Vom Anfang bis zur Apokalypse
Vom Anfang bis zur Apokalypse - Was verbirgt sich eigentlich dahinter?
Unser Kollege, Chefreporter Alois Bierl, wird in einem Jahr die
komplette Bibel lesen. Jede Woche lässt er uns an diesem spannenden
Experiment und seinen Erfahrungen teilhaben.
So etwa bei 45 Grad sollte er liegen. Der Neigungswinkel beim Bibellesen ist nicht gering zu veranschlagen. Schon seit längerer Zeit habe ich ein schmales zusammenklappbares Pult, auf das ich etwas schwerere Bücher stelle, meistens liegen sie aber flach auf dem Tisch oder ich lese im Bett oder auf dem Kanapee. Immer öfter sagen mir jedoch mein Rücken und meine Nackenmuskulatur, dass sie damit nicht zufrieden sind. Die schwere Bibel, die ich zu Anfang benutzte, konnte ich so nach einigen Minuten kaum noch halten, am Tisch musste ich mich wegen der kleinen Schriftgröße ziemlich nah über sie beugen. Platzierte ich sie auf dem etwas windigen Pult, verrutschte es beim Umblättern, auch bei der neuen mehrbändigen, leichteren und größer gedruckten Ausgabe kommt das häufiger vor. Außerdem stören mich die zwei bis drei anderen Bände und Lexika, die ich links oder rechts ablege, um etwas nachschlagen zu können. Die genieren mich immer. Dazu kommen ein kleines Heft und ein Bleistift, um etwas notieren zu können.
Beim Laufen und beim Lesen – die Materialfrage ist wichtig
Nach dem Lesen mag ich das nicht einfach liegen lassen, ich verabscheue unaufgeräumte Schreibtische, da bin ich etwas neurotisch und muss aufräumen. Bleistift und Notizbüchlein in die Schublade, Bücher zurück ins Regal. Diese kleinen Ärgernisse sind heimtückisch. Wenn Bibellesen unbequem ist, dann wirst du allmählich nachlässiger und brichst es eines Tages ab. Ein Dauerläufer braucht leichtes Schuhwerk und probiert einiges aus, bis er das richtige gefunden hat. Ebenso braucht der Bibelleser das richtige Material. Ich hatte es sogar im Keller stehen. Ein festes Lesepult – im 45-Grad-Winkel, schon vor Jahren auf einem Flohmarkt für fünf Euro erworben: solide Fichte, lackiert, die Auflagefläche für das Buch 45 mal 32 Zentimeter groß, selbstverständlich mit Stützleiste am unteren Rand. Stelle ich es auf den Tisch bleibt darunter ein Hohl- und damit auch ein Stauraum für die anderen Bücher. Nur einen Boden hat das gute Stück nicht, besser hatte. Der Wunsch nach Bequemlichkeit macht erfinderisch, sogar mich.
Stauraum basteln
Ich habe eine etwa zentimeterdicke Sperrholzplatte zurechtschneiden lassen und unten an die Seitenstützen geschraubt, die Löcher behutsam vorgebohrt, damit die danach eingedrehten Schrauben, das schmale Holz der Stützen nicht zerreißen. Auf die leicht versenkten Schraubenköpfe habe ich kleine Gumminoppen gesetzt, das schützt den Tisch und macht das Pult noch rutschfester. Und der jetzt nach unten geschlossene Hohlraum ist wunderbar. Darin sind die anderen Bücher, Bleistift und Notizheft schnell verstaut, das gesamte Lesepult lässt sich samt Inhalt mit einem Griff an einen anderen Platz stellen und der Tisch ist frei. Will mein Enkel Memory spielen, ist das wichtig. Und mit der Bastelei habe ich mir selbst gezeigt, dass mir diese Bibellektüre etwas bedeutet. Wäre sie belanglos für mich, hätte ich mir bestimmt nicht die Mühe gemacht, den Akkuschrauber aufzuladen, Schrauben herauszusuchen und eine Bodenplatte zuschneiden zu lassen. Der richtige Neigungswinkel und das passende Pult sind gefunden – wo alle Umstände passen, kann ich ja mit dem Bibellesen nicht mehr aufhören. Vor allem jetzt, wenn´s mit den Königs- und Chronikbüchern so richtig spannend wird.
(Alois Bierl, Chefreporter beim Sankt Michaelsbund)
Nächste Folge: Ein Spatterfilm im Alten Testament
Endlich ein paar Seiten in der Bibel hintereinander ohne Krieg. Wurde
auch Zeit und dafür braucht es selbstverständlich eine Frau, in die ich
mich schon lange verliebt habe. Als Moabiterin gehört sie zu einem
Volk, dass fast immer Feindseligkeiten mit den Israeliten ausgetragen
hat. Sie aber verbindet die beiden Völker, handelt völlig selbstlos
zugunsten eines anderen Menschen, der aus der Fremde kommt und nicht
direkt blutsverwandt ist.
Rut – eine Ausnahmefigur im Alten Testament
Das
passiert gar nicht so oft vor in den ersten sieben Büchern der Bibel,
nach dem katholischen Kanon gezählt. Rut ist eine Ausnahmegestalt, so
ausführlich wie sie kommt vorher keine Frau und nach ihr so bald keine
andere in der Heiligen Schrift vor. Nach ihr ist ein ganzes biblische
Buch benannt, das zwischen Richter und Samuel steht. Mir ist es
vertraut, weil meine Tochter, als sie noch klein war, das Büchlein des
niederländischen Illustrators Kees de Kort besonders geliebt hat, in dem
er die Geschichte für Kinder erzählt. Ihr hat es gut gefallen, dass die
Mädels, die erwachsene Frauen sind, so gut zusammenhalten über alles
Trennende hinweg. Ich kann ihr da nur zustimmen. Als ich ihr damals
erzählte, dass Rut die Ur-Oma von König David ist und eine
Ur-Ur-Ur-Großmutter von Jesus hat, war sie damit sehr zufrieden.
