Melanie Wolfers - Was die Zuversicht nährt
Kaum etwas spendet mehr Zuversicht und stiftet so viel Sinn und Halt
wie Spiritualität und Glaube! Viele erfahren eine spirituell geübte
Aufmerksamkeit als Kraftquelle. Insbesondere in Krisenzeiten erleben sie
es als heilsam, sich immer wieder auf die Gegenwart zu konzentrieren:
den Duft eines geliebten Menschen einatmen, die Sterne betrachten, den
Geschmack eines knusprigen Brotes genießen, in die Stille eintauchen.
Während in schweren Zeiten der Blick in die Zukunft mit Sorgen erfüllt, holt einen die Präsenz im Augenblick aus der Grübelschleife heraus. Manchmal blitzt in solchen Augenblicken das Wunder des schlichten Da-seins auf: die staunenswerte Tatsache, dass ich gerade jetzt am Leben bin, und welch großes Geschenk das Lebendigsein darstellt. Und wer präsent ist, ahnt bisweilen, in der Gegenwart von etwas Größerem zu sein; im göttlichen Jetzt. „Der Augenblick ist das Gewand Gottes“, formuliert der jüdische Religionsphilosoph Martin Buber.
Darin liegt eine spirituelle Grunderfahrung, die viele Religionen
miteinander verbindet, die aber auch zahlreiche Menschen machen, die
sich keiner Religion zugehörig fühlen: Ich spüre, in diesem Universum
nicht
allein auf mich gestellt zu sein, sondern weiß mich verbunden mit einem
großen Ganzen. Ich bin eingebettet in einen Zusammenhang, der über
alles Begrenzte hinausreicht. Ich lebe in einer unsichtbaren Ordnung,
deren Mitte nicht ich selbst bin. Und ich kann einen unermesslichen Sinn
erfahren, wenn ich mit dieser Mitte in Verbindung stehe.
Natürlich: Eine solche Resonanz-Erfahrung lässt sich kaum in Worte
fassen! Die christliche Tradition glaubt, dass der göttliche
Zusammenhang, in den wir eingebettet sind, „Liebe“ heißt. Dass diese
Liebe ansprechbar ist. Und dass wir von der Liebe Angesprochene sind.
Wir also mit Gott auf Du und Du stehen.
So verschieden die
religiöse Grunderfahrung auch benannt wird, sie kann deutlich machen:
Unser Dasein ist letztlich ein Geschenk. Leben, Atmen und Fühlen sind
alles andere als selbstverständlich! Geht einem dies auf – und zwar
nicht nur intellektuell, sondern auch emotional und existenziell –,
kann dies ein wirklich tiefes Empfinden von Hoffnung und Zuversicht
wachrufen.
Es ist bemerkenswert, dass die Bibel in der Hoffnung ein Kennzeichen und Unterscheidungsmerkmal des christlichen Glaubens sieht. Was meint christliche Hoffnung? Und wie verändert sie den Umgang mit Krisen?
Der christlichen Hoffnung wird oft unterstellt, dass sie wie ein
Tranquilizer eingesetzt wird, um Angst oder Kummer zu betäuben oder um
die Hände in den Schoß zu legen. Und in der Tat: Sie kann auf diese
Weise missbraucht werden, und die Geschichte hält genügend Beispiele
dafür parat. Doch recht verstanden setzt die christliche Hoffnung den
entgegengesetzten Impuls frei! Drei Hinweise dazu: Als Erstes zeigt ein
Blick in die Bibel, dass die christliche Hoffnung kein billiges
Trostpflaster auf die Wunden der Welt klebt. Vielmehr hat sie den
Schmerz des Lebens und die Ohnmacht des Sterbens ungeschminkt vor Augen.
Ja, selbst das letzte Wort jenes Menschen, von dem die Christinnen und
Christen glauben, dass er in tiefster Verbundenheit mit Gott gelebt
hat, ist ein markerschütternder Schrei zum Himmel: „Mein Gott, warum
hast du mich verlassen?“, ruft Jesus in der Dunkelheit seines Sterbens.
(Markus 15,34)
Zugleich drückt die Bibel in ver-schiedenen
Bildern die Hoffnung auf Auferstehung, auf ein „Leben in Fülle“, ein
„Leben in Gott“ aus. Wie diese Wirklichkeit aussieht, weiß niemand, und
alle Bilder bleiben vage Versuche, diese Hoffnung auszudrücken. Doch
dass unser endliches Leben mit seiner Schönheit und seinem Schrecken im
Unendlichen geborgen ist – darin kommen die biblischen Bilder überein.
