Melanie Wolfers - Nimm der Ohnmacht ihre Macht
Haben Sie schon einmal Mammutbäume gesehen? Viele, die davon berichten, schwärmen über deren Ehrfurcht einflößende Größe und ihr verblüffendes Alter. Die Redwoods können über 100 Meter hoch wachsen und mehrere 1.000 Jahre alt werden. Doch das eigentlich Erstaunliche dieser Giganten liegt unter der Erde. Anders als man vermuten würde, treiben die Mammutbäume ihr Wurzelwerk nicht tief in den Boden, sondern sind Flachwurzler. Sie bilden nur etwa einen Meter tiefe Ausläufer. Aber wie gelingt es den Kolossen, dass sie ihre Größe ausbalancieren und über Jahrhunderte hinweg selbst starke Stürme und Erdbeben überstehen?
Die Lösung lautet: Kooperation. Die Bäume treiben unter der Erdoberfläche so weite Ausläufer, bis sie auf die Wurzeln anderer Redwoods stoßen. Mit diesen bilden sie ein miteinander dicht verwobenes Wurzelgeflecht. So halten und stärken sie sich gegenseitig und können gemeinsam auf diese Weise selbst Orkanen trotzen. Die eigentliche Stärke dieser Riesen erwächst also ihrem Zusammenhalt. Ihrer Fähigkeit, zu kommunizieren und sich gegenseitig zu unterstützen.
Erleben Menschen sich als hilflos und ausgeliefert, geht dies oft damit einher, dass sie sich in ihrem Elend mutterseelenallein fühlen. Der Sinn für die Gemeinschaft und die Verbundenheit untereinander bildet ein Widerlager zum lähmenden Gefühl der Ohnmacht. Wie sich die Bäume gewissermaßen unterhaken, können auch wir einander stützen und stabilisieren und so gemeinsam größte Stürme überstehen.
„Ich habe einen Traum …“ lautet der Titel einer der berühmtesten Reden der Geschichte – gehalten von Martin Luther King am 28. August 1963 beim Marsch auf Washington. Vor dem Lincoln Memorial bringt Martin Luther King mehr als 250.000 Menschen seine Vision nahe: Er träumt von einer Zukunft, in der schwarze und weiße Kinder sich als Schwestern und Brüder die Hand reichen, und in der seine eigenen Kinder nicht nach ihrer Hautfarbe, sondern nach ihrem Charakter beurteilt werden. Martin Luther King malt eine Zukunft aus, die man schaffen kann – und diese Art des Träumens kann eine ungeahnte Wirkung entfalten! Dass ein Afro-Amerikaner wie Barack Obama Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika wird –, eine solche Vorstellung wäre in den 1960er Jahren vermutlich vom Großteil der Bevölkerung als bloße Spinnerei abgetan worden.
Die wegweisende Kraft des Träumens
Unsere Träume und Visionen für die Zukunft haben eine wegweisende
Bedeutung, denn sie geben die Richtung an, in die wir als Individuen
oder als Gesellschaft gehen wollen. Sie schaffen den Raum für das, was
noch nicht Wirklichkeit ist, aber Wirklichkeit werden kann. Dazu zwei
Beispiele: Hat jemand eine schwere Operation vor sich, macht es einen
Unterschied, ob er sich mit allen Sinnen ausmalt, was er voraussichtlich
in einigen Wochen wieder alles machen kann – oder ob er das unterlässt.
Exemplarisch zeigt das eine Studie des Psychologen Winfried Rief von der Universität Marburg. Er hat 124 Personen untersucht, die vor einer Herzoperation standen. Sechs Monate nach dem Eingriff untersuchte er sie erneut und stellte fest: Diejenigen, die sich vor ihrer Operation bewusst Zeit genommen hatten, um positive Zukunftsbilder zu entwickeln und sich diese mit allen Sinnen auszumalen, litten weniger an Beschwerden; sie waren körperlich aktiver und erfreuten sich einer besseren Lebensqualität als jene Personen, die keine hoffnungsvollen Träume für die Zeit nach der Operation hatten.
Von der Stadt der Zukunft träumen
Oder: Angesichts der zunehmenden Überhitzung der Städte macht es einen
Unterschied, ob wir als Gesellschaft davon träumen, mit ausschließlich
grüner Energie im öffentlichen Raum Kühlzonen einzurichten und alle
Häuser mit Klimaanlagen auszustatten. Oder ob wir gar den kühnen Traum entwerfen von Städten, in denen keine Privatautos mehr fahren. In denen
das viele Grün die Temperatur um mehrere Grad verringert, die Luft
frisch riecht, das Brummen von Hummeln und Bienen in den vielen kleinen
Gärten zu hören ist und die Kinder gefahrlos auf den Straßen und
zahlreichen Begegnungszonen spielen können. Und in denen ein gut
organisiertes öffentliches Transportwesen uns von einem zum anderen Ort
bringt.
Die Zuversicht stärken
Natürlich, nicht jede Zukunftshoffnung wird sich erfüllen. Doch der
entscheidende Punkt liegt anderswo: Damit Träume Wirklichkeit werden
können, muss man zuallererst einmal träumen! Unsere Träume und Visionen
für die Zukunft bereiten vor, was bislang noch nicht wirklich ist. Und
in dem Maß, in dem wir unserer schöpferischen Fantasie Raum geben,
stärken wir auch unsere Zuversicht. Denn das kennzeichnet ja gerade eine
zuversichtliche Person: Sie erkennt den Ernst der Lage und sie verfügt
zugleich über einen Spürsinn für das, was die Zukunft an positiven Möglichkeiten mit sich bringen könnte.
Der Fantasie Raum geben
Leider
haben Träumen und Visionieren heute weitgehend eine schlechte Presse!
Von Kindesbeinen an wachsen die meisten von uns in einer Welt auf, die
Fakten und Zahlen mehr schätzt als die Fantasie.
Wie lässt
sich die schöpferische Kraft zu träumen wiederfinden? Wie können wir
unsere Fantasie befreien? Wie können wir unseren Spürsinn entwickeln für
das, was die Zukunft an positiven Möglichkeiten mit sich bringen
könnte, und dadurch unsere Zuversicht stärken?