Eine Frau zum Verlieben
So
jemand im Stammbaum zu haben ist eine Auszeichnung und eine
Verpflichtung. Nach dem Tod ihres ersten Mannes aus folgt sie ihrer
Schwiegermutter Noomi in deren judäische Heimat. Die wäre ohne Rut dort
völlig verlassen und dem Hunger preisgegeben, was für eine anrührende
Geschichte! Kein Wunder, dass sich der Großbauer Boas in Rut verliebt
und Noomi mit weiblicher List die Ehe einfädelt. In der jüdischen Bibel
steht das Buch mit ihrer Geschichte an anderer Stelle als im
katholischen Kanon. Dort zählt sie zu den Festrollen, zu denen auch das
Hohelied der Liebe gehört. Das passt schön! In der jüdischen Bibel
schließt das Buch der Richter direkt an Samuel an. Und es stimmt, so
richtig passt Rut da nicht dazwischen. Es steht nur in der ersten Zeile,
dass die Geschichte in der Zeit der Richter spielt. Tatsächlich ist sie
wohl erst viel später entstanden.
Spitze gegen Ehegesetze
In
einem Kommentar lese ich, dass das Buch Rut eine scharfe Spitze gegen
Esra und Nehemia enthalten, die Ehen zwischen Israeliten und Moabitern
verbieten. Die Bibel mag den Widerspruch, so wie das Leben eben ist. Für
mich ist Rut jedenfalls eine Erholung zwischen den Männern, die nicht
nur um Gott, sondern auch um Macht ringen. Manchmal halten sie das für
das Gleiche. Das Kees de Kort-Büchlein über Rut werde ich wieder
jedenfalls kaufen. Nicht um es wieder mit meiner Tochter anzuschauen,
die ist inzwischen selbst Mama. Ich werde es mit ihrem Sohn, meinem
Enkel anschauen. Es kann keinesfalls schaden, dass schon kleine Buben,
diese Rut kennenlernen und sich, so wie ich, ein bisschen in sie
verlieben.(Alois Bierl, Chefreporter beim Sankt Michaelsbund)
Wenn meine Augen über die vielen Verse gleiten, frage ich mich manchmal: Verstehst du das denn? Ich erinnere mich, dass diese Frage auch in der Apostelgeschichte auftaucht, von der mich eigentlich noch viele Bücher trennen. Aber ich blättere vor, eine kleine Erzählung zwischendurch, ein Sprung weg von der strengen Lektüre Zeile für Zeile. Ich weiß auch noch, dass ein Apostel einem wohlhabenden und gebildeten Äthiopier auf die Sprünge hilft. Es ist Philippus. Der Äthiopier muss wohl laut gelesen haben, denn sonst hätte der Apostel ja nicht hören können, über welchen Text er gerade brütet, es ist eine Stelle aus dem Propheten Jesaja. „Verstehst du auch, was du liest?“, fragt Philippus. Was mir entfallen war, ein Engel hatte ihn auf die Straße geschickt, ohne dass der Apostel wusste, wem er dort begegnen würde.
Das vergessene Efod
An vielen Stellen der Heiligen Schrift weiß ich oft nicht mehr weiter, ein Wort, ein schwer verständlicher Satz, ein fehlender Zusammenhang. Was war gleich ein Efod? Das ist mir doch schon begegnet und ich weiß nicht mehr wo. Am Ende des Abschnittes stehen dann, die entsprechenden Bezüge. Ja, das ist doch das Gewand der Hohepriester, das im Buch Exodus so prachtvoll beschrieben wird. Im Buch Richter übertreibt es dann Gideon mit der Freude an der Pracht und aus dem Efod wird ein Götzenbild. Was wäre ich ohne diese Anmerkungen. Oder ein Abschnitt kommt mir tatsächlich wirr vor. Da hilft es doch sehr zu erfahren, dass ich kein Trottel, nicht konzentriert oder fromm genug, wenn ich das nicht verstehe. Denn tatsächlich steht da auch ein kleiner Satz, dass hier verschiedene und teilweise verstümmelte Überlieferungen zusammengefasst sind, die biblischen Schriftsteller lassen ja nichts verkommen. Ich muss nicht einmal laut lesen und dabei gehört werden damit mir jemand erklärt, was ich nicht verstehe. Ein Hoch auf die fleißigen Wissenschaftler!
Gelehrtenschweiß fließt nicht vergebens
Wie mühselig muss es sein, die Stellen zu finden, zu sammeln und zu verbinden, die aufeinander Bezug nehmen. Wie viel Gelehrtenschweiß steckt darin, zerfledderte Handschriften zu vergleichen, Abweichungen und Lücken bei denselben Texten zu bemerken. Und das auch noch zu teilen, damit es alle haben. Mir kommen diese Frauen und Männer tatsächlich auch wie von einem Engel gesandt vor. Wie Philippus wissen sie gar nicht, zu wem sie geschickt sind. Auf ihrem Weg treffen sie bestimmt viele, die sich fragen: „Verstehe ich, was ich da lese“ und ungefragte Hilfe kommt. „Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei.“ Es ist auch nicht gut, wenn er ganz alleine liest, gerade die Bibel. Bei mir zumindest reicht es nicht, mich nur auf den Heiligen Geist zu verlassen, um dieses einzigartige Buch wenigstens in Teilen zu verstehen. Obwohl ich weiß und spüre, dass dieses Buch viel mehr erzählt und in mir auslöst, als ich und auch alle Gelehrten können. Trotzdem ein herzlicher Dank an die vielen unbekannten Frauen und Männer, die mir beim Lesen der Heiligen Schrift helfen, ohne es zu wissen.
