,
gewinnt neue Kraft: Er oder sie geht den ersten entscheidenden Schritt,
der aus der passiven Opferrolle herausführt, und beginnt, mit dem
Unvermeidlichen zu kooperieren.
All dies zeigt: Sich in eine bestimmte Situation zu ergeben, ist kein Zeichen von Kleinmut, sondern ein Akt der Selbstbehauptung mitten in einer Krise. Konkret kann dies bedeuten: Ich erkenne die Einsamkeit in meiner Liebesbeziehung an, ohne dies der anderen Person oder mir selbst zum Vorwurf zu machen, und ich bleibe ihr wohlwollend zugewandt. Oder: Ich akzeptiere die Macht eines Schicksalsschlags und füge mich in das Unvermeidliche, ohne im Selbstmitleid zu versinken. Ergebung geht also mit der Fähigkeit einher, nicht in geträumte Wunschwelten davonzuschweben, sondern im Hier und Jetzt Fuß zu fassen. In der Folge gewinnen wir eine neue Freiheit, die Aufmerksamkeit auf das zu lenken, was wir tatsächlich vermögen. Wir werden wieder offen für andere Themen und Menschen, denen wir begegnen, und manchmal sogar dankbar für das Gute, das es immer noch gibt. Oder ganz schlicht gesagt: Hören wir auf, sinnlose Kämpfe zu kämpfen, kommen wir besser durch den Tag und schlafen nachts ruhiger.
Es ist zwar unschön, aber wahr: Es gehört zu den
„Geschäftsbedingungen“ unseres Lebens, dass wir uns immer wieder in
Situationen vorfinden, in denen wir uns überfordert, ohnmächtig oder
ausgeliefert fühlen. Wie gelingt es, mit der Unkontrollierbarkeit des
Lebens und den damit verbundenen Gefühlen von Hilflosigkeit und Ohnmacht
gut umzugehen?
Eine gute Gefühlskultur einüben
Hier wird bereits deutlich: Eine gute Gefühlskultur lässt sich
beschreiben und einüben. Folgende drei Schritte kennzeichnen einen
reifen Umgang mit Gefühlen:
Der erste Schritt besteht darin,
die eigenen Gefühle achtsam wahrzunehmen und sie zu benennen. Das hört
sich leichter an, als es bisweilen ist. Manchmal braucht es Zeit und
geduldige Aufmerksamkeit, bis man (wieder) gelernt hat, sich bestimmter
Gefühle bewusst zu werden – etwa auch der eigenen Ratlosigkeit und
Ohnmacht.
Zweitens gilt es darauf zu achten, sich von diesen
Gefühlen weder überfluten noch wegschwemmen zu lassen. Wenn wir bewusst
die Rolle einer Beobachterin oder eines Zuschauers einnehmen, dann
identifizieren wir uns nicht mit unseren Gefühlen – und dies eröffnet
einen inneren Freiraum: Dann muss man nicht mehr instinktiv auf den Reiz
reagieren.
Im Interview hat Melanie Wolfers vergangene Woche verraten, warum sie ein Buch über die „Ohnmacht“ geschrieben hat. Diese Woche erläutert sie, wie Ohnmachtsgefühle entstehen – und wie sie sich entkräften lassen.
Gefühle bringen Farbe ins Leben und haben uns Wichtiges zu sagen. Aber sie können unsere Sicht auf die Wirklichkeit auch verzerren: Man kann etwa blind vor Wut oder blind vor Liebe sein. Auch das Ohnmachtsgefühl kann einem etwas vormachen. Vielleicht haben Sie als Kind einmal erlebt, wie eine Fliege auf einem Lampenschirm einen gigantischen Schatten an die Wand geworfen und Sie geängstigt hat. Doch dann haben Sie die Ursache entdeckt und erleichtert aufgeatmet. Ähnlich wirken Erlebnisse, die Angst und Ohnmacht in uns wecken, oft wie Figuren aus einem Schattenspiel. Auf der Projektionsfläche sehen sie groß und bedrohlich aus. Schauen wir aber hinter die Kulissen, so nehmen wir ihre wahre Größe beziehungsweise Kleinheit wahr.