Eine unvollständige Liste:
- Führen Sie sich vor Augen, wie viele Aspekte unserer Realität ursprünglich nur der Traum eines oder weniger Menschen waren: Abschaffung der Sklaverei, Frauenwahlrecht, Fall der Berliner Mauer … Das allein zeigt schon, wie wichtig die schöpferische Kraft ist, eine „Möglichkeitsdenkerin“ oder ein „Möglichkeitsdenker“ zu sein.
- Manche Menschen haben ihre einfallsreichsten Momente beim Spazierengehen, unter der Dusche oder beim Rumbasteln am Motorrad. Nehmen Sie sich Zeit für Spielräume, in denen „die Muse“ Sie küssen kann.
- Es bereichert, sich von anderen anregen zu lassen und gemeinsam zu träumen, denn: „Wenn einer alleine träumt, ist das nur ein Traum. Wenn viele gemeinsam träumen, so ist das der Beginn einer neuen Wirklichkeit.“ (nach Dom Helder Camara)
- Lassen Sie sich von den Hoffnungen inspirieren, die sich in der Bibel, im Leben Jesu und in der spirituellen Tradition ausdrücken.
- Fragen Sie sich immer mal wieder: Welchen Samen will ich heute säen für die Zukunft, die ich in einem Jahr erhoffe? Für die Zukunft, die ich in zehn Jahren erhoffe? Und welchen Samen will ich heute säen für die Zukunft, die ich für meine Urenkelinnen und -enkel in 70 Jahren erhoffe?
Das Leben ist unberechenbar und manchmal verdammt unheimlich. Doch es gibt eine ganz ursprüngliche Kraft in uns Menschen, die uns befähigt, mit dieser bleibenden Unberechenbarkeit umzugehen, und die uns in der Not tragen kann: die Kraft des Vertrauens.
Die portugiesische Pianistin Maria João Pires sitzt auf einer Konzertbühne in Amsterdam am Flügel. Der Saal ist ausverkauft. Sie hört die ersten Takte des Orchesters, das Mozarts „Klavierkonzert Nr. 20 in d-Moll“ zu spielen beginnt – und erkennt: Ich habe ein anderes Mozart- Konzert erwartet und einstudiert als dieses! Eine Videoaufnahme dieses legendären Konzertes hält den Schock-Moment fest, als die Pianistin dies entsetzt realisiert. Pires senkt den Kopf und schaut fassungslos nach unten; dann blickt sie hilfesuchend zu Riccardo Chailly, der hingebungsvoll dieses Konzert dirigiert, für das sie noch nicht einmal die Noten dabei hat. Leise raunt sie Chailly zu, dass sie mit diesem Konzert nicht gerechnet habe. Seelenruhig dirigiert dieser Takt um Takt, während Pires so wirkt, als ob sie gleich in Ohnmacht fällt. Es folgt ein kurzer Wortwechsel: Sie habe dieses Konzert wirklich nicht geübt, erklärt die Pianistin. Von ihrer Not scheinbar unberührt antwortet der Maestro: Sie habe das Konzert doch letzte Saison noch gespielt. Ich bin mir sicher, Sie schaffen das!
Eine atemberaubende Szene: Wie gelähmt findet sich Pires in einer Situation vor, von der sie nicht weiß, wie sie diese überstehen soll. Chailly lässt sich von ihrem Schock und ihrer Hilflosigkeit nicht aus dem Takt bringen, sondern macht ihr Mut. Und er lässt das Orchester weiterspielen! Den dann einsetzenden Wandel muss man sehen und hören: Pires blickt der Tatsache ins Auge, dass sie sich aus dieser Situation nicht herausstehlen kann, sondern spielen muss. In dem Augenblick, in dem sie sich in ihre Lage ergibt, verändert sich ihr Gesicht: Maria João Pires wirkt nun gesammelt, fokussiert. Sie gibt sich der Musik hin, ihr erstarrter Körper wird geschmeidig, sie hebt die rechte Hand – und spielt. Zart, perlend, traumwandlerisch sicher. Es ist alles da, was sie braucht!
Vertrauen geht nicht allein
Diese Konzerterfahrung erscheint mir symbolträchtig für viele kleine und große Momente, in denen wir uns überfordert und ohnmächtig erleben – und es dann doch „irgendwie“ weitergeht. Was für ein Geschenk, wenn in solchen Momenten Menschen an mich glauben und mein Vertrauen stärken. So wie der Dirigent mit Vertrauen antwortet: mit Vertrauen in die Fähigkeiten der Pianistin und dass sie alles in sich trägt, um die Situation zu meistern.
Hier wird etwas sichtbar, was sich immer wieder erfahren lässt: Vertraut uns eine Person und traut sie uns etwas zu, dann festigt dies unser Vertrauen in uns selbst und unsere Fähigkeiten. Gerade in Krisen – wenn sich das Selbstvertrauen so groß anfühlt wie ein Zwerg mit Hut –, tut es unendlich gut, wenn man spürt: „Da glaubt jemand an mich und daran, dass ich die Situation bewältigen kann!“
Auf andere bauen
Eine weitere Stütze, wenn wir uns ohnmächtig und hilflos fühlen, ist das
Vertrauen in andere Menschen; also die Erfahrung, auf andere bauen zu
können. Insbesondere wenn der Boden ins Wanken gerät, kann eine
tragfähige Beziehung Halt geben. Sind wir mit einer Person zusammen, der
wir vertrauen, verringert sich unsere Angst und wir fühlen uns
zuversichtlicher. Ganz deutlich erlebe ich dies etwa beim Bergsteigen:
Eine erfahrene Bergführerin weckt in mir Zutrauen – und zwar in sie und
in mich selbst, dass ich die ausgesetzten Kletter-Passagen bewältigen
werde.
Tragfähige Beziehungen pflegen
Eines steht fest: Wir können Selbstvertrauen – also das Vertrauen in uns und unsere Fähigkeiten – nicht mit uns allein ausmachen. Dazu brauchen wir andere! Ganz grundlegend gilt dies in den ersten Lebensjahren, aber auch als Erwachsene sind wir auf andere verwiesen. Daher ist es so wichtig, sich genügend Zeit zu nehmen, um tragfähige Beziehungen zu pflegen. Und sich in schwierigen Situationen in Erinnerung zu rufen: Auf welche zwei oder drei Personen kann ich bauen?