(Alois Bierl, Chefreporter Sankt Michaelsbund)
Krieg – na klar! Gewalt und Gemetzel kommen in den Gesetzes- und Geschichtsbüchern der Heiligen Schrift zuhauf vor. Da geht es um Eroberung, aber auch um Widerstand gegen ausbeuterische Mächte. „In der Natur wird gemordet, das ändert sich nicht“, heißt es bei Ödön von Horvath so herzzerreißend unsentimental. Beim Menschen kommt auch noch die Kultur dazu. Das Jus ad bellum, das Recht zum Krieg war für die Völker bis ins 20. Jahrhundert hinein eine Selbstverständlichkeit, auch bei guten Christenmenschen. Juristen, Historiker und Theologen lieferten dafür immer gute Gründe. Erst das Entsetzen über den Zweiten Weltkrieg hat zur Charta der Vereinten Nationen geführt. Dort verpflichtet der Artikel 2 die Staaten dazu, ihre Auseinandersetzungen ohne Waffengewalt zu regeln. Das kümmert Diktatoren und Kriegsunternehmer wenig, wenn sie einen Gewinn für sich sehen. Und ist die gottlose Gewalt erst entfesselt, dann ist das Quälen anderer Menschen sehr schnell gesellschaftlich erlaubt oder wird zumindest hingenommen, Rechtfertigungen sind dafür ja immer zu finden.
Moment der Umkehr
Die Bibel ist da realistisch und auch das Volk Gottes mischt fleißig mit. Und bevor ich zu moralisch werde: die Lust am Mordwerk merke ich auch an mir selbst als Leser. Im Buch Richter ersticht Ehud den dicken König der Moabiter, der das Volk mit Tributforderungen erdrückt, heimtückisch mit einem langen Messer: „Es drang sogar der Griff nach der Klinge ein und das Fett umschloss die Klinge, da er den Dolch nicht aus seinem Leib herausgezogen hatte.“ (Ri 3,22). Das würzt die Lektüre und ich schnalze mit der Zunge, obwohl es mich gleichzeitig ekelt und schaudern macht wie bei einer guten Kriminalgeschichte. Ein paar Abschnitte vorher ist das Schicksal des kanaanäischen Königs Adoni-Besek geschildert. Nach gutem Siegerbrauch schneiden ihm die Judäer die Daumen und die großen Zehen ab. Und da ist ein Moment, der mich stark rührt. Denn Adoni-Besek hat es bei seinen Feinden nicht anders gehalten. „Siebzig Könige mit abgehackten Daumen und abgehackten großen Zehen haben unter meinem Tisch die Reste aufgelesen. Wie ich gehandelt habe, so hat mir Gott vergolten.“ Da kommt mir dieser Tyrann plötzlich nahe, weil er einen Moment der Umkehr zeigt. Mitten in diesen Grausamkeiten denkt einer daran, dass er selbst Schuld auf sich geladen, dass er Verantwortung trägt, wenn Entsetzliches passiert.
Der Frieden ist ein göttlicher Glanz
Immer wieder stoße ich auf diese Goldader der Heiligen Schrift: dass es Frieden und Recht geben muss. In den ersten Büchern der Bibel erscheint sie mir bisweilen sehr dünn. Aber, es kommen ja die Propheten und das Neue Testament. Diese Goldader wird also breiter und tritt immer offener zu Tage und ich finde es redlich, dass die Heilige Schrift nicht davon schweigt, dass mächtige Schichten von Schuld und Gewalt sie immer wieder verschütten. Dennoch: sie ist da, auch wenn sie immer wieder aufs Neue ausgegraben werden muss! Der Frieden ist ein göttlicher Glanz. Von Sigmund Freud stammt der Satz: „Die Kultur muss alles aufbieten, um den Aggressionstrieben der Menschen Schranken zu setzen.“ Davon erzählen auch das Alte und das Neue Testament. Sie verlassen sich allerdings nicht auf den Menschen und seine Kultur. In der großen Entwicklungsgeschichte der Bibel wird deutlich, dass die gebrechlich eingerichtete Welt alleine zum Frieden unfähig ist. Für den braucht es mehr als den Menschen – ohne Gott erreichen sie die Goldader nicht, die durch die Kriege hindurch bricht.
(Alois Bierl, Chefreporter Sankt Michaelsbund)
Diese Unduldsamkeit gegen andere Religionen und Völker, der unerbittliche Ton der Vorschriften, die ständigen Mahnungen treu zu bleiben – dauernd treiben mich diese vielen Stellen im Alten Testament um, sie gehen mir auch auf die Nerven. Und plötzlich kommt mir der Gedanke: da ist doch Angst im Spiel. Gott fürchtet, das von ihm geliebte Volk zu verlieren. Und die Menschen, die ihm folgen, spüren ihrerseits, dass er ihnen abhanden kommen könnte. Natürlich sind überall im Alten Orient religiöse Regeln und Opferbestimmungen zu finden. Doch es klingt immer, wie ein vertraglich besiegeltes Handelsabkommen. Bringst du den Göttern Opfer, dann lassen sie die Ernte wachsen. Do ut des, lautet der lateinische Grundsatz: „Ich gebe, damit du gibst“.
Ein "eifersüchtiger" Gott
Auch in der Bibel ist dieser Tauschgedanke da, aber ich glaube, es geht dort viel mehr um Beziehung, um Liebe. Mir fällt das vor über einem Vierteljahrhundert erschienene Buch Jack Miles ein: „Gott, eine Biografie“. Darin zeichnet der ehemalige Jesuit, Bibelkenner und Literaturwissenschaftler eine Art Lebenslauf Gottes nach, den Miles der Bibel entnimmt, und dessen Wechselbäder der Emotionen und Stimmungen, so wie sie das Volk Israel eben erfährt. Anders als in den antiken Religionen habe der Gott Israels eben keine anderen Götter neben sich, denen er begegnen und mit denen er sich austauschen kann. Er ist ohne himmlische Gefährtinnen und Gefährten, die ihm einigermaßen gleichwertig sind und mit denen er sich befassen, auseinandersetzen muss. Der HERR hat nur Israel zum Partner, für das er eine regelrechte Leidenschaft entwickelt. Er sagt sogar ausdrücklich von sich selbst, dass er ein „eifersüchtiger Gott“ (Dtn 5,9) sei. Wenn es um diese Exklusivbeziehung geht, kennt er keinen Spaß. Fast kommt es einem so vor, als wäre er sonst einsam.
