Schwebezustand auf dem Domberg
Winter, das ist Lichthungerzeit. Wie überall, wird es ab Dezember auch
in Freising bereits am Nachmittag finster. Im Diözesanmuseum oben auf
dem Domberg brennt schon Licht. Allein das tut an diesem regennassen Tag
gut. Außerdem ist es ein gutes Ziel für eine Erfahrung, im wahrsten
Wortsinn für eine Erleuchtung, die sonst nur wenige Museen zu bieten
haben: Seit seiner Wiedereröffnung besitzt das grundlegend umgestaltete
Haus ein Kunstwerk von James Turrell. Einen Titel trägt es nicht. Das
würde auch nicht passen, weil es nichts illustrieren oder erzählen will,
es ist kein Gemälde und keine Skulptur. Am ehesten eine Installation,
die in einem genau ausgeklügelten Raum mit farbigem Licht, dem Sehsinn
und dem Körper des Betrachters arbeitet. Ganzfeld nennt James Turrell
diese von ihm entwickelten Kunstwerke, die auf die Netzhaut und von dort
unter die Haut gehen. Der amerikanische Künstler benutzt tatsächlich
dieses deutsche Wort für seine Arbeiten, in denen der Betrachter die
Tiefenwahrnehmung verliert und den Eindruck gewinnt, sich im
Grenzenlosen zu bewegen. In Freising hat er seinen neuesten Ganzfeldraum
in einer ehemaligen Kapelle unterbringen können.
Das Museum war lange Zeit ein Knabenseminar mit Internat. In diese
Kapelle haben kleine Buben ihr Heimweh getragen, Trost nach schlechten
Noten gefunden, fast erwachsene junge Männer darum gerungen, ob sie
Priester werden sollen. Es ist ein besonderer, „durchgebeteter“ Raum,
auch wenn er schon seit Jahrzehnten keine Gottesdienste mehr gesehen
hat.
Durch James Turrell ist er wieder zu einem spirituellen
Ort geworden, zu einer Kapelle für das 21. Jahrhundert. Schon am Eingang
des Museums ist das zu spüren. Die wechselnden Licht- und
Farbstimmungen sind von dort aus zu sehen, zwingen den Blick auf sich.
Gerade strahlt ein zartes Blau aus der Kapelle, später wird es sich in
einen kräftigen Rotton verwandeln. Fast jeder eintretende Besucher
steuert wie magnetisch angezogen auf diese ovale Lichtfläche zu und
steigt die ersten Stufen zu der etwas erhöht liegen Kapelle hinauf. Eine
Kordel sperrt den Zugang in den Innenraum ab. Wer hinein will, kann das
nur zu bestimmten Zeiten. Christoph Schalasky händigt ein paar weiße
Gamaschen aus, die jeder Gast über seine Schuhe ziehen muss, um
Verschmutzungen des Ganzfeldes zu vermeiden. Außerdem muss der
Haustechniker die Besucher einweisen. „Für das Museumspersonal ist das
ein sehr arbeitsintensiver Raum“, sagt er. Hinter der Kordel befindet
sich eine weitere kleine Treppe, die schon im künstlichen Licht der
Kapelle liegt. Schalasky macht darauf aufmerksam, dass die Treppe nicht
mit Geländern gesichert ist und links und rechts davon Hohlräume liegen,
in die der Besucher hineinstürzen kann, wenn er nicht aufpasst.
Besonders beim Verlassen des Raumes, der eine veränderte
Sinneswahrnehmung hervorruft. „Wenn die Leute gut zuhören und sich an
die Anweisungen halten, passiert nichts.“ Aber nicht alle sind
geduldig, wollen sich nur schnell umschauen und kommen dann ins
Stolpern. Schalasky oder einer seiner Kollegen ist immer dabei, damit
niemand stürzt oder sie bieten ihren Arm zum Festhalten an.
James Turrell erzwingt bereits beim Betreten der ehemaligen Kapelle
Konzentration und Achtsamkeit, widersetzt sich der Flüchtigkeit mit der
sonst Museumsbesucher Kunstwerke kurz anschauen, gleich wieder vergessen
und schon gar nicht erleben. Er zielt eine über die Sinne vermittelte
spirituelle Erfahrung an, und die ist nicht ohne Anstrengung zu haben.
Die
fünf auf zwölf Meter große Kapelle ist ganz in Weiß gehalten. Von einer
kreisförmigen Vertiefung mit etwa einem Meter Durchmesser gehen sich
langsam verwandelnde farbige Lichtimpulse aus. Der elliptische Rundbogen
am Eingang ist von kraftvoll leuchtenden Neonröhren eingefasst. Auf
einer schmalen Bank kann sich der Besucher niederlassen. Nach wenigen
Minuten tritt der Effekt ein, der einem den Begriff Ganzfeld regelrecht
vor Augen führt. Raumkanten und Mauern, räumliche Begrenzungen scheinen
sich aufzulösen. Wer aufsteht, gewinnt das Gefühl zu schweben, auf einer
rosa Wolke, oder einer blauen, oder einer grünen. Der Künstler spielt
mit optischen und wahrnehmungspsychologischen Gesetzen. Der aus einer
strenggläubigen Quäkerfamilie stammende Turrell lässt aber immer eine
spirituelle Botschaft mitschwingen: die Begegnung mit dem Licht
verwandelt, es löst oder erlöst von Raum und Zeit. Unterhalten sich
Besucher vor der ehemaligen, klingen ihre Stimmen entfernter als sie es
tatsächlich sind. Wer sich dem Ganzfeld aussetzt, sich dort innerlich
fallen lässt, schaut nach einer halben Stunde irritiert auf die Uhr,
denn es scheinen nur wenige Minuten vergangen zu sein.
James Turrell will den Betrachter das Unendliche schmecken lassen, das
Unsichtbare sichtbar machen. Oft bezieht er sich auf den Mystiker
Meister Eckhart, der Erfahrungen beschreibt, in denen er beglückt spürt,
wie außen und innen verschmelzen und er Gott nahekommt. Oft beschreibt
er ihn als unbegrenztes Licht, in das der Schöpfer sein begrenztes
Geschöpf hineinnimmt. Von dieser Sehnsucht erzählen fast alle Kunstwerke
im Freisinger Diözesanmuseum: wie Menschen in einer endlichen Welt eine
Überwelt ahnen, sie darstellen und sich damit aneignen wollen.
Direkt
gegenüber vom Werk Turrells haben die Kuratoren in einer Blickachse das
sogenannte Lukasbild aufgestellt. Es ist eine einzigartige Marienikone
aus Byzanz, die mit ihrem Goldgrund verkündet, wie durch die
Muttergottes mit Christus das Licht in die Welt gekommen ist. Ein über
1000 Jahre altes Andachtsbild, dem Turrell mit einem Andachts- und
Gottesbild aus der Gegenwart antwortet. Es ist ungegenständlich und
nutzt die technischen Möglichkeiten, die einem Künstler von heute zur
Verfügung stehen, denn ohne moderne und spezielle Leuchtmittel bliebe es
in der Freisinger Kapelle dunkel. Und die Besucher wären nicht nur um
ein Kunstwerk, sondern auch um eine ungewöhnliche geistliche Erfahrung
ärmer. Als das Diözesanmuseum zusperrt, ist es schon ganz finster. Das
Licht des Ganzfeldes leuchtet durch die Glastür noch ein paar Minuten
nach draußen. Der Besucher darf es mitnehmen.
Öffnungszeiten
Das Diözesanmuseum ist dienstags bis sonntags von 10.00 bis 18.00 Uhr
geöffnet. Die Installation von James Turrel ist in dieser Zeit immer von
11.00 bis 12.00 Uhr und von 14.00 bis 15.00 Uhr begehbar. Am 24., 25.
und 31. 12. ist das Haus geschlossen, am 26.12. und am 01.01. geöffnet.