Und darin findet der christliche Glaube seine Mitte. Eine solche
Hoffnung wirkt wie ein Licht, das hilft, sich der ängstigenden
Dunkelheit zu stellen, und das einen neuen Morgen verspricht.
Drittens: Die Hoffnung auf Auferstehung bietet keinen Weg an, Not und Ausweglosigkeit, Leiden und Sterben theoretisch zu verstehen. Sie kann aber einen Weg eröffnen, diese zu bestehen – und das vor allem in solidarischer Sorge um diejenigen, die um ihr Leben betrogen werden und vom Leid am meisten betroffen sind. Denn aus christlicher Perspektive ist Solidarität der menschlichste Ausdruck des Glaubens. Darauf macht Jesus mit seiner überraschenden Erzählung aufmerksam, worauf es am Lebensende ankommt: Es wird nicht gefragt, welche Glaubenssätze man im Kopf, sondern ob man für andere ein Herz hatte. (vgl. Matthäus 25,31–46) Es wird nicht gefragt, zu welcher Religion oder Kultur man gehört, sondern ob man sich als Mitglied der einen universalen Menschheitsfamilie verstanden und entsprechend gelebt hat. Die christliche Hoffnung geht mit der Weigerung einher, Leid und Unrecht als schicksalhaftes „So ist es eben und so war es immer“ hinzunehmen. Sie wirkt wie ein Anti-Resignativum, das vor Bequemlichkeit oder falscher Gelassenheit bewahrt.
Das bewusste Atmen kann einen einfachen Zugang eröffnen, um sich mit dem Großen und Ganzen verbunden zu fühlen. Denn die Atmung schafft die Verbindung zwischen außen und innen; sie geschieht wie von selbst und erinnert uns daran, dass wir Teil des Lebens sind – und unser Dasein ein Geschenk. Nehmen Sie für diese Wahrnehmungsübung eine bequeme und aufrechte Sitzhaltung ein. Atmen Sie einige Male tief ein und aus und lassen Sie dann den Atem in seinem Rhythmus kommen und gehen. Kontrollieren Sie Ihren Atem nicht. Mischen Sie sich nicht ein. Nehmen Sie ihn wahr. Kehren sie jedes Mal zu Ihrem Atem zurück, wenn Ihre Gedanken auf Wanderschaft gehen, und beobachten Sie, wie er ohne Ihr Zutun ein- und ausströmt. Beenden Sie diese Wahrnehmungsübung nach zehn bis fünfzehn Minuten. Auf den indischen Jesuiten Anthony de Mello geht folgende religiöse Übung zurück: Während ich einatme, stelle ich mir vor, wie Gottes Geist in mich eintritt … Wie ich meine Lungen mit der göttlichen Energie fülle … Während ich ausatme, stelle ich mir vor, dass ich alle meine Ungereimtheiten ausatme … Meine Ängste; meine negativen Gefühle … Ich stelle mir vor, wie mein ganzer Körper immer leuchtender und lebendiger wird, weil ich Gottes lebensspendenden Geist einatme und alles Dunkel ausatme …
Ein College-Professor ließ seine Soziologiestudenten in die Slums von
Baltimore gehen, um Fallgeschichten über zweihundert Jugendliche zu
sammeln. Sie wurden gebeten, eine Bewertung über die Zukunft eines jeden
Jungen zu schreiben. In jedem Fall schrieben die Studenten: ,Er hat
keine Chance.‘ Fünfundzwanzig Jahre später stieß ein anderer
Soziologieprofessor auf die frühere Studie. Er ließ seine Studenten das
Projekt nachvollziehen, um zu sehen, was mit diesen Jungen passiert war.
Mit Ausnahme von zwanzig Jungen, die weggezogen oder gestorben waren,
erfuhren die Studenten, dass 176 der verbliebenen 180 einen mehr als
ungewöhnlichen Erfolg als Anwälte, Doktoren und Geschäftsleute erlangt
hatten.
Der Professor war überrascht und beschloss, die Angelegenheit weiterzuverfolgen. Glücklicherweise lebten alle Männer in der Nähe, und er konnte jeden Einzelnen fragen: ,Wie erklären Sie sich Ihren Erfolg?‘ Jeder von ihnen antwortete: ,Es gab eine Lehrerin.‘ Die Lehrerin war noch am Leben, also machte er sie ausfindig und fragte die (...) Dame, welche magische Formel sie benutzt habe, um diese Jungen aus den Slums herauszureißen, hinein in erfolgreiche Leistungen. Die Augen der Lehrerin funkelten, und auf ihren Lippen erschien ein leises Lächeln. ,Es war wirklich ganz einfach‘, sagte sie. Ich liebte diese Jungen.“
Von dieser Studie habe ich vor vielen Jahren gelesen, und sie geht
mir nicht aus dem Kopf. Auf beeindruckende Weise zeigt sie: In der
liebenden Anerkennung, die Menschen einander entgegenbringen können,
liegt eine kreative Kraft! In der Hoffnung, die sie für andere hegen,
liegt ein schöpferisches Potenzial.
Indem die Lehrerin die Fähigkeiten ihrer Schüler vorausschauend anerkannte, ermöglichte sie diesen zu zeigen, was in ihnen steckt. Sie konnten entfalten, was sie noch nicht sind. Darin liegt die bedeutendste Wert-Schöpfung, zu der wir Menschen fähig sind! Vertraut uns eine Person und traut sie uns etwas zu, dann festigt dies unser Vertrauen in uns selbst und unsere Fähigkeiten. Gerade in Krisen – wenn sich das Selbstvertrauen so groß anfühlt wie ein Zwerg mit Hut –, tut es unendlich gut, wenn man erfährt: „Da glaubt jemand an mich und daran, dass ich die Situation bewältigen kann!“ Ein solches Zutrauen legt Kräfte und Entwicklungsmöglichkeiten frei und stärkt unsere Zuversicht.
Ich
persönlich erinnere mich an lange, dunkle Monate. Wie wohltuend wirkte
es, dass es Menschen an meiner Seite gab, die an mich geglaubt haben.
Und die stellvertretend für mich gehofft haben, dass es einen neuen
Morgen geben wird. Natürlich lassen sich solche Begegnungen nicht
herstellen oder einfordern! Sie sind ein Geschenk. Doch wir können uns
Zeit nehmen, um tragfähige Beziehungen zu pflegen. Und darauf achten,
mit welchen Menschen wir engere Beziehungen pflegen wollen – und mit
welchen nicht. Vor allem aber lässt sich selbst der Anfang machen,
anderen in dieser wertschöpferischen Weise zu begegnen. Ihnen Zuwendung
und Zeit schenken; das Schöne und Große in ihnen vorausahnend entdecken
und anerkennen; „herauslieben“ – und übrigens ganz nebenbei aus der
Begegnung selbst gestärkt herausgehen.
Da sein für andere
Eine
weitere Quelle, aus der Zuversicht und Hoffnung entspringen, ist das
Vertrauen in andere Menschen; die Erfahrung, auf andere bauen zu können.
Insbesondere wenn in Krisen der Boden ins Wanken gerät, kann eine
tragfähige Beziehung Halt geben. Und wenn es hart auf hart kommt, setzt
das Wissen, getragen zu sein, Zuversicht frei. Ja, hoffen kann man
letztlich nicht für sich allein!
Vielleicht kennen Sie das
auch: Sind Sie mit einer Person zusammen, der Sie vertrauen, verringert
sich Ihre Angst, und Sie fühlen sich zuversichtlicher. Ganz deutlich
erlebe ich dies etwa beim Bergsteigen: Eine erfahrene Bergführerin
weckt in mir mit gutem Grund Zutrauen – und zwar in sie und in mich
selbst,
dass ich die ausgesetzten Kletter-Passagen bewältigen werde.
Ihre Nähe, ihr rückenstärkender Blick und das sichernde Seil geben
genügend Sicherheit, um den nächsten Schritt zu wagen.
Das
„Internationale Forschungsnetzwerk des Hoffnungsbarometers“ belegt
eindrücklich die zentrale Rolle von Beziehungen für ein hoffnungsvolles
Gestimmtsein: Über zehn Jahre hinweg haben Tausende Studienteilnehmer
gute Beziehungen zur Familie und zu Freunden als die wichtigste Quelle
von Hoffnung und Zuversicht genannt. Und, damit verbunden, die eigene
Hilfsbereitschaft. In Krisenzeiten liegt die Gefahr einer Nabelschau
besonders nahe. Doch wer sich ständig selbst beobachtet und die eigenen
Bedürfnisse und Sorgen wie mit einem Vergrößerungsglas betrachtet,
dessen Nöte wachsen und wuchern.
Wenn wir über unseren Tellerrand
hinaus auf andere Menschen blicken, so wird unsere Zuversicht gestärkt.
Wenn wir ein Stück Distanz von uns gewinnen, indem wir uns
beispielsweise fragen: Was kann ich trotz meiner schwierigen Lage für
andere tun? Wie kann ich sie unterstützen oder ihnen eine Freude
bereiten?
Im Dasein für andere befreien wir uns – zumindest
ein Stück – vom krisenhaften Empfinden, hilflos, unfähig, überfordert,
„deppert“ oder Ähnliches zu sein. Wir erleben, dass wir Gutes bewirken
können; dass
wir etwas tun können, was für andere von Bedeutung ist.
– All das löst ein tiefes Gefühl von Zufriedenheit aus. Es stärkt unser
Sinnerleben und unsere Zuversicht.
Praxistipp
Vielleicht mögen Sie in einer ruhigen Stunde darüber nachdenken: Wem
konnte ich in Zeiten der Not Begleitung und Stütze sein? Und wer hat
mir in Krisenzeiten Vertrauen und Zuversicht eingeflößt? Wer war für
mich wie ein Engel? Wer hofft heute auf meine Aufmerksamkeit und
Zuwendung? Und wer sind die zwei oder drei Personen, auf die ich mich in
Krisen stützen kann?
Ein Matrose, der schon seit vielen Jahren taubstumm war, ging mit ein
paar Freunden in ein Londoner Theater. Dort gastierte ein berühmter
Clown: Joseph Grimaldi. Sie setzten sich in die erste Reihe der Galerie.
Was dann geschah, schildert Charles Dickens in seinem Buch „Der Clown
Grimaldi“ folgendermaßen: Der Clown war an diesem Abend in Hochform. Das
Publikum brüllte vor Lachen. Doch keiner hatte mehr Spaß als jener
taubstumme Mann. Einer seiner Freunde, der sich mit ihm gut in der
Gebärdensprache verständigen konnte, fragte ihn, wie ihm der Clown
gefalle. Der Matrose antwortete ebenfalls mit Gesten: Ich habe noch nie
so etwas Komisches gesehen! Dann rief er plötzlich voller Freude: „Ist
das ein Kerl! Ist das ein Kerl!“
Wie ein Lauffeuer verbreitete sich die Nachricht, dass Joe Grimaldi
durch sein Spiel einem Taubstummen Gehör und Sprache wiedergegeben habe.
Der bislang Taubstumme erzählte, der Clown habe ihn in einen
unglaublichen Freudentaumel versetzt. Er habe einfach alles in sich
anspannen müssen, um dies seinen Kameraden zu sagen – und war selbst
maßlos überrascht, dass er dadurch Sprache und Gehör wiedererlangt
hatte.
Freude hat eine befreiende und lösende Wirkung. Freuen
wir uns, dann strahlen unsere Augen, unser Gesicht hellt sich auf, wir
gehen beschwingten Schrittes, nehmen drei Stufen auf einmal und könnten
Luftsprünge machen. Bereits diese Ausdrucksgesten verdeutlichen, dass
Freude ein Gegengewicht zu Dunkelheit und Erdenschwere bildet. Wir
fühlen uns verbunden mit uns selbst, mit anderen, mit dem Leben. Ein
Gefühl von Vitalität erfasst uns, und wir sind voll Zuversicht, dass
eine gute Zukunft möglich wird.
Freude ist die mächtigste
Widersacherin von Angst! Denn während diese das Blickfeld einengt,
weiten sich in der Freude Herz und Geist. Wir entdecken neue
Perspektiven und gewinnen mehr Selbstvertrauen. Und wir spüren, dass wir
nicht einfach nur ins Leben geworfen, sondern auch von ihm getragen
sind.
Die Woge der Freude gleicht einem Dankeschön an das
Leben. In der Freude genießen wir den Augenblick! Vergangenheit und
Zukunft geraten aus dem Blick, und darin liegt eine große Chance:
nämlich heraus-
zutreten aus den Schatten einer dunklen Vergangenheit oder einer düster erscheinenden Zukunft.
Eine
spezielle Form der Freude ist die Vorfreude – etwa, wenn Menschen sich
ausmalen, wie schön es sein wird, wenn eine Krise überstanden ist und
sie wieder Feste feiern können! Die Vorfreude lebt von der menschlichen
Vorstellungskraft: Wir stellen uns die zukünftigen Ereignisse so vor,
dass sie uns mit großer Freude erfüllen werden. Frohe Zuversicht stellt
sich ein.
Alles in allem: Wenn Sie der Freude erlauben, dass sie Ihr Herz weitet, stärken Sie Ihre Fähigkeit, mit den kleinen und großen Widrigkeiten umzugehen. Sie kultivieren die Kraft der Hoffnung.
Wem will ich Glauben schenken?
Angst und Sorge werden sich natürlich nicht in Luft auflösen. Wenn
Sie aber beides in sich wahrnehmen sollten – Freude und Angst – , dann
können Sie sich beglückwünschen. Denn dadurch gewinnen Sie einen inneren
Freiraum und können sich fragen: „Wem will ich (mehr) Glauben schenken:
meiner Freude, dass sich hier und jetzt das Leben in seiner Schönheit
zeigt? Oder meiner Angst, die mir das Glück der Gegenwart stiehlt, indem
sie mich besorgt in die Zukunft starren lässt?“ Sie haben nun die Wahl:
Sie können sich die möglichen Probleme in düsteren Farben ausmalen,
oder Sie richten Ihre Aufmerksamkeit auf das Hier und Jetzt und
überlassen sich der Freude.
Praxistipp - Wegweiser zur Freude
Achten Sie darauf, wenn sich im Alltag Freude einstellen will. Dies passiert mit Vorliebe in ganz gewöhnlichen Augenblicken. Die kleinen Freuden scheinen belanglos, doch zu Unrecht! Wie wertvoll solche Nischen des Glücks sind, wird besonders spürbar, wenn man nach einer schweren Krankheit wieder auf die Beine kommt oder ein geliebter Mensch bei einem Unfall einigermaßen heil davongekommen ist. Nach solchen Erfahrungen gewinnen unscheinbare Ereignisse oft eine große Bedeutung: der Duft frisch gebrühten Kaffees, ein gemeinsamer Kinobesuch, ein anregendes Buch … Auch ist es hilfreich zu wissen, was Sie froh stimmt. Dass Sie also Ihre persönlichen Quellen der Freude kennen – und aus ihnen regelmäßig schöpfen. Wenn Sie Ihre Aufmerksamkeit auf Gründe der Freude lenken, dann geben Sie Ihren Gedanken eine Richtung, die – entgegen der Negativitätstendenz – das Lichte und Helle in den Blick nimmt. Ihr Alltag wird sich verändern, und ganz nebenbei stärken Sie Hoffnung und Zuversicht.
Mit einem leichten Schauder, aber mit noch mehr Dankbarkeit und
Freude erzählt eine Frau von den zurückliegenden Jahren, in denen so
viel Belastendes zusammengekommen war: der Hausbau, das zweite Kind,
berufliche Herausforderungen und dann noch die Mutter, die krank wurde …
Manchmal wusste sie weder ein noch aus, doch schließlich hatte sie
gemeinsam mit ihrem Mann die Situation gemeistert.
Wie diese Frau bringen wir alle viele Kompetenzen mit, die wir uns im Laufe unseres Lebens im Umgang mit schwierigen Situationen angeeignet haben. Sich diesen Schatz in Erinnerung zu rufen, baut auf. Denn wenn wir uns vergegenwärtigen, welche Krisen wir schon überstanden und bestanden haben, und wenn wir uns die kleinen und großen „Wunder“ unseres Lebens ins Gedächtnis rufen, dann stärkt dies in mehrfacher Hinsicht unsere Zuversicht.
Erstens: Die Einsicht „Ich bin mit dieser Sache ganz gut
klargekommen“, vertieft das Vertrauen in sich selbst und die Fähigkeit,
dem Leben gewachsen zu sein. Entsinnt man sich gemeisterter
Lebenssituationen, dann weckt dies Freude und vielleicht auch Stolz. Und
es stärkt die Zuversicht, dass einem Ähnliches auch heute möglich ist.
Ebenso wichtig ist, sich zu vergegenwärtigen, in Krisen Hilfe erfahren
oder Schwierigkeiten gemeinsam mit anderen bewältigt zu haben.
Vertrauen
baut auf die Erfahrungen der Vergangenheit. Indem Sie auf die
Vorratskammer an guten Erinnerungen zurückgreifen, nähren Sie Ihr
Vertrauen in andere, in sich selbst, in das Leben und – wenn Sie sich
als spiritueller Mensch verstehen – in seinen göttlichen Grund. Zugleich
stärkt das gewachsene Vertrauen Ihre Zuversicht und Ihre Fähigkeit,
sich gemeinsam mit anderen zu engagieren.