Gott und die Menschen wollen zusammenbleiben
Die spätere christliche Theologie löst das auf, indem sie Gott als dreifaltig beschreibt, der in sich selbst unaufhörlich Begegnung und Kommunikation ist, der lieben kann und liebt, vor Anbeginn der Welt, seit Ewigkeit. Sonst könnte er auch im Alten oder Ersten Testament mit seinem auserwählten Volk niemals ein solches Beziehungsdrama anzetteln. Jeder, der einmal um eine Liebe gekämpft und gestritten hat, weiß, welche drastischen Formulierungen und haarsträubenden Forderungen da vorkommen. Da kommt es zu Geschrei und Gezänk, zu verzweifeltem und widersprüchlichem Geflüster, unbeholfenen Zärtlichkeiten, scharfen Aufforderungen und es spricht die Furcht, dass diese Liebe gleichgültig und vergessen werden könnte, ein unerträgliches Gefühl. Mit diesem Gedanken lese ich diese schwierigen und nervigen Bibelstellen mit ihrer Unduldsamkeit, den Vorschriften und Mahnungen auf einmal anders. Gott und die Menschen fühlen, dass sie zusammenbleiben wollen und wie schwierig das ist. Und ich merke: das geht ja mich an, bis ins Innerste, bis in die Eingeweide – da steckt ja auch mein Beziehungsdrama mit Gott drin.
(Alois Bierl, Chefreporter Sankt Michaelsbund)
Sie sind schwer, umfangreich machen schnell müde und hemmen das
Vorwärtskommen - Bibeleditionen haben so ihre Tücken. Die ersten Wochen
habe ich in einer dicken Ausgabe gelesen, zugegeben mit einem
exzellenten und nicht allzu akademischen Kommentar, der mir manche
Stelle aufgeschlüsselt hat. Trotzdem bereitet mir meine „Neue
Jerusalemer Bibel“ Kummer und manchmal Frust. Ich will die Heilige
Schrift ja von der ersten bis zur letzten Seite lesen und es kommt mir
so schleppend vor. Klar, das Alte Testament ist nicht Harry Potter mit
einer einheitlichen Handlung, so viele Nebenstränge sie auch haben mag,
ein großes und zusammenhängendes Erzähl-Tableau, mit einer Lektüre wie
im Flug. Die Bibel ist ein fein zusammengenähter Flickenteppich. Jede
Überlieferung ist den Autoren kostbar, da darf nichts verlorengehen,
jedes greifbare Stückchen ist verwertet, selbst wenn es nur eine leicht
veränderte Wiederholung ist. Da stockt der Verstand schnell.
Bibellesen ist nicht immer ein Vergnügen
Nein,
Bibellesen ist nicht immer ein Vergnügen, besonders, wenn das
Geschriebene in einem einzigen Band klein und auf dünnem Papier gedruckt
ist. Nehme ich die in einer Woche gelesenen Seiten zwischen Daumen und
Zeigefinger spüre ich den Druck an den Fingerspitzen, weil so wenig
Papier dazwischen und noch so viel Text vor mir liegt. Und die kleine
Dünndruckausgabe mit dem Reißverschluss, die ich unterwegs in der U-Bahn
oder im Zug lese, ist praktisch und handlich, passt sogar in die
Jackettasche, und ich glaube es sieht nicht schlecht aus, wenn ich sie
konzentriert aufschlage und nach einiger Zeit mit einem leichten
Rascheln umblättere. Ja, ich bekenne, es schmeichelt mir, wenn andere
Fahrgäste mich da nicht nur verwundert, sondern auch ein bisschen
bewundernd anschauen. Distinktionsgewinn, nennen das die Soziologen.
Viel Zeit das zu genießen, bleibt mir aber nicht, denn ich muss bei der
kleinen Schrift aufpassen, die Zeile nicht zu verlieren. Und ist ein
biblisches Buch abgeschlossen, wartet schon das nächste.
Bibelausgabe in Großdruck
Aber ein bisschen Belohnung oder Aufmunterung sollte doch sein, wenn das letzte Deuteroniumkapitel hinter einem liegt! Kein Wunder, dass viele die Lektüre vermutlich schon deswegen aufgeben, weil ihnen die Bibel zu unhandlich, zu dick oder wie Augenpulver vorkommt. Nicht jeder kämpft so beharrlich mit der Heiligen Schrift wie Jakob mit dem Engel, und lässt nicht eher davon ab, bis er einen Segen spürt. Seit ein paar Tagen habe ich jedoch Abhilfe gefunden, das Katholische Bibelwerk ist mir für 89 Euro gnädig. Sein Verlag bietet eine Bibelausgabe in Großdruck und vor allem in fünf Einzelbänden. Ich will nicht behaupten, dass es die Kultvorschriften und Landnahmeerzählungen in den Büchern Numeri und Deuteronium nun mit den Schilderungen von Hogwarts an Spannung aufnehmen können. Aber wenigstens liest es sich augenfreundlich. Dazu kommt das Erfolgserlebnis, das nach der nun erfolgten Lektüre des Pentateuchs der erste Band abgeschlossen ist! Bei meinen anderen Bibelausgaben wäre mir diese Wegstrecke kaum aufgefallen. Dabei habe ich jetzt schon die komplette Tora geschafft. Es hat mich gestrafft und angespornt, als ich die letzte Seite umblätterte und nur noch den hinteren Buchdeckel vor mir hatte. Und wenn ich jetzt in der U-Bahn mich über Taschenausgabe beuge, die Augen zusammenkneife, um die Zeilen schärfer zu sehen, dann fällt mir auch das leichter. Denn ich weiß, wenn ich daheim den Lektürefaden wieder aufnehme, dann wartet auf mich zur Erholung ein schönes großes Schriftbild in einem schmalen Band, der mir nicht von vorherein zuflüstert: „Du schaffst mich eh nicht, ich bin ein kaum bezwingbarer Wälzer.“ Psychologie gehört beim Bibellesen halt dazu.