Wer sich in einer Situation hilflos oder total unsicher und ängstlich fühlt, tut daher gut daran, seiner Wahrnehmung eine gewisse Skepsis entgegenzubringen und einen Abgleich mit der Realität durchzuführen. Zum einen können wir den Scheinwerfer in unser Inneres richten und uns fragen:
- Was empfinde ich gerade?
- Wie habe ich die Situation spontan im ersten Augenblick bewertet?
- Spielen in meine pessimistische Bewertung möglicherweise alte Wunden oder Reaktionsmuster mit hinein?
herum passiert, und nach Wegen der Bewältigung suchen, kommt es zu einer permanenten Neubewertung der Situation. Und diese beeinflusst allmählich wiederum unsere Gefühlswelt.
Situationen neu bewerten
Vielleicht
kennen auch Sie das: Manchmal führt die Neubewertung der Situation
dazu, dass sich das Ohnmachtsgefühl wie Nebel im wärmenden Morgenlicht
auflöst. Ich erkenne, dass ich mich getäuscht habe, und atme
erleichtert auf. In anderen Fällen bestätigt ein Fakten-Check den Ernst
der Lage, aber zugleich entdecke ich auch Handlungsspielräume – und dies
weckt Zuversicht und die Entschlossenheit zu handeln. Alles in allem:
Es lohnt sich, den Kopf einzuschalten. Manchmal wird dann aus einem
Elefanten eine Mücke.
Praxistipp:
Wenn Sie in Ihrem Leben auf Überzeugungen
stoßen sollten wie: „Ich lerne das nie …“, oder: „Ich schaffe es einfach
nicht …“, dann tun Sie gut daran, diesen nicht einfach blind zu
glauben, sondern sie anhand von vier Fragen kritisch durchzuspielen.
2. Alternativen: Vom Alter abgesehen, welche anderen Gründe könnte es geben, dass du das bisher noch nicht gelernt hast?
3. Was wäre, wenn … : Welcher Schaden könnte entstehen, wenn du es einfach mal versuchst?
4. Nutzen: Helfen dir diese pessimistischen Gedanken, bringen sie dich weiter?
MK: Angesichts des Kriegs in der Ukraine fühlen sich derzeit viele Menschen den großen politischen Entscheidern gleichsam ohnmächtig ausgeliefert. Ist das der Grund, warum Sie ein Buch über die „Ohnmacht“ geschrieben haben?
WOLFERS: Ich stehe im Kontakt mit vielen Menschen: Manche begleite ich seelsorgerlich, andere kommen bei Veranstaltungen oder aufgrund meines Podcasts auf mich zu. Und da ist mir aufgefallen, dass viele immer mehr unter den Gefühlen von Ohnmacht und Hilflosigkeit leiden. Da sind zum einen die gesellschaftlichen Krisen – Pandemie, Ukraine-Krieg und die Klimakatastrophe. Aber auch viele persönliche Grenzerfahrungen, wo Menschen sich ausgeliefert und überfordert erleben. Ohnmacht ist ein schreckliches Gefühl. Als ob einem der Boden unter den Füßen weggezogen wird. Und doch gehört es als eine Facette zu unserem Leben. Mit meinem Buch möchte ich zeigen, wie es gelingen kann, dass wir uns nicht auf Dauer von der Ohnmacht lähmen lassen. Und wie wir mitten in allen Herausforderungen und Krisen unsere inneren Kräfte freilegen.
MK: Wie gehe ich am besten mit Ohnmachtsgefühlen um?
WOLFERS: Ein wichtiger Punkt scheint mir zu sein, zuerst einmal dieses Gefühl wahrzunehmen, also im emotionalen Schlamassel anzukommen und mit jemand darüber zu sprechen. Und zugleich ist es wichtig, einen Realitäts-Check zu machen. Denn Gefühle können die Wirklichkeit auch verzerren. Mit der Folge, dass sich manche ohnmächtig fühlen, beispielsweise in einer Beziehung – obwohl sie gar nicht ohnmächtig
sind. Und mir schließlich die Frage stellen: Bin ich tatsächlich ohnmächtig? Oder gibt es Handlungsspielräume?
MK: Kann ich meine Ohnmachtsgefühle auch vollständig überwinden und so die Kraft entdecken, die in mir wohnt, wie es der Untertitel Ihres Buchs nahelegt?
WOLFERS: Es gibt eine gute und eine schlechte Nachricht. Die schlechte Nachricht: Ohnmachtserfahrungen gehören unausweichlich zu unserem Leben. Die gute Nachricht: Wir sind diesem Erleben nicht hilflos ausgeliefert, sondern können auf sieben Kräfte bauen, die uns in der Not tragen und positive Energie freisetzen. In meinem Buch entfalte ich diese sieben sinnstiftenden Haltungen, nämlich: Dankbarkeit, Freude, Vertrauen, Verzeihen, Zuversicht, tatkräftig Hoffen und Innehalten. Das Gute ist: Alle Menschen sind – wenn wohl auch in unterschiedlichem Maße – fähig, dass sie diese Haltungen entwickeln und vertiefen. Ja, jeder Mensch ist innerlich sehr viel reicher, als er ahnt!
(Interview: Karin Hammermaier, Redakteurin der Münchner Kirchenzeitung)
REINGELESEN
Dem Ohnmachtsgefühl ausweichen
Ohnmacht zu erleben, ist ein scheußliches Gefühl! Als ob einem der Boden unter den Füßen weggezogen wird. Man fühlt sich wehrlos, ausgeliefert und schwach. Oft geht dieses Empfinden damit einher, dass wir uns als unfähig oder unzulänglich, als minderwertig oder wertlos, als gelähmt oder gedemütigt erleben. Mit allen Fasern unseres Körpers wollen wir uns befreien von dem bedrohlichen Gefühl, dass uns die Hände gebunden sind und der eigene Wille außer Kraft gesetzt ist. All dies weckt verschiedenste Gefühle: Angst und Wut, Empörung und Trauer, Schuld und Verzweiflung, Lähmung und Depressivität. Auch für psychisch stabile Menschen bedeutet es extremen Stress, wenn ihnen plötzlich die Kontrolle über ihr Schicksal entgleitet und sie zum Spielball der Ereignisse werden. Denn im Erleiden von Ohnmacht werden wir Menschen in unserem sensibelsten Punkt getroffen und geschwächt: in unserem Selbstwertempfinden. Zu diesem gehört nämlich die Erfahrung, selbst etwas in die Hand nehmen und bewirken zu können. Hinzu kommt, dass wir in einer Gesellschaft leben, in der Autonomie und Selbstbestimmung hochgeschätzt werden und im Gegenzug Ohnmacht und Angst als verächtlich gelten. Sich schwach und hilflos zu fühlen ist einfach nicht angesagt! Das Gefühl der Ohnmacht gehört zu den am stärksten abgewehrten Gefühlen der modernen Gesellschaft. Es gibt einige typische Fluchtrouten, um dem Ohnmachtsgefühl auszuweichen. Vermutlich sind auch Ihnen einige davon vertraut ... Eine häufige Vermeidungsstrategie liegt darin, das eigene Unbehagen zu betäuben oder sich abzulenken. Manche stopfen sich mit Essen voll oder gehen einkaufen, flüchten in die Weiten des Internets oder stecken sich Kopfhörer mit Noise-Cancelling ins Ohr. Andere sind ständig „busy-busy“ nach dem Motto: „Egal was: Hauptsache, ich bin beschäftigt und komme nicht zur Besinnung!“ Als ob einen die Wahrheit des eigenen Lebens nicht einholen könnte, solange man für sie keine Zeit hat …
(entnommen aus Melanie Wolfers’ Buch „Nimm der Ohnmacht ihre Macht – Entdecke die Kraft, die in dir wohnt“, bene! Verlag, Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG)