Bildbetrachtungen
Den Blick vom Gewohnten lösen, Ungewohntes suchen, sich auf andere oder neue Sichtweisen einzulassen – das gehört zu den Anliegen, aber auch zu den Chancen der Fastenzeit. Jede Woche vor Ostern begleiten wir mit einem Bild, einer künstlerischen Haltestelle.

Jesus und Johannes wissen beim letzten Abendmahl, dass das Kreuz sie auseinanderreißen wird. Aber sie werden ihre Liebe zueinander behalten. In einer Geste ruhiger Zärtlichkeit zeigen sie, dass es etwas zwischen ihnen gibt, das bleibt. Sie haben sich die rechten Hände gereicht. Eine Geste, die im Mittelalter einen Ehebund rechtsgültig machte. Auch wenn sich die Hände und die Umarmung lösen, der andere nicht mehr unmittelbar und körperlich anwesend ist, besteht diese Beziehung weiter. Diese Christus-Johannes Gruppe steht in der ehemaligen Zisterzienserinnenabtei Heiligkreuzthal in Oberschwaben. Die Darstellung war vor allem in Frauenklöstern zu finden, die um 1300 Zentren und Schulen der Mystik waren. Johannes- Minne, also Johannes-Liebe, werden solche Figurenpaare manchmal genannt. Die Auftraggeberinnen hatten zu jeder gemeinsamen Gebetszeit und jedem Gottesdienst die Liebe zwischen Christus und den Menschen vor Augen, die nicht mehr verloren gehen kann. Das Werk zeigt die sanfte Zuwendung Gottes, der auf seine Überlegenheit verzichtet und den Menschen an seinem Herzen ruhen lässt.

Die Melancholie gilt als eines der am häufigsten gedeuteten Kunstwerke Europas. Doch die Erklärungen der Kunstwissenschaftler sind widersprüchlich. Albrecht Dürer könnte eine Depression dargestellt haben, zeigen, wie vergeblich alles Tun und alle Erkenntnis des Menschen sind. Trotzdem ihm Flügel gegeben sind, kann er sich nicht in den Himmel schwingen, weil er zu beschäftigt mit irdischen Dingen und Rätseln ist. Genauso könnte der Kupferstich aber auch vom Gegenteil erzählen: Die Sanduhr und die Glocke verheißen eine neue Zeit, einen Aufbruch, wie er sich im Strahlenkranz und im Regenbogen ankündigt, eine Epoche der Wissenschaft. Die Jagd nach neuen Erkenntnissen beginnt, wie sie der erwachende Windhund verkörpert. Der Mensch erhebt sich zu neuen Höhenflügen. Die gegensätzlichen Deutungen schließen sich nicht aus. Es könnte beides gemeint sein. In jedem Fall ist das Durchhalten wichtig: sich nicht von niederdrückenden Stimmungen überwältigen lassen und geduldig auf neue Aufbrüche hoffen, deren Zeichen schon zu sehen sind.

Manche Besucher der „Galerie neue Meister“ beschleunigen den Schritt, wenn sie dieses dreiteilige Gemälde sehen und sie sind froh, wenn sie den Saal hinter sich haben. „Der Krieg“ ist kein Bild zum Schwelgen, auch wenn es Otto Dix in altmeisterlicher Manier geschaffen hat. 1932 hat es der Künstler vollendet. Das Kunstwerk ist eine Erinnerung an seine Zeit im Ersten Weltkrieg. Dix war Maschinengewehrschütze und hat selbst mit angerichtet, was er im Mittelbild darstellt: von Kugeln zerfetzte Leiber. Im rechten Flügel ist das Gegenbild des grausamen Mordens zu sehen: Ein Mann, zieht einen Verwundeten aus dem Feuer, der sogar ein Feind sein könnte, in jedem Fall aber ist es eine geschundene Kreatur, die Hilfe braucht. In diesem Mann hat sich Otto Dix selbst porträtiert, der sein Verhalten radikal verändert und von sich selbst ein neues menschliches und mutiges Verhalten fordert. Das bewiesen auch seine Freunde in Dresden: Sie versteckten das monumentale Werk vor den Nationalsozialisten und haben es sogar vor der Vernichtung im Bombenkrieg bewahrt.

Er wollte sich freihalten von den Streitigkeiten und Gemeinheiten der Welt und freihalten für Gott. Symeon Stylitis d. Ä. soll 37 Jahre auf einer Säule gelebt haben, um dem Himmel möglichst nahe zu sein. Das rührend naive Basaltrelief aus dem Berliner Bode-Museum zeigt, wie ein Mönch seine Leiter an die Säule lehnt. Er hält einen Korb in der rechten Hand, um seinem Ordensbruder Symeon etwas zu essen zu bringen. Der lebt zwar in engster Gemeinschaft mit dem Heiligen Geist, die Taube an seinem Kopf zeigt es, aber auch ein extremer Asket braucht Nahrung, und sei es noch so wenig. Er braucht den kleinen Brotlieferanten, um seine außerordentliche und sogar befremdliche scheinende Spiritualität zu leben, um sich entschlossen fern- und freizuhalten von dieser Welt. Eine Unabhängigkeit, die für diese Welt aber wichtig sein kann. Symeon war jedenfalls ein vielgesuchter Gesprächspartner. Kaiser Theodosius II. soll persönlich zu dem Heiligen hinaufgestiegen sein, um sich dessen unparteiischen Rat zu holen, der sich auf seiner Säule Tag und Nacht der Witterung aussetzte und betete.

Es ist ein Kunstwerk, das mehr Menschen einatmen als anschauen, denn es sorgt für bessere Luft. Es verschwindet in der Stadt und prägt sie gleichzeitig an den unterschiedlichsten Stellen. Es lässt sich nicht transportieren und schon gar nicht verkaufen, entzieht sich der üblichen Wirtschaftslogik, die auch im Kunstmarkt enorme finanzielle Gewinne verspricht. 1982 hat Joseph Beuys auf der documenta 7 ein Kunstwerk vorgestellt, das bis heute weiterwächst: Er wollte 7.000 Eichen in Kassel pflanzen. Jeder Baum ein Zeichen des Lebens in einer Welt, in der nur das Wirtschaftswachstum zählt, das die Natur verzehrt. Neben jede neu gepflanzte Eiche ließ Beuys einen etwa einen Meter hohen Basaltstein stellen. Als Wächter aber auch als Mahner. Sie erinnern an die Urkräfte der Erde, die Leben hervorbringen, aber auch erstarren können. Die 7.000 Eichen waren schneller gepflanzt, als Beuys erwartet hatte. Jeder Baum ist ein Erinnerungszeichen an die Menschen, der Schöpfung Platz zu lassen, maßzuhalten, um das eigene Überleben nicht zu gefährden.

Der Maler Jan Vermeer hält das Tun des dargestellten Mannes unvermittelt an. Der Geograph lässt das Vermessen, das Ausrechnen und Berechnen der Welt plötzlich sein. Es ist, als ob er spürte, dass allein damit die Welt nicht zu erklären ist. Er wendet den Blick dahin, woher das Licht kommt, das auf ihn und sein ganzes Tun fällt. Ohne dieses Licht von außen, könnte er seine Aufgabe gar nicht erfüllen. Er lässt seinen Zirkel nicht fallen, hält ihn aber einen Moment lang leichter in der Hand. Der Geograph blickt in die Welt hinaus, mit der er sich zu befassen hat, aber er scheint auch über diese Welt hinaus zu blicken. Jan Vermeer ist ein Weltstar unter den Alten Meistern. Ausstellungen mit seinen Bildern sind Publikumsmagnete. Nur 37 Bilder sind von ihm bekannt. Auf vielen stellt er Menschen dar, die wie der Astronom vor einem Fenster zu ihrer Rechten stehen oder sitzen. Und die Kunst Vermeers zeigt sie nicht nur be-, sondern auch erleuchtet.