(Alois Bierl, Chefreporter Sankt Michaelsbund)
Bei
vielen Stellen in der Tora, also den ersten fünf Büchern des Alten
Testaments, mit ihren Rechtsvorschriften und Normen komme ich immer
wieder ins Straucheln. Ich versuche dann in der Lektüre nicht
weiterzustolpern, bis ich wieder sicheren Grund erreiche und nicht mehr
auf die Nase fallen kann, sondern stehenzubleiben und mich irritieren zu
lassen. Es sind Stellen wie: „Eine Hexe sollst Du nicht am Leben
lassen.“ (Ex 22,17) „Schläft einer mit einem Mann, wie man mit einer
Frau schläft, dann haben sie eine Gräueltat begangen; beide haben den
Tod verdient.“ (Lev 20,13). Oder die Stelle im Buch Numeri, wo Gott
durch Mose die Steinigung eines Mannes anordnet, weil er am Sabbat Holz
gesammelt hat.
Besonders haarsträubend ist die wenig bekannte
Perikope mit dem Priester Pinhas, der einen Israeliten mit einem Speer
ermordet, weil er eine Midianiterin, eine Fremde, zur Frau hat. Die
Midianiterin sticht er natürlich mit ab und Gott lobt diesen „Eifer“
durch den Mund Mose. Ich halte mir dann vor Augen, dass es Sätze sind,
die sich an Menschen in historischen Momenten wenden, wie sie vor 2500
und oft auch noch viel mehr Jahren bestanden. Sie richten sich an ein
kleines Volk, dass dagegen kämpfen muss, von Großmächten geschluckt zu
werden und unterzugehen, das sich erhalten und scharf von der Kultur,
den Sitten und der Religion seiner Nachbarn und Eroberer abgrenzen will.
Die Schreiber erklären nicht viel dazu. Und vielleicht geht es ja gar
nicht um diese oder jene Handlung, sondern um eine Haltung: Behalte im
Blick, wie Du zu deinen Mitmenschen sprichst, jage ihnen keine Angst
ein, sei achtsam mit Deinem Körper und dem der anderen, gehe pfleglich
mit deinem Leben um und zerstöre nicht die Gemeinschaft, mach sie nicht
kaputt, sonst ergeht es dir übel! So versuche ich als Leser im 21.
Jahrhundert derlei Verse zu deuten. Und dann sind dazwischen ja die
Stellen zu finden, die den Israeliten ins Stammbuch schreiben, den
Fremden nicht zu bedrücken und zu schützen. Trotzdem bleibt da ein
Stachel, weil die Bibel so oft nonchalant meine ethischen Vorstellungen
über den Haufen wirft. Weit entfernt kommt mir da das Wort Gottes und
sein Gesetz vor. Und dann rührt und trifft es mich wieder unmittelbar:
als Zeitgenossen des Artentods, des vom Menschen mit verursachten
Klimadilemmas und einer zerstörerischen Wirtschaftsdoktrin.
Atempause für Schöpfung und Mensch
Im Buch Exodus und Leviticus lese ich, dass nicht allein der Mensch
Ruhepausen braucht, sondern dass sie auch dem Boden, der Natur zu gönnen
sind. Sie sehen ein Sabbat- oder Schmittajahr für alles Ackerland vor,
in dem es brachliegen soll. Auch der Mensch schränkt sich dann ein,
schenkt der Schöpfung und sich selbst eine Atempause, gibt sich mit
Vorräten zufrieden. Als wären diese Bibelstellen für heute geschrieben.
In einem Podcast habe ich neulich den Geologen Christoph Antweiler
gehört. Er rechnete vor, dass jeder Quadratmeter Festland mit einem
Zentner Baumaterial bedeckt wäre, verteilte man den von Menschenhand
verbauten Beton, den Asphalt, das Glas oder den Stahl auf die
Erdoberfläche. Für jeden Quadratmeter stehen schon jetzt 50 Kilo Schutt
bereit! In ein paar Millionen Jahren wird es eine nur von Menschen
geschaffene geologische Schicht geben. Aus und auf dem Boden wird alles
herausgeholt und so gewaltig geplündert, dass das Leben darauf
allmählich keinen Platz mehr findet, die Erde stöhnt unter der Last des
Menschen. Da habe ich an diese Bibelverse denken müssen. Das „Gift der
Habsucht“, wie Papst Franziskus es nennt, ist der Bibel mindestens
genauso unheimlich wie etwa die Homosexualität. Die bewerten die natur-
und geisteswissenschaftliche Forschung heute anders als das Alte
Testament. Die Warnung vor einem schonungslosen Umgang mit der Erde ist
dagegen wohl zeitlos. Auch sie gehört zu meinen Straucheleinheiten beim
Bibellesen.
(Alois Bierl, Chefreporter Sankt Michaelsbund)
Am
Anfang kostet es etwas Überwindung. Aber bei der Beschreibung des
Bundeszeltes in den Büchern Exodus und Numeri hat sie sich auf alle
Fälle gelohnt. Gott verlangt von Mose, ihm ein Heiligtum zu machen. Und
dann folgen viele Seiten Baubeschreibung und Montageanleitung, ich muss
an Ikea-Regale denken. Nach einigen Versen lese ich darüber immer
oberflächlicher hin, bleibe aber an „Schleifen aus violettem Purpur“,
„vierzig Sockel aus Silber“ oder „gezwirntem Byssus“ hängen. Byssus, das
kenne ich aus dem italienischen Wallfahrtsort Manoppello. Dort hängt
ein Tuch, das ein lebensechtes Bild von Jesus zeigen soll. Kenner sagen,
dass es aus Byssus ist, die Fäden dafür sind aus den Sekreten von
Muscheln gewonnen, weshalb es auch den Namen Muschelseide trägt. Gut
kann ich mich entsinnen, wie gebannt ich vor dem Tuch stand, das jeden
veränderten Lichteinfall aufnahm, von einer Aura umgeben war und sich
ständig anders zeigte.
Ich halte inne, bevor ich dann wieder nur so obenhin über die
Exodus-Zeilen gleite und mich gleichzeitig ermahne: Schade, dass du das
nicht tiefer aufnimmst, du spürst doch, da ist ein Zauber wie in
Tausenundeine Nacht verborgen. Und ich überwinde mich und lese die
vielen Zeilen laut. Ein wenig verschämt, könnte ja plötzlich ein
Familienangehöriger ins Zimmer kommen und sich fragen, was ich da tue.
Ich höre meiner Stimme zu und immer mehr baut sich vor mir dieses
Bundeszelt auf, in dem ein Altar aus Akazienholz steht, zwei Kerubime
aus Gold, kupferne Pfannen. Die Zeltdecken sind aus Ziegenhaar und
Tierhäuten, sie schützen die heilige Bundeslade mit den Gesetzestafeln –
vor denen hängt der Vorhang aus Byssus.
Ich sehe das Zelt
vor mir, wie es auf steinigem Boden in der Wüste steht, rieche das
Leder, den Weihrauch und die verbrannten Harze, alles ist imprägniert
von ihrem Aroma. Der Wind weht hinein, und bewegt sanft das
geheimnisvolle Byssusgewebe. Etwas Unsichtbares zieht ein ins Sichtbare.
Völlig logisch, dass Gott hier anwesend sein muss.
Aus der Tonspur wird Kopfkino
Im
Timna-Park in Israel ist das Bundeszelt nachgebaut und im Internet
schaue ich mir Fotos davon an. Sind ziemlich matt und glanzlos, meine
eigene Vorstellung gefällt mir da viel besser. Mit dem lauten Vorlesen
lade ich mich selbst zum Bibelträumen ein, aus der Tonspur wird ein
Kopfkino, aus dem Wort ein Bild, mein Bild. Ich kann es mit mir
herumtragen, wie die das wandernde Gottesvolk sein Bundeszelt und
auspacken, wenn es dafür Zeit ist. Natürlich merke ich beim Lesen der
Verse, das da manches nicht ganz zusammenstimmt, Wiederholungen
vorkommen und die Bibel-Schreiber wahrscheinlich das mythische
Bundeszelt mit der liturgischen Ausstattung des Jerusalemer Tempels
möbliert haben. Sie haben eine erzählerische Verbindung zwischen den
Jahrhunderte voneinander entfernten Kultstätten geschaffen: dem
transportablen, bescheidenen Zelt und dem festgebauten, prächtigen
Gotteshaus. Vielleicht wollten sie sagen, dass es zu manchen Zeiten eine
bewegliche Verehrung und einen beweglichen Gott braucht und dann wieder
einen festen, sicheren Platz, an dem der Herr unverrückbar festhält, um
sich dort immer finden zu lassen. Sie haben ihre orientalische
Phantasie spielen lassen. Wenn die Bibelgelehrten das durften, kann
Phantasie bei der Lektüre der Heiligen Schrift ja nicht verboten sein.
Lautes Vorlesen hilft ihr auf die Sprünge.
(Alois Bierl, Chefreporter Sankt Michaelsbund)
Wo
packe ich zwischen Büro, E-Mails und Haushalt, zwischen Kino,
angenehmen Zerstreuungen und Familienleben bloß den Moses hin? Das
Arbeits- und Freizeitleben des 21. Jahrhunderts hat meine Bibellektüre
eingeholt: meistens bin ich entweder in Hektik oder abgespannt und
vertrödele Stunden, ohne es richtig zu merken. Die Bibelausgabe, die ich
von der ersten bis zur letzten Zeile lesen will, hat gut 1800 Seiten,
mit Kommentar. Wenn ich den weglasse, sind es vielleicht noch 1500. In
elf Monaten will ich beim letzten Vers der Offenbarung des Johannes
angekommen sein. Ich habe schon einmal vorgeblättert: „Die Gnade des
Herrn sei mit allen!“ (Off 22,21). Jeden Tag vier bis fünf Seiten oder
auf die Woche umgerechnet 29 bis 35 Seiten in der Heiligen Schrift zu
lesen, das sollte doch zu schaffen sein. Dafür habe ich mich
entschieden, weil der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs mich packt, der
sonderbare Kapriolen schlägt, fürchterliche Wutausbrüche hat und
trotzdem unverbrüchlich treu ist. Es sollte doch ein Vergnügen sein,
jeden Tag ein halbes oder wenigstens ein Viertelstündlein in dem
Liebesroman zwischen Gott und den Menschen zu lesen, der die Bibel doch
ist. Ist nach vier Wochen, aber kein Vergnügen mehr, zumindest nicht
immer, sondern ein Zeitproblem.
Anfangs war ich fleißig und begeistert, bin morgens etwas früher
aufgestanden und achtete streng darauf mein Seitenpensum zu schaffen.
Manchmal ganz romantisch bei Kerzenlicht. Damit war es vorbei, als das
Enkelkind drei Tage und Nächte zu Besuch war, am Morgen frühstücken und
spielen und keinen bibellesenden Opa wollte. Am Abend waren mir Lust und
Ehrgeiz vergangen, Moses oder die Sippenverbände von Ruben, Simeon oder
Levis und wie sie alle heißen zwischen die letzten Stunden des Tages zu
quetschen. Bibellesen ist keine Arbeit, aber doch eine besondere
Handlung und keine Entspannung. Das habe ich vorher schon gewusst, jetzt
spüre ich es auch.
Haltepunkte freihalten
Als ich ein paar Tage mit der U-Bahn zur Arbeit gefahren bin und an
einem Samstag mit der Eisenbahn einen Ausflug gemacht habe, habe ich mir
eine kleine Taschenbibel mitgenommen, um auf den Fahrten zu lesen. Das
hat zwar knapp für das Tages- und Wochenpensum gereicht, aber ich war
kein aufmerksamer und danach ein unzufriedener Leser. Außerdem fahre ich
meistens mit dem Fahrrad ins Büro. Also muss ich meine Lektüre
alltagstauglicher machen. Der Plan ist, drei Haltepunkte im Tag
freizuhalten und an einem davon meine Lektürestrecke zu schaffen:
Morgens vor dem Frühstück, vor dem Mittagessen oder nach dem Abendessen.
Ich setze mich hin, schlage die neue Stelle auf und atme dreimal ruhig
durch und dann geht´s los. Einen Vers aus dem gelesenen Abschnitt
schreibe ich auf und schaue ihn mir vor dem Einschlafen noch einmal an.
Drei Tage hat die Methode schon ganz gut geklappt und an einem davon
haben mich die Verse fortgerissen und ich habe zwölf Seiten geschafft.
Und wenn es einmal nicht klappt, weiche ich aufs Wochenende aus, gehe
früh zu Bett und lese am Morgen. Vielleicht wieder ganz romantisch bei
Kerzenlicht. Bisher hat´s funktioniert, die Bibel hat mich wieder.
(Alois Bierl, Chefreporter Sankt Michaelsbund)
Bürger,
die fremde Männer vergewaltigen wollen, Inzest, kinderlose Ehen,
Leihmutterschaft und ein Coitus interruptus aus Feindseligkeit. Dazu
kommen gerade noch verhinderte Menschenopfer oder ein versuchter
Brudermord, nachdem es Kain ein paar Kapitel schon vorher tatsächlich
erwischt hat. Das Buch Genesis kommt mir wie die große und atemlose
Drama Queen unter den biblischen Schriften vor.
Ich bin nicht
völlig unbeschlagen in meine Bibellektüre eingestiegen. Aber dass sich
die einzelnen Geschichten um Lot, um Hagar, um Tamar und Onan oder um
Isaak und Josef auf gerade einmal gut 40 Seiten zusammendrängen – es war
mir nicht mehr bewusst. Auch nicht, wie knapp und deutlich sie sind.
Mich verblüfft, wie entschlossen und tabulos Frauen darum kämpfen,
Mutter zu werden. Es geht handfest um Fortpflanzung. In der Geschichte
von Lot auch um die Würde und die Achtung vor dem Körper, wenn er zwei
Engel in männlicher Gestalt vor der Vergewaltigung durch andere Männer
schützt. Wenig später lassen sich seine Töchter zielbewusst von Lot
schwängern, weil nach dem Ende Sodoms keine anderen Männer mehr da sind.
Aus diesem Doppelinzest gehen mit Moab und Ben Ammi zwar zwei
Leibfeinde Israels hervor, aber das Verständnis für das Handeln der
beiden jungen Frauen ist da.
„Das Leben ist am größten“
„Das Leben ist am größten:/Es steht nicht mehr bereit“, heißt es in
einem Gedicht von Bertolt Brecht. Wie der wortgewaltige Atheist aus
Augsburg schielen die Menschen in der Genesis kaum ins Jenseits, sondern
wollen auf der Welt bleiben, wenigstens in ihren Nachkommen. Das ist
das Nachleben, auf das sie sich verlassen. Darum sind Kinder so kostbar.
Selbst wenn es erotisch einmal knistert wie bei Jakob und Rahel und
eine bisschen sentimentale Liebesgeschichte sich andeutet: wenn Frau und
Mann zusammenliegen, dann sollte etwas Drittes dabei herauskommen. Für
zweckfreie Lust hat das Buch Genesis keinen Sinn, für bürgerliche und
auch kirchliche Moral erst recht nicht. Dennoch trägt die Kirche etwas
vom Sinn dieses biblischen Erbes weiter: Dass Menschen wertvoll sind,
für ihre Eltern und noch mehr für sich selbst und sie deshalb schon im
Mutterschoß zu schützen sind. Dass Sexualität eine große Aufgabe ist,
kein unverbindlicher Spaß und keine Triebabfuhr.
Hören wir
als Zeitgenossen und Genussmenschen des 21. Jahrhunderts nicht gerne,
weil immer ein Unterton mitschwingt: Geschlechtsverkehr ist nicht zum
Vergnügen da. Gleichzeitig wissen wir, wie eine engherzige verdruckste
Sexualmoral mit ihren minutiösen Verboten Frauen, Männer und Kinder
kaputtmachen kann. Die Kirchen waren immer sehr gut darin
vorzuschreiben, was geht, wenn zwei Leiber zusammenkommen und noch mehr
was nicht geht. Und manchmal wünsche ich mir, die Theologen hätten sich
mehr Gedanken um das fünfte anstatt um das sechste Gebot gemacht. Das
Buch Genesis ist dagegen alles andere als verdruckst und macht nicht
viele Vorschriften: Es sagt nur „Das Leben ist am größten“ – behalt es
nicht für Dich allein, gib es unbedingt weiter, wenn du es irgendwie
kannst und hüte es.
(Alois Bierl, Chefreporter Sankt Michaelsbund)
Das
fängt ja verwirrend an. Dass es zwei verschiedene Schöpfungserzählungen
im ersten Buch der Bibel gibt, hatte ich parat. Sogar dass die erste in
Genesis 1 etwa 500 Jahre später entstanden ist als die zweite in
Genesis 2. Ich war sogar ganz stolz darauf, dass ich mich aus
Studienzeiten noch erinnerte, dass Genesis 2 dem sogenannten Jahwisten
zugeschrieben wird, weil er den Gottesnamen Jahwe gebraucht.
Die allerersten Zeilen der Bibel entstammen dagegen dem Textkonvolut der
Priesterschrift. Dass die im Babylonischen Exil entstanden ist, habe
ich nachschlagen müssen, ebenso dass manche Exegeten den Jahwisten
mittlerweile nicht mehr als eigenständige und unabhängige Quelle
anerkennen. Und schon bin ich in der Gefahr, dass ich mehr Kommentare zu
einzelnen Stellen lese, als die Bibel selbst, bei Einzelheiten
hängenbleibe.
Gleichzeitig bin ich über das bisschen Vorwissen und die
Kommentare froh, weil ich dann nicht an rätselhaften Einzelheiten hängen
bleibe, für die mir kluge Leute eine Erklärung geben können. Immerhin
eines kann ich mir selbst zusammenreimen: Als die jüdischen Gelehrten
den Kanon des Alten, des Ersten Testaments festlegten waren ihnen
offenbar beide Erzählungen gleich wichtig, so dass sie lieber ein
bisschen verwirren als eine davon streichen wollten.
Schöpfung gibt's auch so
Die Bibel ist ein Buch, das Freiheit zulässt. Mir hat sie außerdem
gleich auf den ersten Seiten einen Schauder über den Rücken gejagt. Ich
habe an die Planetarien gedacht, die ich ab und zu besuche. Meistens
sind da Filme zu sehen, die den Ursprung der Welt erklären. Ich schaue
sie immer gebannt und gleichzeitig mit großem Unbehagen an. Zuerst sind
riesige Gaswolken zu sehen, ein paar Minuten später verkrustetes
Gestein, da sind schon ein paar Jahrmillionen verstrichen, gleich darauf
Meer und dann irgendwann riesige Farnwälder, da sind schon wieder
Jahrmillionen vergangen und weit und breit ist kein Mensch zu finden. Es
scheint ihn gar nicht zu brauchen, Schöpfung gibt´s auch so.
Das
Erschrecken darüber, dass Gott, der nicht Zeit und Raum ist, Zeit und
Raum werden lässt, sitzt mir nach einem Planetariumsbesuch jedes Mal in
den Knochen. Und noch mehr, dass er irgendwann Menschen in diese
Schöpfung setzt, die mit ihrem kleinen Intellekt bloß begreifen, dass
sie Gott und sich selbst in dieser stofflichen Welt aus Zeit und Raum
nie ganz verstehen können.
Im ersten Buch der Bibel lässt er
ihnen die Freiheit, in der Komfortzone des Paradieses ohne Fragen und
Erkenntnisdrang zu bleiben, die wehtun, sehr sogar. Und doch ist der
Sündenfall ein Glücksfall, „glückliche Schuld“, wie es in der
Osterliturgie heißt. Denn aus dem Paradies machen sich die
zerbrechlichen Menschen auf den Weg - und auf viele Umwege - durch die
Geschichte, die sie zurück zum Reich Gottes führen soll. Und der ist
sogar auf diesem Weg dabei. Er spricht zu ihnen und die Bibel hält fest,
wie Frauen und Männer diesen Gott verstehen, oft genug missverstehen.
Und jetzt drängt es mich unwiderstehlich, in dieser Geschichte
weiterzulesen, völlig egal, welcher Abschnitt nun vom Jahwisten oder aus
der Priesterschrift stammt.
(Alois Bierl, Chefreporter Sankt Michaelsbund)
Von
der Erschaffung der Welt bis zu ihrem Ende in 365 Tagen in einem Buch.
Oder in 73 Büchern in einem Band. So viele zählt die katholische Kirche
zu ihrem Bibelkanon. In einem Jahr will ich die Heilige Schrift komplett
lesen. Darum heißt das Ganze auch: vom Anfang bis zur Apokalypse.
Vor
33 Jahren habe ich das schon einmal gemacht. Zugegeben mit vielen
überschlagenen Seiten, wie man Fachliteratur studiert, weil ich meine
Prüfungen bestehen wollte. Nun will ich mir dieses merkwürdige Buch noch
einmal geben. Dieses Mal wirklich Zeile für Zeile und festhalten, wie
es mir dabei so geht, welche Stellen mir auffallen und welche Tricks ich
finde, um durchzuhalten. Schon lange wollte ich diese Lektüre in meinem
Leben noch einmal wiederholen. Mittlerweile weiß ich auch, wie schnell
drei Jahrzehnte vergehen und ich kann nicht davon ausgehen, noch einmal
so viel Zeit zu haben, so hoch liegt das Durchschnittsalter bei Männern
in Deutschland nicht.
Vor ein paar Monaten ist mir in einem öffentlichen Bücherschrank, in
denen Leser ihre alten Bücher verschenken, eine „Neue Jerusalemer Bibel“
ins Auge gefallen und ich habe sie etwas gerührt mitgenommen. Durch die
gleiche Ausgabe habe ich mich damals durchgeschlagen und war froh, als
die letzte Seite umgeblättert war und die bunten Karten auf der
Innenseite des Buchdeckels auftauchten. Die in der Neuen Jerusalemer
Bibel enthaltenen wissenschaftlichen und dennoch gut verständlichen
Kommentare habe ich besonders gemocht. Wegegeben habe ich mein Exemplar
trotzdem, wozu sollte ich es noch einmal brauchen, die Prüfungen waren
geschrieben. Ich erinnere mich noch die körperliche Erleichterung als
ich den kiloschweren Band nicht mehr in meiner Hand spürte und an die
innere, die damit einher ging.
Nicht du deutest das Märchen, sondern das Märchen deutet dich
Exegetische Fragen plagen mich heute nicht mehr, viele andere aber
sehr wohl. Wenn ich sonntags die Lesungen und das Evangelium höre,
kommen mir diese Lebensfragen in der Bibel gut aufgehoben vor, obwohl
oder weil sie so ein widerborstiges Buch ist, widersprüchlich und
abgründig, selbst in den zur Verkündigung ausgewählten Stellen, die
vieles weglassen. Jeder Vers fordert zu unzähligen Deutungen heraus. So
oft sie auch bestens begründet sind, schlau und oft brillant, mich haben
sie oft davon abgelenkt, mich vom Text wie von einem Strom treffen,
treiben und auch tragen zu lassen.
Ein Gedanke des
Philosophen und Märchenforschers Franz Vonessen lautet: Nicht du deutest
das Märchen, das Märchen deutet dich und es lässt sich auch auf die
Bibel übertragen. Du liest dich darin selbst, lernst dich kennen, musst
darauf antworten und kannst das niemand anders überlassen. Nicht einmal
den scharfsinnigsten Theologen, selbst wenn sie als Schwimmhilfe im
Strom der heiligen Wörter unentbehrlich sind. Wenn´s um wichtige
Angelegenheiten geht, sieht man nicht nur mit dem Herzen gut, man liest
auch nur mit dem Herzen gut, auch wenn der Kopf dazu unentbehrlich ist.
Und jetzt geht´s los: Genesis 1. Eine symbolische Woche braucht Gott, um
uns Menschen auf die Erde zu stellen. Und in einer Woche muss mir dazu
etwas einfallen.
(Alois Bierl, Chefreporter Sankt Michaelsbund)