Verzichten - Aus Leidenschaft für das Leben
Fastenzeit ist Übungszeit. Zeit, innezuhalten, sich neu auf Gott auszurichten und Körper und Seele vitalisieren zu lassen. Wer verzichtet, lässt etwas los. Manche verzichten auf Süßigkeiten, Alkohol und Fleisch. Andere verzichten auf Plastik und reduzieren Autofahrten. Wer verzichtet, tut es zugunsten eines höheren Werts, aus gesundheitlichen Gründen, aus Solidarität mit leidenden Menschen und der bedrohten Schöpfung.
Wer so verzichtet, tut es aus Leidenschaft für das eigene und das Leben der anderen. Die positiven Wirkungen des Fastens sind unumstritten, eine ganze Gesundheitsindustrie lebt davon. Die frühen Christen wussten darum, dass das Fasten Leib und Seele wieder in Balance bringt, dass Fasten heilende Wirkung haben kann. Für Christen gehören der gesundheitliche und der spirituelle Aspekt zusammen. Es geht nicht um ein egoistisches Absolvieren einer religiösen Vorschrift, sondern – mit dem Propheten Jesaja
(Jes 58,3–8) gesprochen – um wache Aufmerksamkeit für den Dienst am Nächsten, durch Beten und Tun. Daher sollen wir kein finsteres Gesicht machen, uns kasteien, sondern der Verzicht soll aus innerer Freiheit geschehen, aus Freude an diesem großen Geschenk des Glaubens, erfahrbar in der Verwirklichung des höchsten Gebots: Liebe Gott und liebe deinen Nächsten wie dich selbst. Wir verzichten, damit wir feiner spüren, klarer denken, freier handeln.
Fastenbräuche gibt es in allen Religionen. Jesus fastet entsprechend seiner jüdischen Tradition. Er geht gestärkt daraus hervor, mutiger, gottverbundener. In seiner 40-tägigen Fastenzeit lernt er klarer zu unterscheiden, was das Herz zerstört und zu Hochmut verführt und was wirklich Gottes Stimme in seinem Innern ist (Mt 4,1–11).
Die Fastenpraxis hat sich im Laufe der Jahrhunderte sehr verändert. Veganes Essen, das heute so leicht als Lifestyle abgetan wird, gehört seit Jahrhunderten zur geübten Fastenpraxis auch in christlichen Traditionen. Insofern ist die Fastenzeit eine besondere „Trainingszeit“, wie sie auch Sportler, Musiker und Handwerker kennen. Wer übt, hofft. Das ist mit dem Wort „Askese“ gemeint (griechisch áskesis = Übung). Manchmal braucht es Geduld und einen langen Atem, wenn man enttäuscht über sich selbst oder einfach nur schlecht gelaunt ist. Der Mönch Antonius bezeichnete das Üben als eine „vergöttlichende Mühe“. Gott kommt dem Übenden entgegen. Daher betont unsere christliche Spiritualität das Ineinander von Bemühen und Gnade. Und vielleicht stellt sich so auch eine leise Herzensfreude ein. Jeder, der es mal geschafft hat, mit dem Rauchen, dem Alkohol oder dem Fleischessen aufzuhören, der weiß um die innere Freude, sich frei gemacht zu haben von dem, was so leicht zu haben ist.
Die Jugendlichen beim Jugendkorbiniansfest im November letzten Jahres haben es uns vorgelebt. Da wurde ausgelassen gefeiert, aber ohne Alkohol und mit veganem Essen. Verzicht aus Leidenschaft für mehr Leben. Bei dieser Askese kommt es nicht auf die Strenge an, vielmehr geht es darum, wieder in Einklang mit sich zu leben und die innere Ordnung wiederzufinden, um der Mensch zu sein, der wir wirklich sind. Das bringt innere Weite und Herzensfreude. Wir verzichten, um freier zu werden von allem, was uns durcheinanderbringt und uns von uns selbst und von Gott isoliert. Gebet, Stille und Meditation helfen dabei, wieder zur Besinnung zu kommen. Wer fastet, geht an der Not anderer nicht vorbei, sondern packt zum Beispiel Hilfspakete, spendet für Erdbebenopfer, hilft in der Nachbarschaft oder in der Familie, kocht Essen, hütet die Enkelkinder, ist einfach da und nimmt sich Zeit. Das ist ein Aspekt des Fastens.
Ich erlebe in unserer Gesellschaft viel Erschöpfung und Resignation und ebenso Angst und Aggression. Die Pandemie, der Krieg, das Erdbeben, der selbstverschuldete Klimawandel, das Artensterben, der Missbrauchsskandal in der Kirche, all das hinterlässt Spuren in unseren Seelen. In der geistlichen Begleitung höre ich von vielen Menschen, was sie traurig macht und schmerzt und was sie fassungslos und ratlos zurücklässt. Was bedeutet unter diesen Umständen Verzicht aus Leidenschaft? Ich habe in letzter Zeit viel darüber nachgedacht, und ich kenne auch in mir Stimmungen, in denen ich wütend bin und traurig über Machtmissbrauch, über so viel himmelschreiende Gewalt und Ungerechtigkeit auf dieser Welt. Was hat der Mensch in Gottes wunderbarer Schöpfung nicht alles zugrunde gerichtet? Doch Halt! Wir dürfen um Gottes und der Menschen willen in diesen dunklen und trostlosen Gedanken und Gefühlen nicht stecken bleiben. Könnte es nicht unsere Aufgabe sein, auf Hoffnungslosigkeit und Resignation zu verzichten, als Widerstand gegen alles Zerstörerische außen und innen in unseren Herzen?
Es klingt wie ein Weckruf, wenn ich Jesus zuhöre: „Erfüllt ist die Zeit, und nahe gekommen ist das Reich Gottes; denkt um und glaubt an das Evangelium.“ (Mk 1,15). Anstelle des wohlbekannten „kehrt um“ der Einheitsübersetzung gibt die Interlinearübersetzung Griechisch-Deutsch das Wort metanoeite des griechischen Urtexts in seiner eigentlichen wörtlichen Bedeutung wieder: „Denkt um!“ Hier sind Kopf und Herz gefragt. Hoffnung und Zuversicht brauchen Mut, Entschiedenheit und Umdenken. Das heißt Verzicht auf Aggression, auf Abwertung, auf Hass. Wo wir die Hoffnung aufgeben, wird die Welt zur Hölle. Wir schulden als Christinnen und Christen der Welt die Hoffnung und Zuversicht auf ein gottverbundendes, erfülltes Leben. Das hat nichts mit billiger Vertröstung zu tun, sondern mit Vertrauen und Zuversicht im Sinne Jesu. Ich wünsche Ihnen und uns allen eine gesegnete Fastenzeit: „Hoffnung lässt nicht zugrunde gehen, denn die Liebe Gottes ist ausgegossen in unsere Herzen durch den Heiligen Geist, der uns gegeben ist.“ (Röm 5,5)
(Dr. Gabriela Grunden, Mitglied der Communität IHS und Leiterin der Abteilung Spiritualität im Erzbischöflichen Ordinariat München)