Hoffen ist Erinnern in die Zukunft hinein!
Und schließlich vollzieht sich in all dem ein – oft unmerklicher –
Perspektivenwechsel: Anstatt nur auf das Problem zu starren oder sich
als „armes Hascherl“ zu fühlen, weitet sich der enge Blick. Wir
kultivieren einen Sinn für Alternativen, und vor allem begrenzen wir
das Gefühl der Ohnmacht. Erinnernd vergewissern wir uns unserer
Lebenskraft. Wir spüren Selbstwirksamkeit.
Auf den Punkt gebracht: Hoffen ist Erinnern in die Zukunft hinein!
Haben
Sie schon einmal einer Kuh beim Grasen zugeschaut? Wieder und wieder
kaut sie das einmal gefressene Gras, um es gut zu verwerten. Das Bild
vom Wiederkäuen findet sich von alters her in der christlichen
Spiritualität – und heute auch in der Psychologie. Es macht darauf
aufmerksam: Sätze, die wir innerlich ständig wiederholen, prägen unser
Fühlen, Denken und Verhalten. Offenkundig ist dies bei kleinmachenden
oder ängstigenden Sätzen wie „Das kann ich nicht!“ oder „Das bringt doch
nichts!“ … Genauso entfalten auch heilsame Sätze ihre Wirkung; sie
prägen und verändern von innen her.
Christinnen und Christen
machen sich beispielsweise biblische Vertrauensworte zu eigen. In einem
ruhigen Rhythmus wiederholen sie murmelnd oder in Gedanken einen Satz –
etwa einen Psalmvers wie: „Du bist mein Licht und mein Heil; vor wem
sollte ich mich fürchten?“ (vgl. Psalm 27,1) Oder: „Du bist meine
Zuversicht.“ (Psalm 71,5) Aus dem wiederkehrenden Rezitieren eines
Satzes hat sich
sogar eine eigene Gebets- und Meditationsform
entwickelt, die bezeichnenderweise „ruminatio“ genannt wird (lat. =
Wiederkäuen).
Praxistipp
Suchen Sie einen Ort auf, an dem Sie ungestört sind. Schalten Sie Ihr Handy und andere mögliche Störfaktoren aus. Entscheiden Sie, wie viel Zeit Sie sich für die Meditation gönnen wollen, und stellen Sie sich vielleicht einen Wecker. Gibt es einen kurzen positiven Satz, eine Liedzeile, einen biblischen Vers … – gibt es etwas, das Sie erahnen lässt: Ich bin im Großen und Ganzen geborgen? Wählen Sie für die folgende Meditation einen Satz aus, der in Ihnen Vertrauen weckt. Nehmen Sie eine Körperhaltung ein, in der Sie aufmerksam und präsent da sein können. Versuchen Sie, Ihren Körper wahrzunehmen. Achten Sie auf Ihren Atem, wie er kommt und geht. Ohne dass Sie etwas daran ändern wollen. Wiederholen Sie im regelmäßigen Rhythmus innerlich „Ihren“ Vertrauenssatz. Sagen Sie ihn wieder und wieder, wie ein Mantra. Wenn Ihre Gedanken abschweifen (was ziemlich normal ist!), kehren Sie zur Beobachtung Ihres Atems und dann zu dem Vertrauenssatz zurück. Wenn es Ihnen entspricht, beenden Sie die Meditation mit einem persönlichen Gebet. Das Schöne an dieser Meditation: Sie können sie jederzeit und überall praktizieren: ob beim Warten auf den Zug, bei einem Spaziergang oder in unruhigen Nächten.
Die Salvatorianerin und Podcasterin („GANZ SCHÖN MUTIG“) Melanie Wolfers wirbt in einem Buch für mehr Zuversicht. Im Interview der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) erläutert die Expertin für Lebensfragen und Spiritualität, warum wir diese Kraft so nötig haben.
Frau Wolfers, Klimawandel, Corona, Inflation, Ukrainekrieg – es gibt der-zeit viele Gründe, voll Sorgen in die Zukunft zu blicken. Sie setzen dagegen trotz allem auf Zuversicht. Ist das nicht naiv?
WOLFERS: Ich rede keinem naiven, blauäugigen Optimismus oder etwas Weltentrücktem das Wort. Vielmehr verstehe ich Zuversicht als etwas sehr Weltzugewandtes. Denn sie hilft uns dabei, uns den Problemen zuzuwenden und Krisen anzugehen. Gerade angesichts der vielen gesellschaftlichen und persönlichen Probleme, die damit verbunden sind, brauchen wir mehr denn je die Kraft der Zuversicht.
Können Sie das verdeutlichen?
WOLFERS: Ich erzähle gerne die Fabel von den drei Fröschen, die in einen Sahnetopf gefallen sind. Der Krug ist so hoch, dass sie nicht rauskommen. Der erste Frosch denkt optimistisch: Ach, es wird schon jemand kommen und uns retten; er wartet tatenlos, geht unter und ertrinkt. Der zweite Frosch denkt pessimistisch: Hier hilft kein Einsatz; auch er geht unter und ertrinkt. Der dritte Frosch sagt: Oh, eine ernste Situation, hier hilft nur Strampeln. Und er strampelt so lange, bis aus der Sahne Butter geworden ist und er sich mit einem Sprung aus dem Krug befreien kann. Daran wird deutlich, was Zuversicht meint. Eine zuversichtliche Person erkennt den Ernst der Lage und die Schwierigkeiten, aber ohne sich davon lähmen zu lassen. Vielmehr entwickelt sie positive Zukunftsbilder, entdeckt Gestaltungsspielräume und nutzt diese auch – selbst, wenn sie noch so klein sind. Zuversicht ist eine Art Spürsinn für das, was die Zukunft an Positivem mit sich bringen könnte. Und die Tatkraft, das Eigene dazu beizutragen, dass das Erhoffte eintritt.
Wie kann man zu so einer zuversichtlichen Haltung im neuen Jahr finden?
WOLFERS: Vor allem in Krisenzeiten sollte man immer auch die erfreulichen Seiten des Lebens aufmerksam wahrnehmen und wertschätzen. Das stärkt die Zuversicht. Eine weitere zuverlässige Quelle sind tragfähige Beziehungen. Wer auch für andere da ist, weitet seinen Blick über den eigenen Tellerrand hinaus. Eine dritte Quelle zur Zuversicht ist der Fokus auf Dinge, die mir Freude machen. Eine vierte Quelle ist der Aufenthalt und die Bewegung in der Natur. Denn die Natur lässt uns erfahren, was es heißt, lebendig zu sein. Natur ist nicht nur Umwelt, sondern auch Mitwelt, und in ihr können wir spüren, dass wir lebendig sind. Eine weitere Quelle ist die Pflege einer spirituellen Haltung; sie lässt mich wach werden für die leise Gegenwart Gottes.
Dennoch konzentrieren wir uns meist auf negative Dinge.
WOLFERS: Leider ja, auch dazu eine kleine Geschichte: Ein Professor teilt den Studierenden ein Prüfungsblatt aus, auf dem nur ein schwarzer Punkt zu sehen ist. Die Studierenden sollen beschreiben, was sie sehen. Der Professor liest anschließend die Beschreibungen: Alle haben ausführlich den Punkt beschrieben – seine Struktur, seine Farbe, seine Position auf dem Blatt, aber niemand hat das weiße Papier beschrieben. So ist es auch im Leben. Wir konzentrieren uns auf die dunklen Punkte und übersehen, was uns alles an Möglichkeiten gegeben ist. Die Geschichte verdeutlicht, dass unser Gehirn gefahrensensibel ist: Es konzentriert sich auf das Negative, dadurch kommt es zu einer negativ verzerrten Wahrnehmung. Als Folge erscheint uns die Welt gefährlicher, dunkler, katastrophaler, als sie eigentlich ist. Deshalb ist es so wichtig, die erfreulichen Punkte des Lebens bewusst wahrzunehmen und wertzuschätzen.
Viele Menschen schauen zum Jahreswechsel gerne in die Zukunft, auch aus einem Bedürfnis nach Kontrolle. Aus Ihrer Sicht ist das kontraproduktiv. Warum?
WOLFERS: Natürlich spielt Kontrolle in gewissen Lebensbereichen eine große Rolle – etwa bei Vorsorgeuntersuchungen. In unserer Gesellschaft sitzen wir aber dem Trugschluss auf, dass wir alles kontrollieren können. Das schwächt unsere Widerstandskraft, mit Unabsehbarem und unabwendbarem Widrigem umzugehen. Denn das Leben lässt sich nicht kontrollieren, das erleben wir in diesen Jahren in besonderer Intensität. Der Wunsch nach Kontrolle untergräbt die Fähigkeit zu vertrauen. Vertrauen ist aber eine der wichtigsten Ressourcen von Zuversicht. So paradox es klingt: Wer sich von dem Wunsch verabschiedet, alles kontrollieren zu wollen, der wird mit mehr Vertrauen durchs Leben gehen. Das belegt die Hirnforschung: Immer, wenn ich ein vertrauensvolles Verhalten wiederhole, bilden sich entsprechende Nervenbahnen aus, die mich in Zukunft vertrauensvoller unterwegs sein lassen.
Das hat für manchen auch etwas mit Gottvertrauen zu tun. Was aber kann man Menschen sagen, die mit Gott wenig anfangen können?
WOLFERS: In der Begleitung von jungen Erwachsenen gehe ich gerne mit ihnen auf Spurensuche: Welche vertrauensvolle Beziehung gibt es in deinem Leben? Wie kann das Vertrauen in dich selbst und in das Leben wachsen? Man muss nicht mit dem Namen Gott daherkommen, um Erfahrungen zu eröffnen, die aus meiner Sicht spirituelle Erfahrungen sind.
Hoffnung und Zuversicht liegen recht nah beieinander. Warum haben Sie ein Buch über die Zuversicht geschrieben?
WOLFERS: Zuversicht und Hoffnung sind für mich gleichbedeutend. Viele verbinden mit dem Wort Hoffnung die falsche Vorstellung: Hände in den Schoß legen und hoffen, dass es gut ausgeht. Weil „Zuversicht“ nicht so oft missverstanden wird, scheint es mir ein passenderes Wort zu sein.
Zuversicht kann derzeit auch die Kirche gebrauchen. Wie viel Zuversicht haben Sie, dass die Kirche für alle drängenden Fragen wie Missbrauchsaufarbeitung und Zukunftsfähigkeit, Priestermangel, die Einbindung von Frauen gute Antworten findet?
WOLFERS: Ich glaube daran, dass der Geist Gottes bewirkt, dass das Evangelium durch die Zeit getragen wird bis zum Ende der Zeiten. Dass der Geist Gottes auch in unserer Kirche wirkt. Derzeit bricht vieles zusammen. Man kann das als Todeskampf sehen, aber auch als Geburt einer ganz neuen Sozialgestalt von Kirche. Das ist meine Zuversicht.
In Ihren Büchern muss man genau hinschauen, um zu bemerken, dass Sie Ordensfrau sind. Ist das bewusst so?
WOLFERS: Wir Salvatorianerinnen haben eine weihnachtliche Spiritualität: Sie umfasst das ganz normale menschliche Leben – ausgespannt zwischen der blutigen Geburt, die wir an Weihnachten feiern, und den letzten Atemzügen eines Menschen. Alles Menschliche kann zum Ort werden, um Gott zu begegnen. Deshalb setze ich von meiner Theologie und Spiritualität her im Leben an: Wenn ich vom Gott des Lebens sprechen möchte, dann muss ich vom Leben in seiner Schönheit und seinem Schrecken sprechen. Von dort ausgehend schaue ich, welches Licht die biblische Botschaft darauf wirft. Dafür ist es mir wichtig, als Melanie Wolfers, als Mensch Vertrauen aufzubauen. Die Menschen sollen spüren: Da ist eine, die weiß, wie das Leben schmeckt, weil sie selbst an Grenzen gekommen ist. Wenn ein solches Vertrauen aufgebaut ist – über meine Bücher, in Begegnungen, im Podcast –, dann können auch explizit die christliche Botschaft, meine Verankerung in diesem Glauben und dass ich Ordensfrau bin, Thema werden.
Ihre Bücher haben ein neutrales Cover – mit Illustration, Titel und Autorennamen. Andere Bücher werben dagegen mit Ordensleuten im Habit auf dem Cover. Einen kirchenfernen Leser könnte das auch abschrecken ...
WOLFERS: Ich komme aus einer sehr säkularen Gegend, aus Flensburg. Dort und an vielen anderen Orten schafft ein Habit eher Abstand. Vor allem aber ist mir wichtig: Wir glauben an einen menschgewordenen Gott. Und dieser Jesus Christus ist weder am Königshof geboren noch im Tempel aufgewachsen. Er kam ganz normal daher.
(Interview: Angelika Prauß, Redakteurin der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA))