Melanie Wolfers - Die Kunst, mutig zu sein (4/7)
Alle Menschen empfinden Scham. Denn ob es einem passt oder nicht: Dieses unangenehme Gefühl gehört zur emotionalen Grundausstattung von uns Menschen. Wenn Scham nach einem greift, fühlt man sich wertlos, zu klein geraten oder irgendwie ‚daneben‘. Sie vermittelt den Eindruck: „So wie ich bin, bin ich nicht okay!“, und wispert in einem: „Wenn andere dich sehen, wie du wirklich bist, werden sie dich links liegen lassen oder spöttisch belächeln!“ Besonders in nahen Beziehungen entfaltet Scham ihre Macht. Denn nichts ängstigt mehr, als von Menschen, die wir lieben, abgelehnt oder verächtlich belächelt zu werden. Wir schämen uns für unsere Schwächen und fürchten, links liegen gelassen oder angegriffen zu werden. Wir fürchten, nicht mehr als liebenswert zu erscheinen, wenn wir unser inneres Kuddelmuddel outen. Kein Wunder, dass man sich lieber nicht so tief in die Karten schauen lässt, wenn es einem mies geht oder man sich ungenügend fühlt.
Zack! An diesem Punkt schlägt die Falle der Scham zu! Denn Scham
bezieht ihre Macht daraus, dass sie einen Mantel des Schweigens
ausbreitet über das Gefühl, fehlerhaft zu sein. Sie lebt von
Geheimhaltung, denn sie macht einen glaubend: „Wenn andere sehen, wie
ungenügend und verletzlich du bist, werden sie dich ablehnen.“
Es gibt ein wirksames Gegenmittel gegen Scham: Die schambesetzte Geschichte mit Menschen zu teilen, denen wir vertrauen und die gut damit umgehen können. Das kostet viel Überwindung, ja, vielleicht fühlt man sich nackt und entblößt. Doch nur wer es wagt, sich in seiner Not zu offenbaren, kann Empathie erfahren. Und Empathie heilt. Sie gleicht einer Leiter, die einen aus dem Loch herausholt, in das man sich vor lauter Scham verkrochen hat.
Die Verunsicherung im Erleben des eigenen Selbstwertes, die sich in der Scham Bahn bricht, entpuppt sich
in der Tiefe auch als eine spirituelle Verwundung: Wir können nicht mehr glauben, dass wir so, wie wir sind, wirklich liebenswürdig und wertvoll sind. In diese Richtung weist auch die biblische Erzählung, die vom Verlust des Paradieses berichtet: Der Mensch hat seine ursprüngliche Beheimatung verloren. Sein Gespür für seine göttliche Herkunft – und das meint: für das grundlegende Ja, das ihm und allen von jeher gilt – ist beeinträchtigt. Der Mensch hat sich in sich selbst verlaufen und findet nicht mehr zurück.
Es zieht sich wie ein roter Faden durch die Bibel: Gott macht sich immer wieder neu auf die Suche nach dem „verlorenen“ Menschen – in der Hoffnung, dass der Mensch seiner Freundschaft Glauben schenkt. Und nichts anderes will Jesus vermitteln, wenn er die schöne Nachricht verbreitet, dass jeder und jede unendlich geliebt ist.