Ein spiritueller Instinkt
Natürlich, das Vertrauen in andere kann enttäuscht werden – so wie man selbst dem Vertrauen nicht immer gerecht wird, das andere einem schenken. Und ebenso kann das Vertrauen in eigene Fähigkeiten Schiffbruch erleiden. Umso wichtiger ist es, zu unterscheiden zwischen dem Vertrauen in eine konkrete Person oder Fähigkeit und einem wortwörtlich grundlegenderen Vertrauen. Letzteres wird in der Psychologie „Urvertrauen“ genannt. Treibt uns das Leben in die Enge und sitzt uns die Angst im Nacken, dann vermögen wir dank dieser Kraft dennoch darauf zu bauen: Das Leben wird mich schon irgendwie durch den Engpass bringen – so ähnlich, wie ich durch einen engen Geburtskanal in diese Welt gekommen bin.
Mit dem göttlichen Geheimnis in Verbindung stehen
Aus religiöser Sicht verdankt sich dieses Vertrauen dem Gespür für eine Wirklichkeit, die größer ist als wir selbst und alles Endliche. Stehen wir mit diesem göttlichen Geheimnis in Verbindung, dann gibt dies unserem Leben Licht und Wärme.
Es macht dankbar, wenn uns etwas Schönes widerfährt und wenn wir dies als nicht selbstverständlich erleben, sondern als ein Geschenk. Im Folgenden lesen Sie, warum Dankbarkeit auch möglich ist, wenn wir Schweres erleiden, und warum diese gerade in Krisenzeiten so hilfreich ist.
Eine dankbare Haltung lebt davon, dass wir aufmerksam sind für das Gute im Leben.
Sie macht hellsichtig für die lichten Seiten des Alltäglichen – und das
ist besonders in dunklen Zeiten wichtig. Denn die kleinen Freuden
bringen Glanz ins Leben: ein schmackhaftes Essen; ein taufrischer
Morgen; ein gemeinsamer Kinobesuch; eine schmerzfreie, erholsame Nacht …
Anders
gesagt: Bemühen wir uns auch in Krisenzeiten wahrzunehmen, was wir –
trotz und in all dem Schweren – an Hilfe und Positivem erfahren, dann
weitet dies unseren Blick. Jedes Mal, wenn wir Gelegenheiten entdecken,
dankbar zu sein, gewinnen wir dem Meer der dunklen Gefühle Land ab.
Freiraum schaffen
Um die eigene Lebensgeschichte lesen und stimmig weiterschreiben zu können, gilt es zu pausieren. In dem Maß, in dem wir das ständige Busy-busy-Sein unterbrechen und innehalten, schaffen wir den Freiraum, um über uns und das Leben nachzudenken.
Perspektivenwechsel
Natürlich, es gibt vieles, für das
niemand dankbar sein kann – etwa Mobbing, Betrug oder der Verlust eines geliebten Menschen. Wohl aber lässt sich fragen: Welche Herausforderung
steckt in meiner schwierigen Situation? Vielleicht wird sie zur
Gelegenheit, um etwas Neues zu wagen oder Mitgefühl zu lernen? Oder sie ist
eine Gelegenheit, um sich zu engagieren und bei Demonstrationen mitzugehen?
Wenn Sie Fragen auf diese Weise
formulieren, weckt dies eine schöpferische Kraft in Ihnen. Denn es kommt zu
einem Perspektivenwechsel weg von der rückwärtsgewandte Frage nach dem Warum
hin zur Frage nach dem Wozu. Durch diesen Haltungswechsel betrachten Sie
die belastende Situation in einem neuen Licht, und dies kann Dankbarkeit und
Zuversicht stärken.
Ein Text, der zu einem solchen Perspektivwechsel anregt, wird – vermutlich zu Unrecht – vielfach dem brasilianischen Schriftsteller Paulo Coelho zugeschrieben:
Ich danke allen, die meine Träume
belächelt haben.
Sie haben meine Phantasie beflügelt
[...]
Ich danke allen, die mich verlassen
haben.
Sie haben mir Raum gegeben für Neues.
Ich danke allen, die mich verraten …
haben.
Sie haben mich wachsam werden lassen.
Ich danke allen, die mich verletzt
haben.
Sie haben mich gelehrt, im Schmerz zu
wachsen [...]
Ich danke allen, die mich verwirrt
haben.
Sie haben mir meinen Standpunkt klar
gemacht.
Vor allem danke ich all jenen, die
mich lieben, so wie ich bin.
Sie geben mir Kraft zum Leben!
Nach Positivem suchen
Suchen wir in schweren Zeiten nach Positivem und erkennen wir an, was
uns an Gutem geschenkt ist, dann stärkt uns dies. Dankbarkeit kann uns
„inmitten von“ ein Lächeln aufs Gesicht zaubern; sie macht uns
vitaler und schwungvoller. Und sie ermöglicht es, dass wir schwierige
Situationen in einen größeren Rahmen einordnen. Alles in allem:
Dankbarkeit erweist sich in Krisenzeiten als eine Quelle von seelischer
und geistiger Widerstandskraft.
Praxistipp - Buchstäblich danken
Das Dankbarkeitstagebuch ist vielen ein Begriff. Aber oft wird dieser Vorschlag mit einem müden Lächeln abgetan: Dies sei doch viel zu banal, wenn es um die Bewältigung von individuellen oder gesellschaftlichen Krisen gehe. Doch Bewusstseinsveränderung ist alles andere als banal! Durch das Schreiben eines Dankbarkeitstagebuchs verändern Sie Ihre Sicht auf die Welt. Ihre neue Welt-Anschauung wirkt sich wiederum auf Sie selbst aus. Es entwickelt sich eine positive Rückkopplung von Dankbarkeit, Freude und aktiver Zuversicht. Ob Sie sich für das Aufschreiben ein besonderes Buch zulegen oder einen schönen Stift – all das ist nicht so wichtig. Worauf es ankommt: Dass Sie sich Zeit gönnen, um die schönen Augenblicke und Überraschungen eines jeden Tages aufzuschreiben. Und auch das, was Ihnen ganz grundsätzlich im Leben Freude bereitet. Achten Sie darauf, dass Sie immer wieder nach Neuem Ausschau halten. Und schildern Sie so konkret wie möglich, wofür Sie dankbar sind. Statt beispielsweise zu notieren: „Ich bin dankbar für meinen Hund“, könnten Sie schreiben: „Ich bin dankbar, wie mein Hund mich mit Bellen und Freudensprüngen begrüßt, denn dadurch fühle ich mich willkommen und geliebt!“ Auf diese Weise wird Ihre dankbare Erinnerung konkreter und anschaulicher.
Was ist die größte Taste auf Ihrer PC-Tastatur? Meist lautet die spontane Antwort: „Enter“. Doch es ist die Leertaste! Welche Bedeutung dieser Taste zukommt, kann ein einfaches Gedankenexperiment verdeutlichen: Stellen Sie sich im Geist einen Text ohne Leerzeichen vor. Sie werden ihn vermutlich entziffern können, aber nur mit Mühe. Wir brauchen also die Zwischenräume und Unterbrechungen, um Texte lesen zu können – und das gilt nicht nur für Bücher, Artikel und Gedichte, sondern auch für unseren Lebenstext.
Freiraum schaffen
Um die eigene Lebensgeschichte lesen und stimmig weiterschreiben zu können, gilt es zu pausieren. In dem Maß, in dem wir das ständige Busy-busy-Sein unterbrechen und innehalten, schaffen wir den Freiraum, um über uns und das Leben nachzudenken.
Bewusste Lebenskultur
Mit diesen Überlegungen stoßen wir auf die Basisvoraussetzung, damit gelingen kann, was diese Artikelserie in Aussicht stellt: „Entdecke die Kraft, die in dir wohnt“:
Es bedarf einer bewussten Lebenskultur, um gut mit den Gefühlen von
Ohnmacht und Hilflosigkeit umzugehen. Und daher ist es wichtig, sich regelmäßig mit sich selbst zu verabreden.
Wenn Ruhe aus der Ruhe bringt
Warum fällt es vielen so schwer, Stille und Alleinsein auszuhalten? Warum muss immer etwas gesagt oder getan werden, sobald es um einen ruhig wird?
Zum einen tragen verschiedene gesellschaftliche Hintergründe dazu bei – etwa das Credo unserer beschleunigten Gesellschaft: Zeit ist Geld.
Entsprechend führen viele lieber ein Leben im pausenlosen Bereitschaftsmodus als den Eindruck zu vermitteln, sie würden ihre Zeit
verplempern. Zum anderen halten innerseelische Widerstände davon ab, sich mit sich selbst zu verabreden. Denn dann sind sie mit der Frage konfrontiert: Wer bin ich, wenn ich mit mir allein bin?
– Eine gute und wichtige Frage! Doch viele scheuen vor einem
Stelldichein mit sich selbst zurück. Denn wer weiß, ob ich da jemanden
treffe, mit der oder dem ich gerne zusammen bin?!
Tiefer blicken
Besonders intensiv kann man sich selbst und dem göttlichen Grund des Lebens begegnen, wenn man sich mit der Stille verabredet.
Eines Tages kamen einige Menschen zu einer Eremitin und fragten sie:
„Was für einen Sinn hat es, dass du der Stille und Meditation so viel
Zeit widmest?“ Die Eremitin schöpfte gerade Wasser aus einem tiefen
Brunnen. Sie antwortete: „Blickt in den Brunnen. Was seht ihr?“ Die
Leute schauten in den tiefen Brunnen: „Wir sehen Wellen!“ Nach einiger
Zeit forderte die Eremitin sie erneut auf, in den Brunnen zu schauen:
„Was seht ihr jetzt?“ Die Besucher blickten wieder hinunter: „Wir sehen
uns selber.“ „Das lässt sich auch in der Stille und Meditation erfahren:
Man sieht sich selber“, erläuterte die Frau und forderte sie auf, noch
eine Weile zu warten. Als die Gäste nach einiger Zeit wiederum in den
Brunnen schauten, sagten sie: „Nun sehen wir die Steine auf dem Grund
des Brunnens.“ Da erklärte die Eremitin: „Darin liegt das Geschenk von
Stille und Meditation: Wenn man lange genug wartet, sieht man den Grund
aller Dinge.“
Stille als spirituelles Geschehen
In anschaulicher Weise verdeutlicht diese bekannte Weisheitsgeschichte,
warum viele Menschen Stille auch als ein spirituelles Geschehen erleben.
Es lässt sich vielleicht so beschreiben: Wartet man in der Stille lange
genug, bis die inneren Stimmen verstummen, die einen aufwühlen, dann
lässt sich bisweilen erleben: Ich kann einfach sein, ohne etwas leisten oder machen zu müssen. Nichts und niemand will etwas von mir – nicht einmal ich selbst.
Geheimnisvolle Gegenwart
Wer so in die Stille eintaucht, wird manchmal einen umfassenderen Grund erahnen, der alles trägt und hält. Eine solche Erfahrung lässt sich kaum in Worte fassen. Ich persönlich bin dankbar, aus dem Reichtum der christlichen Spiritualität zu schöpfen. Wenn ich lange einfach nur auf die Stille höre, dann ahne ich manchmal, dass die Stille nicht leer ist. Sie ist vielmehr bewohnt. Ich spüre eine geheimnisvolle Gegenwart, in der ich daheim sein kann. Einfach so.
Ob es in Ihrem Leben Verletzungen gibt – Beziehungswunden, aber auch
Wunden, die das Leben Ihnen geschlagen hat –, an denen Sie schwer tragen
und die Sie loslassen wollen? Dann stehen Sie vor der Herausforderung,
einen Weg der inneren Aussöhnung zu gehen. Doch wie geht Verzeihen? Im
Folgenden nenne ich drei wichtige Aspekte.
Sich den Schmerz eingestehen
Der Weg des Verzeihens beginnt damit, dass Sie sich der verletzenden Situation und den damit verbundenen Gefühlen stellen.
Manche empfinden es in diesem Zusammenhang als hilfreich, sich in einem
Brief – den sie nicht abschicken – vieles von der Seele zu schreiben.
Wie sie die Situation damals erlebt haben und was sie jetzt im
Augenblick bewegt. Anderen wiederum tut es gut, jemandem von dem
zurückliegenden Ereignis zu erzählen und wie es heute noch in ihnen
nachwirkt.
Gedanken und Gefühle neu ausrichten
Unsere Gefühle haben wichtige Funktionen, aber sie können unsere
Sicht auf die Wirklichkeit und auf uns selbst auch verzerren. Daher tun
Sie gut daran, wenn Sie Ihrer unmittelbaren Gefühls- und Gedankenwelt
eine gewisse Vorsicht entgegenbringen und Ihren Verstand einschalten.
Dazu gehört erstens, dass Sie versuchen, eine realistischere Sicht vom anderen wie von sich selbst und den eigenen Anteilen am Konflikt zu gewinnen.
Denn im Schmerz der Kränkung neigen Menschen oft zu einseitigen
Deutungen des Vorfalls, etwa: „Der andere ist das schwarze Schaf und ich
bin das arme Unschuldslamm!“
Zweitens: Durch die innere Bestandsaufnahme gewinnen wir eine klarere Vorstellung von unseren – oft nur halb bewussten – Denkgewohnheiten und Überzeugungen.
Etwa: „Ich wäre heute viel glücklicher, wenn mein Mann mich vor 13
Jahren nicht sitzen gelassen hätte!“ Oder: „Ich fühle mich von meiner
Vergangenheit betrogen. Das Leben ist ein mieser Verräter!“
Das Gehirn tatkräftig unterstützen
Rechnen Sie damit: All das bedeutet für Ihr Gehirn Schwerstarbeit!
Manchmal legt es sich auch nahe, therapeutische Unterstützung zu suchen.
Zugleich können Sie Ihr Gehirn in seinem Bemühen, die Seele zu
entrümpeln, tatkräftig unterstützen.
Praxistipp - Ausmisten
Häufig sammeln sich in den
eigenen vier Wänden Erinnerungsstücke an, die belasten und schmerzhafte
Ereignisse ständig vor Augen führen: Auf der Kommode das Foto vom Urlaub
mit der Ex-Freundin, die einem schon vor zehn Jahren den Laufpass
gegeben hat und deren Weggang heute noch schmerzt. Der Brief der Eltern,
in dem diese mitteilen, dass sie das gesamte Erbe der ältesten Tochter
überschrieben haben und man selbst nur den Pflichtteil erhalten wird.
Oder das bittersüße Abschiedsgeschenk, das einem bei der
betriebsbedingten Kündigung überreicht worden ist. Solche sichtbaren
Erinnerungen tragen dazu bei, dass Enttäuschungen oder erlittenes
Unrecht einem – bewusst oder unbewusst – ständig präsent bleiben.
Eigentlich wollten mein Mann und ich eine lang geplante Reise machen,
aber darf ich in diesen Zeiten einen solchen Urlaub überhaupt genießen?“
Dies schrieb mir eine Podcast-Hörerin wenige Tage nach dem
Kriegsausbruch in der Ukraine im Februar 2022. Grundsätzlicher gefragt:
Ist es nicht ein ungebührlicher Luxus, angesichts der vielen Krisen
unserer Welt an die eigene Freude zu denken?!
Wandel zum Positiven
Mit Gewinn habe ich das Lebenszeugnis von Desmond Tutu und des Dalai Lama gelesen. In ihrem gemeinsamen „Buch der Freude“ münden ihre Lebenserfahrung und die Weisheit ihrer Weltreligionen in die zentrale Erkenntnis: Nur tief empfundene Freude kann sowohl das Leben des Einzelnen als auch das globale Geschehen spürbar zum Positiven wandeln! Denn sobald Menschen der Freude erlauben, ihr Herz zu weiten, stärken sie ihre Fähigkeit, mit Krisen umzugehen und sich den Nöten dieser Welt zu stellen.
Dass dies mehr ist als ein bloßes Wunschdenken, sei an zwei Auswirkungen von Freude verdeutlicht.
Freude tut gut und macht klug
Freuen wir uns, dann richtet sich unser Körper auf. Wir gehen
beschwingten Schrittes und nehmen drei Stufen auf einmal. Unsere Augen
beginnen zu strahlen und unser Gesicht hellt sich auf. Bereits unser
Körperausdruck zeigt, dass Freude ein Gegengewicht zu Dunkelheit und
Erdenschwere bildet und Anspannung löst.
Eine zweite Wirkung
von Freude hängt damit zusammen, dass positive und negative Emotionen
sich unterschiedlich auswirken auf unser Wahrnehmen, Denken und Handeln.
Wem will ich Glauben schenken?
Um die Haltung der Freude zu kultivieren, lautet einer meiner persönlichen Leitsätze: Ich will meiner Freude mehr Glauben schenken als meinem Kleinmut.
Das kann konkret bedeuten: Wenn Freude in mir aufsteigt, und wenn mir
Ohnmachtsgefühle oder Verlustängste diese madig machen wollen, dann
versuche ich, meinem Kleinmut keine Deutungshoheit über mein Leben zu
geben. Und ich überlasse mich der Freude im Vertrauen darauf, dass diese
einen guten Grund hat. Dass sich die ganze Welt einem schöpferischen
göttlichen Geheimnis verdankt. Und dass es gut ist, ein Teil dieser Welt
zu sein.
Wissenswert - Die Wirkung von Emotionen
Grundsätzlich
gilt: Negative Emotionen engen unsere Wahrnehmung ein. Packt einen etwa
die Angst, dann kommt es einem so vor, als hätte man nur eine einzige
Option, nämlich: „Nur weg hier!“ Im Unterschied dazu öffnen positive
Emotionen unser Herz und unseren Geist, was uns empfänglicher und
kreativer werden lässt.
Praxistipp - Wegweiser zur Freude
Statt ständig darüber
nachzudenken, was wir an uns und unserem Umfeld „reparieren“ wollen,
können wir uns täglich einfach einen Moment Zeit gönnen, um das zu
bewundern, was keiner Reparatur bedarf. Und so der Dankbarkeit und
Freude Raum geben.
Ein vierjähriges Mädchen rennt ans Meer und schreit mit ganzer Kraft: „Ich hasse dich, Meer, denn du hast mir meine Mama weggenommen!“ Diese erschütternde Szene ereignete sich 2004, wenige Tage nach dem Tsunami in Sri Lanka. In ihr verdichtet sich, was wir Menschen immer wieder erfahren müssen: dass eine übermächtige Natur oder heimtückische Krankheit unser Leben bedroht und vernichtet. Oder dass Kriege unendliches Leid mit sich bringen. Im Aufschrei des Mädchens wird die Aussichtslosigkeit hörbar, die sich ohnmächtig gegen dieses „Meer“ von Leid stemmt. Zugleich wird aber auch die Kraft und Würde vernehmbar, die sich in der menschlichen Klage ihren Ausdruck verschafft!
In der Klage überwinden wir die Sprachlosigkeit, zu der uns das Leiden verurteilen kann. Wir durchbrechen das lähmende Schweigen und die stumme Bestürzung. Wir schreien unser Entsetzen heraus. Das Rettende darin: Indem wir unsere Not klagend beim Namen nennen, gewinnen wir einen wenn vielleicht auch nur minimalen Abstand zum Erlittenen. Wir finden ein Stück Distanz zu unserem unmittelbaren Erleben – und dadurch werden neue Erfahrungen möglich.
Die Bibel als bedeutendste Klageliteratur
Die weltgeschichtlich vermutlich bedeutendste Klageliteratur findet
sich in der Bibel. Die Psalmen bringen eine Fülle von Klagen zum
Ausdruck: politische Verfolgung und Rechtlosigkeit, Krankheit und
Einsamkeit, Ausweglosigkeit und ungerechte Armut, Gottverlassenheit und
Todesnot. Das Leid wird weder beschönigt noch wird es relativiert oder
gar (weg)erklärt. Ebenso wenig wird es stillschweigend akzeptiert.
Vielmehr wendet sich die betende Person, die in ihrem Schmerz
unterzugehen droht, Gott zu und klagt eine Antwort ein: „Warum?“ „Wie
lange noch?!“
Die biblische Spiritualität leitet nicht an, das „Schicksal“ als von Gott verfügt geduldig anzunehmen und zu
ertragen.
Vielmehr lehnen sich die Betenden um des Lebens willen auf: Sie
schreien an gegen feindliche Mächte und nennen dabei Ross und Reiter.
Sie sprechen nicht abstrakt von „Ungerechtigkeit“ oder „Krieg“, sondern
von „den Ungerechten“ oder „den Kriegstreibern“, deren Treiben enden
soll. Und sie klagen Gottes rettendes Handeln ein. Ihr Notschrei ist ein
Ruf nach Gott. In ihrer Klage und Anklage fordern sie von Gott ein, was
er versprochen hat: dass er den Menschen zur Seite steht.
Im
Blick auf Jesus Christus dürfen wir hoffen: Gott wird sich als jene
Liebe zeigen, die uns auch in bitterem Leid noch eine letzte
Geborgenheit schenken kann.
Jede und jeder erleidet im Laufe des Lebens schmerzhafte Verluste.
Doch: Es gibt Wege, die aus dem Schmerz und der Ohnmacht herausführen.
Und dazu gehört die heilsame Kraft der Trauer.
„Ja, es ist so:
Ich habe diesen Menschen für immer verloren.“ „Ja, meine Frau leidet an
Demenz und Monat für Monat verlieren wir einander mehr.“ Solche Sätze
für sich selbst zu formulieren, tut unsagbar weh! Für ein solches Ja zum
Unveränderlichen reicht es nicht, sich mit positivem Denken über einen
erlittenen Verlust hinwegzutrösten oder einfach daran zu glauben, dass
schon alles sein Gutes habe. Es gibt keinen Schleichweg an der Trauer
vorbei!
Veränderung akzeptieren
Doch wenn Sie trauern und klagen können, sind Sie auf dem Weg der
Heilung. Denn wenn Sie Ihre Trauer über das Verlorene zulassen,
akzeptieren Sie die Veränderung, die sich nicht mehr rückgängig machen
lässt. Sie nehmen wirklich Abschied von dem, was endgültig vergangen
ist. Unwiderruflich loszulassen tut weh! Aber mit der Zeit kann sich
etwas verwandeln. Kann sich etwas in Ihnen verwandeln. In der Trauer
liegt eine kreative Kraft, durch die sich irgendwann eine neue Ordnung
auftut.
Zum einen vermag die Trauer über das Verlorene oft
auch den Blick für das Bleibende zu öffnen. Ich entdecke, dass die guten
gemeinsamen Stunden mit der anderen Person nicht einfach
durchgestrichen sind. Oder dass das Leiden an der ungewollten
Kinderlosigkeit uns als Paar mehr zusammengeführt hat. Vielleicht blitzt
dann sogar ein Gefühl von Dankbarkeit auf … Dankbarkeit streicht die
Trauer nicht durch, doch sie bewahrt das Herz vor der Verzweiflung. Und
dazu kann ich mich entschließen: Dass ich anerkenne, was Dankbarkeit in
mir weckt.
Zum anderen kann die Trauer uns Möglichkeiten
entdecken lassen, die wir bislang übersehen haben, weil wir auf unseren
bisherigen Lebensentwurf fixiert waren. Sie kann unsere Fähigkeit zur
Wandlung wachrufen und den inneren Raum schaffen, einen neuen Anfang zu
setzen. Wo sich eine Tür schließt, öffnet sich eine neue.
Praxistipp
„Was habe ich unwiederbringlich verloren und
worüber trauere ich?“ – Mit dieser Frage im Sinn können Sie spazieren
gehen und Ausschau halten nach einem Gegenstand, der etwas von diesem
Kostbaren symbolisiert, das Sie verloren haben. Dann wählen Sie einen
besonderen Ort aus, an dem Sie den Gegenstand niederlegen und auf diese
Weise den Verlust und den Kummer, den Sie spüren, symbolisch ausdrücken.
Sie können diesen Ort immer wieder aufsuchen, um mit neuen Zeichen den
Verlust und ihre Trauer darzustellen. So wächst mit der Zeit ein
kleiner Trauerhügel.
„Das Leben ist das, was einem zustößt, während man gerade eifrig
andere Pläne schmiedet.“ Dieser Satz von John Lennon kam mir im
vergangenen Jahr oft in den Sinn. Ich hatte geplant, nach einem
erfüllten Sommer mein Buch fertigzustellen, mit Freunden durch die
herbstlichen Wälder zu wandern, mir Zeiten der Stille zu gönnen und mit
meiner Gemeinschaft schöne Stunden zu verbringen. Doch es kam ganz
anders: Ein mir nahestehender Mensch hatte einen Unfall und mir war
klar: „Hier bin ich gefordert!“ Kaum kam ich bei der besagten Person an,
um sie zu unterstützen, packte mich eine hartnäckige Erkrankung, die
mich über mehrere Monate im Griff hielt.
Sich für andere Aspekte des Lebens öffnen
Auch wenn die altertümliche Formulierung „sich in eine Situation
ergeben“ nach lebensfeindlicher Selbstaufgabe klingt: In ihr liegt etwas
Humanes! Denn sich zu ergeben ermöglicht, sich aus einem krampfhaften
Dauerkampf zu befreien und wieder offen zu werden für andere Aspekte des
Lebens. Gerade das Eingeständnis der Ohnmacht kann zum unerwarteten
Wendepunkt werden: Im Tiefpunkt der Krise lassen wir alle konkrete
Hoffnung auf eine Wiederherstellung des alten Lebens fahren und haben
noch keinen blassen Schimmer vom neuen. Und genau durch dieses Lassen
kann der Tiefpunkt – wie beim Buchstaben U – zum Wendepunkt werden und
sich unverhofft die Zuversicht einstellen, dass selbst in der
allergrößten Not noch nicht das letzte Wort gesprochen ist. Damit
verbunden: Wer das Schwere anerkennt und sagt: „Das gehört dazu!“,
gewinnt neue Kraft: Er oder sie geht den ersten entscheidenden Schritt,
der aus der passiven Opferrolle herausführt, und beginnt, mit dem
Unvermeidlichen zu kooperieren.
All dies zeigt: Sich in eine bestimmte Situation zu ergeben, ist kein Zeichen von Kleinmut, sondern ein Akt der Selbstbehauptung mitten in einer Krise. Konkret kann dies bedeuten: Ich erkenne die Einsamkeit in meiner Liebesbeziehung an, ohne dies der anderen Person oder mir selbst zum Vorwurf zu machen, und ich bleibe ihr wohlwollend zugewandt. Oder: Ich akzeptiere die Macht eines Schicksalsschlags und füge mich in das Unvermeidliche, ohne im Selbstmitleid zu versinken. Ergebung geht also mit der Fähigkeit einher, nicht in geträumte Wunschwelten davonzuschweben, sondern im Hier und Jetzt Fuß zu fassen. In der Folge gewinnen wir eine neue Freiheit, die Aufmerksamkeit auf das zu lenken, was wir tatsächlich vermögen. Wir werden wieder offen für andere Themen und Menschen, denen wir begegnen, und manchmal sogar dankbar für das Gute, das es immer noch gibt. Oder ganz schlicht gesagt: Hören wir auf, sinnlose Kämpfe zu kämpfen, kommen wir besser durch den Tag und schlafen nachts ruhiger.
Es ist zwar unschön, aber wahr: Es gehört zu den
„Geschäftsbedingungen“ unseres Lebens, dass wir uns immer wieder in
Situationen vorfinden, in denen wir uns überfordert, ohnmächtig oder
ausgeliefert fühlen. Wie gelingt es, mit der Unkontrollierbarkeit des
Lebens und den damit verbundenen Gefühlen von Hilflosigkeit und Ohnmacht
gut umzugehen?
Eine gute Gefühlskultur einüben
Hier wird bereits deutlich: Eine gute Gefühlskultur lässt sich
beschreiben und einüben. Folgende drei Schritte kennzeichnen einen
reifen Umgang mit Gefühlen:
Der erste Schritt besteht darin,
die eigenen Gefühle achtsam wahrzunehmen und sie zu benennen. Das hört
sich leichter an, als es bisweilen ist. Manchmal braucht es Zeit und
geduldige Aufmerksamkeit, bis man (wieder) gelernt hat, sich bestimmter
Gefühle bewusst zu werden – etwa auch der eigenen Ratlosigkeit und
Ohnmacht.
Zweitens gilt es darauf zu achten, sich von diesen
Gefühlen weder überfluten noch wegschwemmen zu lassen. Wenn wir bewusst
die Rolle einer Beobachterin oder eines Zuschauers einnehmen, dann
identifizieren wir uns nicht mit unseren Gefühlen – und dies eröffnet
einen inneren Freiraum: Dann muss man nicht mehr instinktiv auf den Reiz
reagieren.
Im Interview hat Melanie Wolfers vergangene Woche verraten, warum sie ein Buch über die „Ohnmacht“ geschrieben hat. Diese Woche erläutert sie, wie Ohnmachtsgefühle entstehen – und wie sie sich entkräften lassen.
Gefühle bringen Farbe ins Leben und haben uns Wichtiges zu sagen. Aber sie können unsere Sicht auf die Wirklichkeit auch verzerren: Man kann etwa blind vor Wut oder blind vor Liebe sein. Auch das Ohnmachtsgefühl kann einem etwas vormachen. Vielleicht haben Sie als Kind einmal erlebt, wie eine Fliege auf einem Lampenschirm einen gigantischen Schatten an die Wand geworfen und Sie geängstigt hat. Doch dann haben Sie die Ursache entdeckt und erleichtert aufgeatmet. Ähnlich wirken Erlebnisse, die Angst und Ohnmacht in uns wecken, oft wie Figuren aus einem Schattenspiel. Auf der Projektionsfläche sehen sie groß und bedrohlich aus. Schauen wir aber hinter die Kulissen, so nehmen wir ihre wahre Größe beziehungsweise Kleinheit wahr.
Wer sich in einer Situation hilflos oder total unsicher und ängstlich fühlt, tut daher gut daran, seiner Wahrnehmung eine gewisse Skepsis entgegenzubringen und einen Abgleich mit der Realität durchzuführen. Zum einen können wir den Scheinwerfer in unser Inneres richten und uns fragen:
- Was empfinde ich gerade?
- Wie habe ich die Situation spontan im ersten Augenblick bewertet?
- Spielen in meine pessimistische Bewertung möglicherweise alte Wunden oder Reaktionsmuster mit hinein?
herum passiert, und nach Wegen der Bewältigung suchen, kommt es zu einer permanenten Neubewertung der Situation. Und diese beeinflusst allmählich wiederum unsere Gefühlswelt.
Situationen neu bewerten
Vielleicht
kennen auch Sie das: Manchmal führt die Neubewertung der Situation
dazu, dass sich das Ohnmachtsgefühl wie Nebel im wärmenden Morgenlicht
auflöst. Ich erkenne, dass ich mich getäuscht habe, und atme
erleichtert auf. In anderen Fällen bestätigt ein Fakten-Check den Ernst
der Lage, aber zugleich entdecke ich auch Handlungsspielräume – und dies
weckt Zuversicht und die Entschlossenheit zu handeln. Alles in allem:
Es lohnt sich, den Kopf einzuschalten. Manchmal wird dann aus einem
Elefanten eine Mücke.
Praxistipp:
Wenn Sie in Ihrem Leben auf Überzeugungen
stoßen sollten wie: „Ich lerne das nie …“, oder: „Ich schaffe es einfach
nicht …“, dann tun Sie gut daran, diesen nicht einfach blind zu
glauben, sondern sie anhand von vier Fragen kritisch durchzuspielen.
2. Alternativen: Vom Alter abgesehen, welche anderen Gründe könnte es geben, dass du das bisher noch nicht gelernt hast?
3. Was wäre, wenn … : Welcher Schaden könnte entstehen, wenn du es einfach mal versuchst?
4. Nutzen: Helfen dir diese pessimistischen Gedanken, bringen sie dich weiter?
MK: Angesichts des Kriegs in der Ukraine fühlen sich derzeit viele Menschen den großen politischen Entscheidern gleichsam ohnmächtig ausgeliefert. Ist das der Grund, warum Sie ein Buch über die „Ohnmacht“ geschrieben haben?
WOLFERS: Ich stehe im Kontakt mit vielen Menschen: Manche begleite ich seelsorgerlich, andere kommen bei Veranstaltungen oder aufgrund meines Podcasts auf mich zu. Und da ist mir aufgefallen, dass viele immer mehr unter den Gefühlen von Ohnmacht und Hilflosigkeit leiden. Da sind zum einen die gesellschaftlichen Krisen – Pandemie, Ukraine-Krieg und die Klimakatastrophe. Aber auch viele persönliche Grenzerfahrungen, wo Menschen sich ausgeliefert und überfordert erleben. Ohnmacht ist ein schreckliches Gefühl. Als ob einem der Boden unter den Füßen weggezogen wird. Und doch gehört es als eine Facette zu unserem Leben. Mit meinem Buch möchte ich zeigen, wie es gelingen kann, dass wir uns nicht auf Dauer von der Ohnmacht lähmen lassen. Und wie wir mitten in allen Herausforderungen und Krisen unsere inneren Kräfte freilegen.
MK: Wie gehe ich am besten mit Ohnmachtsgefühlen um?
WOLFERS: Ein wichtiger Punkt scheint mir zu sein, zuerst einmal dieses Gefühl wahrzunehmen, also im emotionalen Schlamassel anzukommen und mit jemand darüber zu sprechen. Und zugleich ist es wichtig, einen Realitäts-Check zu machen. Denn Gefühle können die Wirklichkeit auch verzerren. Mit der Folge, dass sich manche ohnmächtig fühlen, beispielsweise in einer Beziehung – obwohl sie gar nicht ohnmächtig
sind. Und mir schließlich die Frage stellen: Bin ich tatsächlich ohnmächtig? Oder gibt es Handlungsspielräume?
MK: Kann ich meine Ohnmachtsgefühle auch vollständig überwinden und so die Kraft entdecken, die in mir wohnt, wie es der Untertitel Ihres Buchs nahelegt?
WOLFERS: Es gibt eine gute und eine schlechte Nachricht. Die schlechte Nachricht: Ohnmachtserfahrungen gehören unausweichlich zu unserem Leben. Die gute Nachricht: Wir sind diesem Erleben nicht hilflos ausgeliefert, sondern können auf sieben Kräfte bauen, die uns in der Not tragen und positive Energie freisetzen. In meinem Buch entfalte ich diese sieben sinnstiftenden Haltungen, nämlich: Dankbarkeit, Freude, Vertrauen, Verzeihen, Zuversicht, tatkräftig Hoffen und Innehalten. Das Gute ist: Alle Menschen sind – wenn wohl auch in unterschiedlichem Maße – fähig, dass sie diese Haltungen entwickeln und vertiefen. Ja, jeder Mensch ist innerlich sehr viel reicher, als er ahnt!
(Interview: Karin Hammermaier, Redakteurin der Münchner Kirchenzeitung)
REINGELESEN
Dem Ohnmachtsgefühl ausweichen
Ohnmacht zu erleben, ist ein scheußliches Gefühl! Als ob einem der Boden unter den Füßen weggezogen wird. Man fühlt sich wehrlos, ausgeliefert und schwach. Oft geht dieses Empfinden damit einher, dass wir uns als unfähig oder unzulänglich, als minderwertig oder wertlos, als gelähmt oder gedemütigt erleben. Mit allen Fasern unseres Körpers wollen wir uns befreien von dem bedrohlichen Gefühl, dass uns die Hände gebunden sind und der eigene Wille außer Kraft gesetzt ist. All dies weckt verschiedenste Gefühle: Angst und Wut, Empörung und Trauer, Schuld und Verzweiflung, Lähmung und Depressivität. Auch für psychisch stabile Menschen bedeutet es extremen Stress, wenn ihnen plötzlich die Kontrolle über ihr Schicksal entgleitet und sie zum Spielball der Ereignisse werden. Denn im Erleiden von Ohnmacht werden wir Menschen in unserem sensibelsten Punkt getroffen und geschwächt: in unserem Selbstwertempfinden. Zu diesem gehört nämlich die Erfahrung, selbst etwas in die Hand nehmen und bewirken zu können. Hinzu kommt, dass wir in einer Gesellschaft leben, in der Autonomie und Selbstbestimmung hochgeschätzt werden und im Gegenzug Ohnmacht und Angst als verächtlich gelten. Sich schwach und hilflos zu fühlen ist einfach nicht angesagt! Das Gefühl der Ohnmacht gehört zu den am stärksten abgewehrten Gefühlen der modernen Gesellschaft. Es gibt einige typische Fluchtrouten, um dem Ohnmachtsgefühl auszuweichen. Vermutlich sind auch Ihnen einige davon vertraut ... Eine häufige Vermeidungsstrategie liegt darin, das eigene Unbehagen zu betäuben oder sich abzulenken. Manche stopfen sich mit Essen voll oder gehen einkaufen, flüchten in die Weiten des Internets oder stecken sich Kopfhörer mit Noise-Cancelling ins Ohr. Andere sind ständig „busy-busy“ nach dem Motto: „Egal was: Hauptsache, ich bin beschäftigt und komme nicht zur Besinnung!“ Als ob einen die Wahrheit des eigenen Lebens nicht einholen könnte, solange man für sie keine Zeit hat …
(entnommen aus Melanie Wolfers’ Buch „Nimm der Ohnmacht ihre Macht – Entdecke die Kraft, die in dir wohnt“, bene! Verlag, Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG)