Glaubenswelten
17.01.2025

Sebastian – Volksheiliger und queere Ikone

Volksheiliger und Patron der queeren Community: Kaum ein Heiliger ist so wandlungsfähig wie der heilige Sebastian. Wie lässt sich die Popularität des Märtyrers, über dessen Leben kaum etwas bekannt ist, erklären? Eine Spurensuche.

Foto: © IMAGO/H. Tschanz-Hofmann

Der Gedenktag des heiligen Sebastian am 20. Januar ist in vielen Gemeinden immer noch ein großer Feiertag. Denn ein großes Brauchtum ist mit diesem Heiligen, über dessen Leben wir nicht einmal viel wissen, verbunden. Und bis in die aktuelle Zeit hinein taucht Sebastian in unterschiedlicher Gestalt und in verschiedenen Kontexten immer wieder auf. Eine bedeutende Persönlichkeit und ein wichtiger Volksheiliger! Und vor allem: Ein Mensch, der eine lange Spur hinterlassen hat, die man nur anfanghaft und holzschnittartig nachverfolgen kann. Aber es lohnt sich, dem heiligen Sebastian einmal nachzugehen.


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Sebastians unbekannte Herkunft: Was wir wirklich über den Märtyrer wissen

Zunächst das Enttäuschende: Über das Leben des heiligen Sebastian wissen wir so gut wie gar nichts. Nicht einmal der Name „Sebastian“ ist wirklich gesichert. Wann und wie er gelebt hat, lässt sich nur ungefähr erahnen. Er soll in der Zeit der Christenverfolgung im Römischen Reich als Offizier in der kaiserlichen Garde tätig gewesen sein. In der zweiten Hälfte des dritten Jahrhunderts hat er wohl das Martyrium erlitten. Ein genaues Todesjahr ist nicht auszumachen, es schwankt zwischen 288 und 296 nach Christus.

Der Legende nach war Sebastian, dessen Name „dem Kaiser zugehörig“ bedeutet, in Mailand aufgewachsen und dann Offizier geworden. Weil Sebastian sich öffentlich zum christlichen Glauben bekannte und auch anderen Christen, die in Not waren, half, wurde er von Kaiser Diokletian zum Tod verurteilt. Sein Martyrium war äußerst grausam: Er wurde an einer Säule festgebunden und von Bogenschützen erschossen. Die Legende erzählt allerdings weiter, dass Sebastian nicht tot war, sondern von einer Witwe gesundgepflegt wurde. Anschließend gibt er zum Kaiser, um erneut seinen christlichen Glauben zu bekennen. Doch auch dieses Mal wurde Sebastian wieder gefangengenommen und mit Keulen erschlagen.

Die Grabstätte von Sebastian soll sich in der Katakombe San Sebastiano an der Via Appia befunden haben. Schon im vierten Jahrhundert wird an diesem Ort eine Kirche errichtet, weil man dort das Grab von Sebastian vermutet hat. Und schon im ausgehenden vierten Jahrhundert wird davon berichtet, dass Pilger zu dieser Kirche kamen, und dort Sebastian verehrten. Im Lauf der Jahrhunderte nahm die Verehrung des heiligen Sebastian immer weiter zu, sodass man ihn sogar als einen der Stadtpatrone Roms anrief. Heute ist die Kirche San Sebastiano fuori le mura eine der sieben Pilgerkirchen Roms.

Doch wie wurde der Märtyrer Sebastian, um dessen Leben sich nicht mehr als einige Legenden ranken, nun zu einem der beliebtesten und umstrittensten Heiligen in der Kirche? Die Mainzer Theologen Stephanie Höllinger und Stephan Goertz haben in ihrem Buch “Sebastian. Märtyrer, Pestheiliger, queere Ikone“ das Leben des Heiligen einmal genauer unter die Lupe genommen. Zum Aufstieg des römischen Märtyrers hält Stephanie Höllinger fest: „Der heilige Sebastian ist ein Spätzünder. Obwohl er schon im 4. Jahrhundert an seiner Grabstätte nach der Via Appia verehrt wird, sein Gedenktag bereits im Jahr 354 erste Erwähnung in den Kalendern findet und seine Gebeine um 680 zu einem wichtigen Zeichen für die Allianz zwischen Rom und Pavia werden, gibt sein Anfang noch nichts von jener Popularität preis, die Sebastian in der Renaissance erfahren wird.“ Denn es dauert bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts bis Sebastian auch in der christlichen Kunst einen Durchbruch erfährt.

Schutzpatron in Krisenzeiten: Wie die Pest Sebastian zum Volksheiligen machte

Was war geschehen? Europa war um 1350 von der großen Seuche der Pest erschüttert. Unzählige Menschen sind der Pest zum Opfer gefallen. Medikamente, um die Krankheit zu behandeln, gab es keine. Auch die Methoden, um sich vor der Ansteckung zu schützen, waren im Wesentlichen unzureichend. Vor der Pest war niemand sicher. Ob arm, ob reich, ob jung, ob alt: Niemand war vor dem „schwarzen Tod“ wirklich sicher. Und gerade in dieser erschütterten Zeit suchen die Menschen Schutz im Glauben. Und sie finden ihn in einem Heiligen: Sebastian, der selbst die Wunden an seinem Körper trug, wurde zum Vorbild für so viele Menschen, deren Körper mit Pestwunden übersät war.

Zusammen mit dem heiligen Rochus wird Sebastian in dieser Epoche zu einem der beliebtesten Heiligen in der großen Schar der Heiligen der römischen Kirche. So viele Menschen können sich während der Pest mit dem gemarterten und verwundeten Leib des Sebastian identifizieren. Und so viele hoffen, dass sie dasselbe Schicksal wie Sebastian teilen: Dass ihnen die äußerlich zugefügten Wunden nichts anhaben können, weil der Schutz und die Bewahrung durch die göttliche Hilfe viel größer sind. Weil sie hoffen und glauben, auch in der größten Not vor der schrecklichen Krankheit bewahrt zu werden. „Erst eine Krise hebt Sebastian von der Masse ab. Und der Name dieser Krise lautet Pestilenz. Dabei ist es wohl gerade seine schillernde Gestalt, die ihm zu diesem großen Auftrieb verhilft: Sebastian steht für Niederlage wie für Triumph, ist Gemarterter wie Unversehrter zugleich“, so die Theologin Stephanie Höllinger.

Queere Ikone: Sebastian als Symbol für Schmerz, Schönheit und Identität

Die Wirkungsgeschichte des heiligen Sebastian endet aber nicht mit dem Ende der Pest in Europa. Sie geht weiter und erhält immer neuen Aufschwung. Auch die Darstellung des Heiligen verändert sich zunehmend: Wurde Sebastian zunächst noch als römischer Soldat dargestellt, wird sein Aussehen zunehmend anmutiger. Als Wendepunkt in der Rezeption macht der Mainzer Moraltheologe Stephan Goertz Graf August von Platen aus, der den heiligen Sebastian als gekonnte Mischung aus Schmerz und Schönheit betrachtete: „Auf der einen Seite weckt seine Schönheit erotisches Interesse, auf der anderen Seite bietet sein Schmerz hohes Identifikationspotential für jene, die an der Missachtung ihrer Sexualität leiden.“ Sebastian wirke daher wie ein gefesselter Mensch, der seine wahre Identität nicht ausleben kann, sondern zeitlebens unter seinen Fesseln leidet.

Später wird auch ein anderer bedeutender Name mit Sebastian eine innige Verbindung eingehen: der irische Schriftsteller Oscar Wilde. Goertz bemerkt dazu: „Oscar Wilde tarnt und offenbart sich mit dem Namen Sebastian, seinem Lieblingsheiligen, der sich am Ende des 19. Jahrhunderts in der queeren Subkultur zu mehr als einem gewöhnlichen Heiligen entwickelt.“ Der Name Sebastian steht fortan in der queeren Szene als geheimer Code für die eigene Geschlechtsidentität.

Von der Pest bis HIV: Die zeitlose Botschaft des heiligen Sebastian

Auch in der 1980er Jahren hält die Identifikation mit dem heiligen Sebastian an. Sie erfolgt hierbei durch Menschen, die sich mit HIV bzw. AIDS infiziert haben. So, wie der heilige Sebastian in der Zeit der Pest angerufen und um seinen himmlischen Beistand gebeten wurde, so wird er nun wieder zum Fürsprecher für jene homosexuellen Menschen, die unter gesellschaftlicher Ausgrenzung leiden. Sebastian wird zur Ikone für jene, die diskriminiert werden – und damit sind wir mittendrin in der Legende des heiligen Sebastian: Denn er ist doch selbst einer, der aufgrund seines christlichen Glaubens ausgegrenzt und verfolgt wird. Er ist doch selbst einer, der Wundmale an seinem Körper trägt, weil er Diskriminierung erlebt. So wird er zum Vorbild für viele, denen es ebenso geht. Und zugleich etabliert er sich als Hoffnungsfigur. Denn sein Leben zeigt ja: Nicht Verfolgung und Ausgrenzung haben das letzte Wort. Sondern das Leben und die Liebe überdauern sämtliche Widrigkeiten des irdischen Lebens.

An der Gestalt des heiligen Sebastian zeigt sich, wie sich Heiligenverehrung wandelt und verwandelt. Er, über dessen Person eigentlich gar nichts bekannt ist, wird zur Identifikationsfigur für die unterschiedlichsten Themen. Und bis heute wird Sebastian in vielen Pfarreien und Gemeinden verehrt und hochgeschätzt. Was kann er uns heute sagen? Vielleicht doch das: Bei aller Verwundung und Verletzung, die wir Menschen manchmal mit uns tragen, gibt es doch Hoffnung auf Heilung, auf Leben und Liebe. Diese Botschaft besitzt durch die Jahrhunderte hindurch Gültigkeit.

Zum Weiterlesen

Stephanie Höllinger/Stephan Goertz:
Sebastian. Märtyrer, Pestheiliger, queere Ikone.
Freiburg i. Br. 2023, Verlag Herder, 240 Seiten, 30,00 Euro.

Fabian Brand
Artikel von Fabian Brand
Autor
Fabian Brand hat katholische Theologie in Würzburg und Jerusalem studiert. Neben wissenschaftlichen Publikationen schreibt der habilitierte Theologe auch Bücher aus dem Bereich Pastoral und Spiritualität. Fabian Brand ist regelmäßig mit Vorträgen zu Theologie und Brauchtum im ganzen Land unterwegs.