Melanie Wolfers - Die Kunst, mutig zu sein (5/7)
Stellen Sie sich vor, Sie bekommen die Leitung eines weltweiten Unternehmens übertragen. Wie würde es Ihnen gehen? – Vielleicht würden Sie die Ernennung an die Spitze des Unternehmens als eine Ehre empfinden. Vermutlich aber auch als eine Überforderung.
So ist es jenem Mönch ergangen, der im Jahr 1145 zum Papst gewählt worden ist: Eugen III. In seinem Amt entwickelt er sich zu einem klassischen Workaholic. Es ist so viel zu tun, dass er eigentlich nie richtig zur Ruhe kommt. Sein früherer geistlicher Lehrer, Bernhard von Clairvaux, will ihm die Augen öffnen, wie lebensschädigend ein Alltag „eingekeilt in zahlreichen Beschäftigungen“ auf Dauer wirkt. In einem Brief rät er dem Papst, kürzer zutreten: „Es ist viel klüger, Du entziehst Dich von Zeit zu Zeit Deinen Beschäftigungen, als dass sie Dich ziehen und Dich nach und nach an einen Punkt führen, an dem Du nicht landen willst. An den Punkt, wo das Herz anfängt, hart zu werden.“ Für Bernhard ist das „harte Herz“ ein Ausdruck dafür, dass ein Mensch das Gespür für sich und die anderen verloren hat und für das, was jetzt dran ist. Und er fragt ganz direkt: „Wie kannst Du voll und echt Mensch sein, wenn Du Dich selbst verloren hast?“ Und er fährt fort: „Denk also daran: Gönne Dich Dir selbst.“
Die Aufforderung „Gönne Dich Dir selbst!“ steht quer zu
zeitgenössischen Versuchen, sich ständig selbst zu optimieren. Wer
eigene Grenzen wahrnimmt und wahrt, widersetzt sich dem heillosen
Imperativ: „Verbessere dich, denn die Möglichkeiten sind da!“ Ebenso
steht der Rat „Gönne dich dir selbst!“ in Spannung zu der Erwartung „Sei
vor allem für andere da!“ – eine Erwartung, die gerade in christlichen
Kreisen gerne gepflegt wird.
Sich selbst Zeit gönnen: Das klingt simpel – und erweist sich im
Konkreten oft als ungeheuer schwer. Und doch: Nur wer regelmäßig
innehält, findet Halt in sich selbst. Nur wer regelmäßig bei sich selbst
eincheckt, steht im Kontakt mit seinem Innern und wird dem auf die Spur
kommen, was ihm wirklich wichtig ist. Besonders intensiv kann man sich
selbst begegnen, wenn die Stimmen um einen herum zum Schweigen kommen.
In dem Maß, in dem jemand – immer wieder neu – den inneren „Raum der
Stille“ aufsucht, wird er oder sie bei sich selbst ankommen.
Ich
persönlich erfahre dies auch als ein spirituelles Geschehen. Denn wenn
ich näher zu mir selbst finde, erahne ich zugleich einen umfassenderen
Grund, der mich und alles von innen her trägt. Und umgekehrt: Je mehr
ich in Berührung komme mit dem göttlichen Geheimnis, umso mehr komme
ich in Kontakt mit mir und der Welt. Oder wie Bernhard von Clairvaux
schreibt: Geh deinem Gott entgegen bis zu dir selbst.