Melanie Wolfers - Die Kunst, mutig zu sein
Ich habe in meinem Leben schon oft erfahren, dass Gott mir zur Seite steht. Und ich glaube doch eigentlich, dass er auch mein Fallen ‚unendlich sanft in seinen Händen hält‘, wie Rainer Maria Rilke es ausdrückt. Dennoch schwappt immer wieder Panik in mir hoch, wenn ich an die schwere Operation denke, die auf mich zukommt. Selbst beim Beten.“ Von sich selbst spürbar enttäuscht erzählt eine etwa 50-Jährige von ihren Nöten. Zu ihrer Angst vor der anstehenden Operation kommt die Enttäuschung hinzu, dass sie von sich erwartet, keine oder doch zumindest weniger Angst zu haben – denn schließlich glaube sie doch an Gott.
Ein weit verbreitetes Missverständnis! Viele sehen Angst als ein Hindernis auf ihrem Weg zu Gott. Sie meinen, ihre Angst sei ein Zeichen dafür, dass sie zu wenig glauben und vertrauen. Es enttäuscht und verunsichert sie, dass selbst das Gebet ihre Furcht nicht auflöst, und sie fragen sich: „Was mache ich bloß falsch beim Beten?“
Die Bibel spricht da eine ganz andere Sprache: Die Psalmen, das wichtigste biblische Gebetbuch, sind gewoben aus Klagerufen und angstvollem Schreien zu Gott – wie auch aus Jubelliedern und dankbarem Vertrauen. Glaube und Angst schließen einander nicht aus! Auch Jesus hat dieses erfahren. Als er ahnt, dass ihm ein gewaltsames Ende droht, packt ihn die Angst. Er schreit zu Gott. Er nimmt seine Angst ins Gebet, lässt sie zu, spricht sie aus. Durch all das wird Jesus nicht von seiner Angst befreit. Wohl aber, so erzählt das Lukas-Evangelium, wird er fähig, mit und trotz seiner Angst seinen Weg weiterzugehen (vgl. Lukas 22,39–46). Er bleibt sich und seinem Gott treu.
Mut ist Angst, die gebetet hat, formuliert Corrie ten Boom, eine niederländische Widerstandskämpferin im Dritten Reich. Viele Menschen erfahren ihren christlichen Glauben als einen Resonanzraum, in dem ihre Angst zur Sprache kommen kann. Die Angst vor einer Operation, einem Examen, dem Sterben des Partners, dem Verlust des Arbeitsplatzes. Aber auch die Furcht vor Krieg und Terror, vor Hass und Gewalt. Und manchmal stellt sich im Gebet das leise Ahnen ein, dass ich mit meiner Angst nicht allein bin. Als ob in der Tiefe des eigenen Herzens ein Licht schimmern würde. Als ob ich von innen her liebend angeschaut würde. Das weckt Vertrauen und Mut.
Eine vielsagende Redewendung: Vertrauen wecken. Sie deutet an, dass es unter aller Angst und Verzweiflung ein tragendes Vertrauen gibt. Oft schlummert es oder wird verdeckt von negativen Erfahrungen. Aber es kann geweckt werden. Da ist es einer Person klamm ums Herz – und eine Begegnung, ein Sonnenstrahl an grauen Tagen oder ein Bibelwort rufen unverhofft Vertrauen in ihr wach. Und sie spürt neue Zuversicht.
Sich zu entscheiden braucht Mut. Denn egal, ob man ein heikles Thema anspricht, sich früh pensionieren lässt oder sich für jemanden einsetzt – in all diesen Situationen lässt man sich auf ein Geschehen mit offenem Ausgang ein. Man geht das Wagnis ein, dass man möglicherweise falsch liegt oder enttäuscht wird. Denn ob das Gespräch gelingt oder ob unser Engagement zum Erfolg führt, haben wir nicht 100 prozentig im Griff.
Jede bedeutsame Entscheidung bleibt ein Wagnis! Kein Wunder, dass viele es vorziehen, sich gar nicht erst zu entscheiden. Lieber belassen sie alles beim Alten, als dass sie Neues wagen – selbst dann, wenn sie sich mies fühlen. Doch der schlechteste Weg, den man wählen kann, ist der, keinen zu wählen! Unglück entsteht oft weniger aus Fehlentscheidungen als aus fehlenden Entscheidungen. Denn wenn wir nicht entscheiden, dann entscheiden andere oder anderes über uns: der Lauf der Zeit, Umstände oder Menschen mit ihren gutgemeinten Ratschlägen.
Leben lässt sich nicht aufschieben
Ehrlich gesagt: Es überrascht mich, wie viele Menschen ihr Leben führen, als hätten sie danach noch eins und noch eins und noch eins … Aber Leben lässt sich nicht aufschieben! Entweder ich ergreife es hier und jetzt – oder lasse es an mir vorübergleiten. Entweder ich verschlafe es – oder bin wach dabei. Aufwecken kann eine tiefe, unter die Haut gehende Einsicht in die Begrenztheit sein: in die Endlichkeit der eigenen Kraft und Lebenszeit. In die Beschränktheit der Mitmenschen, der natürlichen Ressourcen und der Machbarkeit von Dingen.
Natürlich, der Tod ist ein Totschlagargument. Aber er ist trotzdem ein Argument. Denn er wird kommen, und dann wäre es gut, sagen zu können: Ich habe mein Leben gelebt! Und es nicht nur hingenommen. Um das Leben hier und jetzt beim Schopf zu ergreifen, hilft es, ab und zu vom vorgestellten eigenen Ende her auf das Jetzt zu schauen. Wer wirklich spürt: „Ich habe nur dieses Leben“, entdeckt dessen Kostbarkeit oft mit einer neuen Klarheit. Die Einmaligkeit der Beziehungen und die Bedeutsamkeit des eigenen Tuns treten heller zutage. Und dies kann dazu animieren, intensiver zu leben und beherzter zu entscheiden.
Nicht nur die Angst vor Ungewissheit oder einer möglichen Fehleinschätzung führt in Entscheidungsblockaden. Ebenso schallen innere Alarmglocken angesichts des Preises, den man für eine Entscheidung zahlen müsste. Denn in jeder Entscheidung für etwas scheiden wir andere Möglichkeiten aus. Sich entscheiden bedeutet, zu diesem Ja und zu jenem Nein zu sagen. Wer ein selbstbestimmtes Leben führen will, braucht also den Mut, sich selbst zu beschränken. Und das wird möglich im Blick auf das Größere, zu dem er Ja sagt.
Stellen Sie sich vor, Sie bekommen die Leitung eines weltweiten Unternehmens übertragen. Wie würde es Ihnen gehen? – Vielleicht würden Sie die Ernennung an die Spitze des Unternehmens als eine Ehre empfinden. Vermutlich aber auch als eine Überforderung.
So ist es jenem Mönch ergangen, der im Jahr 1145 zum Papst gewählt worden ist: Eugen III. In seinem Amt entwickelt er sich zu einem klassischen Workaholic. Es ist so viel zu tun, dass er eigentlich nie richtig zur Ruhe kommt. Sein früherer geistlicher Lehrer, Bernhard von Clairvaux, will ihm die Augen öffnen, wie lebensschädigend ein Alltag „eingekeilt in zahlreichen Beschäftigungen“ auf Dauer wirkt. In einem Brief rät er dem Papst, kürzer zutreten: „Es ist viel klüger, Du entziehst Dich von Zeit zu Zeit Deinen Beschäftigungen, als dass sie Dich ziehen und Dich nach und nach an einen Punkt führen, an dem Du nicht landen willst. An den Punkt, wo das Herz anfängt, hart zu werden.“ Für Bernhard ist das „harte Herz“ ein Ausdruck dafür, dass ein Mensch das Gespür für sich und die anderen verloren hat und für das, was jetzt dran ist. Und er fragt ganz direkt: „Wie kannst Du voll und echt Mensch sein, wenn Du Dich selbst verloren hast?“ Und er fährt fort: „Denk also daran: Gönne Dich Dir selbst.“
Die Aufforderung „Gönne Dich Dir selbst!“ steht quer zu zeitgenössischen Versuchen, sich ständig selbst zu optimieren. Wer eigene Grenzen wahrnimmt und wahrt, widersetzt sich dem heillosen Imperativ: „Verbessere dich, denn die Möglichkeiten sind da!“ Ebenso steht der Rat „Gönne dich dir selbst!“ in Spannung zu der Erwartung „Sei vor allem für andere da!“ – eine Erwartung, die gerade in christlichen Kreisen gerne gepflegt wird.
Halt in sich selbst finden
Sich selbst Zeit gönnen: Das klingt simpel – und erweist sich im Konkreten oft als ungeheuer schwer. Und doch: Nur wer regelmäßig innehält, findet Halt in sich selbst. Nur wer regelmäßig bei sich selbst eincheckt, steht im Kontakt mit seinem Innern und wird dem auf die Spur kommen, was ihm wirklich wichtig ist. Besonders intensiv kann man sich selbst begegnen, wenn die Stimmen um einen herum zum Schweigen kommen. In dem Maß, in dem jemand – immer wieder neu – den inneren „Raum der Stille“ aufsucht, wird er oder sie bei sich selbst ankommen.
Ich persönlich erfahre dies auch als ein spirituelles Geschehen. Denn wenn ich näher zu mir selbst finde, erahne ich zugleich einen umfassenderen Grund, der mich und alles von innen her trägt. Und umgekehrt: Je mehr ich in Berührung komme mit dem göttlichen Geheimnis, umso mehr komme ich in Kontakt mit mir und der Welt. Oder wie Bernhard von Clairvaux schreibt: Geh deinem Gott entgegen bis zu dir selbst.
Alle Menschen empfinden Scham. Denn ob es einem passt oder nicht: Dieses unangenehme Gefühl gehört zur emotionalen Grundausstattung von uns Menschen. Wenn Scham nach einem greift, fühlt man sich wertlos, zu klein geraten oder irgendwie ‚daneben‘. Sie vermittelt den Eindruck: „So wie ich bin, bin ich nicht okay!“, und wispert in einem: „Wenn andere dich sehen, wie du wirklich bist, werden sie dich links liegen lassen oder spöttisch belächeln!“ Besonders in nahen Beziehungen entfaltet Scham ihre Macht. Denn nichts ängstigt mehr, als von Menschen, die wir lieben, abgelehnt oder verächtlich belächelt zu werden. Wir schämen uns für unsere Schwächen und fürchten, links liegen gelassen oder angegriffen zu werden. Wir fürchten, nicht mehr als liebenswert zu erscheinen, wenn wir unser inneres Kuddelmuddel outen. Kein Wunder, dass man sich lieber nicht so tief in die Karten schauen lässt, wenn es einem mies geht oder man sich ungenügend fühlt.
Zack! An diesem Punkt schlägt die Falle der Scham zu! Denn Scham bezieht ihre Macht daraus, dass sie einen Mantel des Schweigens ausbreitet über das Gefühl, fehlerhaft zu sein. Sie lebt von Geheimhaltung, denn sie macht einen glaubend: „Wenn andere sehen, wie ungenügend und verletzlich du bist, werden sie dich ablehnen.“
Sich in der Not offenbaren
Es gibt ein wirksames Gegenmittel gegen Scham: Die schambesetzte Geschichte mit Menschen zu teilen, denen wir vertrauen und die gut damit umgehen können. Das kostet viel Überwindung, ja, vielleicht fühlt man sich nackt und entblößt. Doch nur wer es wagt, sich in seiner Not zu offenbaren, kann Empathie erfahren. Und Empathie heilt. Sie gleicht einer Leiter, die einen aus dem Loch herausholt, in das man sich vor lauter Scham verkrochen hat.
Die Verunsicherung im Erleben des eigenen Selbstwertes, die sich in der Scham Bahn bricht, entpuppt sich
in der Tiefe auch als eine spirituelle Verwundung: Wir können nicht mehr glauben, dass wir so, wie wir sind, wirklich liebenswürdig und wertvoll sind. In diese Richtung weist auch die biblische Erzählung, die vom Verlust des Paradieses berichtet: Der Mensch hat seine ursprüngliche Beheimatung verloren. Sein Gespür für seine göttliche Herkunft – und das meint: für das grundlegende Ja, das ihm und allen von jeher gilt – ist beeinträchtigt. Der Mensch hat sich in sich selbst verlaufen und findet nicht mehr zurück.
Es zieht sich wie ein roter Faden durch die Bibel: Gott macht sich immer wieder neu auf die Suche nach dem „verlorenen“ Menschen – in der Hoffnung, dass der Mensch seiner Freundschaft Glauben schenkt. Und nichts anderes will Jesus vermitteln, wenn er die schöne Nachricht verbreitet, dass jeder und jede unendlich geliebt ist.
Wie nehmen wir unseren Ängsten die Macht, uns unsere Kreativität zu rauben? Was stärkt den Mut, die eigenen schöpferischen Kräfte „mit Schmackes“ zum Zug kommen zu lassen?
Ein Erstes: Wenn Angst an mir nagt und mich beispielsweise beim Schreiben eines Artikels blockiert, dann rufe ich mir in Erinnerung: „Es ist ganz normal, dass ich bei meinem kreativen Tun Angst spüre. Denn ich zeige etwas von mir und setze mich dem Urteil anderer aus.“ Dieses Wissen hilft, denn es entdramatisiert meine Not.
Natürlich: Die Angst macht sich dadurch nicht vom Acker. Um mit ihr besser klar zu kommen, nehme ich sie einfach wahr und ernst. Ich versuche, Aug’ in Auge mit ihr zu sitzen. Ihr zuzuhören. Und sie ins Gebet zu nehmen. Oft tritt dann zutage, dass die Angst nicht sehr realistisch argumentiert, sondern eher wie eine Fünfjährige daherkommt. Und welche verängstigte Fünfjährige scheucht man schon fort? Ich nehme meine Angst in den Arm. Und ich frage sie, ob „die Anderen“ tatsächlich mein kreatives Tun peinlich und mich unzulänglich finden. Oder ob sie mir das einredet. Häufig atmen wir dann gemeinsam auf, denn: Ja, so ist es!
Ein Zweites: Das Streben, Dinge 110-prozentig zu erledigen, darf nicht mit dem Bemühen verwechselt werden, etwas besonders gut zu machen. Das Vollkommenheitsstreben soll einem vielmehr Kritik und Tadel vom Hals halten und Anerkennung verschaffen. Perfektionismus ist ein unbewusster Versuch, der eigenen Verletzlichkeit zu entkommen und sich unangreifbar zu machen. Doch weder lässt sich Vollkommenheit erreichen noch können wir unsere Verletzlichkeit ausschalten. Daher lässt sich die Angst vor dem Urteil anderer und vor der eigenen Unzulänglichkeit mit Perfektionismus nicht austreiben. Wer dies versucht, macht den Bock zum Gärtner. Er wird sich noch krampfhafter darin verbeißen, alles 110-prozentig zu machen. Seine schöpferische Ader kommt nicht zum Tragen, und den von ihm geschaffenen Dingen haftet etwas Zwanghaftes an.
Ganz anders, wenn jemand in seinem Tun ganz bei der Sache ist. Wenn sich jemand im besten Sinn selbstvergessen in die Waagschale wirft, anstatt ängstlich auf sich und seine Außenwirkung zu schielen. Für mich unvergesslich: Ein Friedenskonzert von jungen Musikerinnen aus Israel und Palästina mit dem Dirigenten Daniel Barenboim. Hingegeben an die Musik waren die Instrumentalisten nicht Darsteller ihres Könnens, sondern Klangkörper für die Musik. Es kam mir so vor, als ob das Orchester abhebt und zu fliegen beginnt. Und uns alle mitnimmt.
1.300 Höhenmeter bis zum Gipfel. Ich fühle mich fit und breche mit Freunden fröhlich auf. Sie schlagen ein schnelles Tempo an. Ich will mithalten und beiße die Zähne zusammen. Der Aufstieg stresst mich, und als wir auf dem Gipfel ankommen, stiere ich vor Erschöpfung leer vor mich hin.
Wie anders, als ich einige Tage später dieselbe Tour mache. Dieses Mal gehe ich mein Tempo – und genieße den Aufstieg und später dann den gemeinsamen Gipfelblick. Verrückt, was zehn Minuten aus-
machen!“
So lautet ein Tagebucheintrag von mir. Ein Bild des Berggipfels hängt in meinem Zimmer. Darunter habe ich geschrieben: „Geh dein Tempo am Berg! Dich zu vergleichen raubt Freude, Kreativität und Verbundenheit.“
Der ständige Vergleich mit anderen entfernt uns von uns selbst. Dann rennen wir los, schneller als es gut für uns ist, und kriechen nachher auf allen Vieren. Vor allem aber lassen wir uns in unserem Lebensgefühl von außen steuern. Natürlich, Vergleiche und Rankings haben ihre Berechtigung. Das Verführerische liegt darin, dass man sich vergleicht, um sich der eigenen Überlegenheit zu vergewissern. Doch egal, wie der Vergleich auch ausgeht, man gerät unversehens in eine emotionale Achterbahn. Denn ob wir uns zu klein geraten fühlen und uns selbst abwerten, oder ob bei uns scheinbar alles „super“ läuft und wir auf den anderen herabschauen können: Hier gibt es nur Gewinner oder Verlierer. Und beides macht einsam! Beides raubt auf lange Sicht gesehen Nähe und Verbundenheit und macht das eigene Selbstwerterleben äußerst zerbrechlich. „Das Vergleichen ist das Ende des Glücks und der Anfang der Unzufriedenheit.“ (Søren Kierkegaard)
Im Einklang mit sich selbst leben
Beim Bergwandern habe ich gelernt: Um aus dem Sich-Vergleichen herauszukommen hilft nur, ganz bei sich zu bleiben. In dem Maß, in dem jemand in sich ruht, ebbt das Sich-Vergleichen ab. Konkret kann das heißen, vom Kopf, der vergleicht, zum Herzen zu gelangen, das fühlt. Oder die Aufmerksamkeit auf den
eigenen Körper zu lenken und zu spüren, wer wir sind. Es mag sich vielleicht komisch anhören, doch es funktioniert: Wer in Berührung mit sich selbst ist, muss sich das Vergleichen meist gar nicht verbieten. Es kommt ihm oder ihr einfach nicht in den Sinn. Wer sich spürt, erfährt: Ich bin ich. Und dies ist eine Erfahrung, die von allein Selbstwert vermittelt.
Jeder Mensch will zufrieden bejahen können, was er aus sich und seinem Leben macht. Und doch, wer kennt sie nicht: die Angst, aus der Menge mutig herauszutreten und auf der Bühne des Lebens zu erscheinen? Denn dadurch lassen sich schnell Sympathiepunkte verspielen …
Kein Wunder, dass wir Menschen oft ein meisterhaftes Gespür für unser Umfeld entwickeln. Wir wissen genau, was wir tun und lassen müssen, was wir anziehen, worüber wir sprechen und was wir besser nicht erwähnen sollten, um in der jeweiligen Situation akzeptiert zu werden. Doch das Streben, sich möglichst reibungslos anzupassen, um dazuzugehören – zum Arbeitsteam, zur Familie, zur Nachbarschaft –, entfernt einen schleichend von sich selbst. Natürlich: Wir müssen uns aufeinander einstellen und Wünsche und Pflichten miteinander abstimmen! Doch wer sich zu sehr anpasst, um dazuzugehören, entfremdet sich von sich selbst. Und von anderen.
An diesem Punkt herrscht ein weit verbreitetes Missverständnis: Viele bringen die Begriffe „dazugehören“ und „sich anpassen“ in einen engen Zusammenhang. Nach dem Motto: „Wenn ich mich anpasse, gehöre ich dazu.“ Doch das ist ein Trugschluss! Denn wer sich durch allzu große Anpassung verbiegt, verhindert gerade das, was er ersehnt: sich aufrichtig mit anderen verbunden zu fühlen. Wahre Zugehörigkeit entsteht in dem Maß, in dem wir zu uns stehen und uns mutig ins Spiel bringen. Und Nähe entwickelt sich
in dem Maß, in dem wir uns einander in aller Offenheit zeigen.
Auf den Punkt gebracht: Wenn ich Zugehörigkeit und Anpassung verwechsle, dann werde ich permanent Witterung aufnehmen für das, was angesagt ist – für Moden und Trends, für die Meinungen und Erwartungen anderer. Und in der Folge werde ich alles Erforderliche tun, um mich einzufügen. Um zu der Person zu werden, die ich angeblich sein muss, um akzeptiert zu werden. Doch es führt in die Irre, zu meinen, dass sich auf diese Weise das Bedürfnis stillen ließe, Teil von etwas Größerem zu sein. Denn Zugehörigkeit entsteht allein dort, wo wir uns möglichst authentisch zeigen. Und wo wir als die Person umarmt werden, die wir tatsächlich sind. Zugehörigkeit erfordert also, dass wir uns mutig zeigen und uns einander zumuten.
Es zeigt sich: Die Sehnsucht nach einem Leben im Einklang mit sich selbst und nach Verbundenheit mit anderen gehören zusammen. Aus christlicher Perspektive kommt in dieser Dynamik die göttliche „dynamis“ zum Tragen, der Heilige Geist. Wir dürfen darauf vertrauen, dass jeder Mensch vom göttlichen Geist beseelt ist. Gott sei Dank!
Jeder Mensch will mutig sein! Ja, Mut übt eine universale Anziehungskraft aus. Und jeder hat eine Ahnung von dem Glück, das darin liegt, beherzt zu leben. Aber oft hält Angst einen davon ab, das eigene Leben mit beiden Händen zu ergreifen. Etwa: Da sagt jemand Ja, obwohl er Nein meint. Da scheut jemand vor einer Entscheidung zurück aus Angst, etwas falsch zu machen. Oder man fühlt sich mies und elend – und bleibt doch lieber im vertrauten Unglück hocken als Neues zu wagen. Zugleich haben es viele satt, immer nur vorsichtig, quasi unter Vorbehalt zu leben. Sie wollen mutig leben. Aus vollem und ganzem Herzen.
Unter Mut wird häufig verstanden, sich in außergewöhnlichen Situationen heldenhaft zu verhalten. Doch sein eigentliches Revier ist der konkrete Alltag! Egal, ob Sie eine Entscheidung treffen, ob Sie jemandem Ihre Liebe eingestehen oder in einer Konferenz eine unkonventionelle Idee präsentieren – in all diesen Situationen sind Sie mutig. Denn ob Ihre Entscheidung sich als richtig erweist oder eine ganz andere Wendung nimmt. Ob Ihre Liebe erwidert wird oder im Leeren verhallt. Ob Ihre Idee vom Team aufgegriffen oder belächelt wird – all das entzieht sich Ihrer Kontrolle und ist ein Geschehen mit offenem Ausgang. Daher braucht es in diesen Augenblicken Mut.
Mutigsein bedeutet: Wir bringen uns selbst ins Spiel. Wir machen uns emotional berührbar und lassen uns auf etwas ein, dessen Ausgang ungewiss ist. Und damit gehen wir zugleich das Risiko ein, enttäuscht oder verletzt zu werden. Denn in dem Maß, in dem wir uns ins Leben hineinwerfen, riskieren wir, dass wir uns Schrammen und blaue Flecken holen. Das beginnt bereits beim Laufenlernen … Und dieser Mut ist es, der die Tür zum Leben öffnet!
Doch mit der Verletzbarkeit ist das so eine Sache! Viele halten Verletzlichkeit für eine peinliche Schwäche. Und denken: Wer sich genügend anstrengt und auch nur ein bisschen Mumm in den Knochen hat, überwindet sie! Schwach zu sein, ist einfach nicht angesagt!
Aber die Annahme, dass Verletzbarkeit eine vermeidbare Schwäche sei, ist in zweifacher Hinsicht falsch. Erstens lässt sich Verwundbarkeit nicht abschalten wie ein lästiges Störgeräusch. Sie gehört einfach zu uns. Erst wer sie als Teil seines Lebens anerkennt, wird mit verunsichernden und schmerzhaften Erfahrungen besser umgehen können.
Zweitens – und darin liegt für mich eine der überraschendsten Einsichten in meiner Auseinandersetzung mit dem Thema Mut: Unserer Verletzlichkeit wohnt eine humane Kraft inne. Sie steht am Ursprung unserer vitalsten Erfahrungen! Es ist nämlich dieselbe weiche Seite am Menschen, der nicht nur Trauer und Schmerz entspringen, sondern auch Liebe und Zugehörigkeit, Freude und Solidarität. Denn ganz gleich, ob wir jemanden über alles lieben, wir uns zu uns selbst bekennen oder für eine Sache leidenschaftlich kämpfen – in all diesen Situationen machen wir uns berührbar. Und damit auch verwundbar.
Liebe ist nichts für Feiglinge
Vertrauen fällt nicht vom Himmel! Es ist und bleibt ein Wagnis, einander zu vertrauen: Einerseits brauchen wir Sicherheit in unseren Beziehungen, um uns öffnen zu können. Andererseits aber wächst die Gewissheit: „Ich kann auf dich bauen“ allein in dem Maß, als wir das Risiko eingehen, jemandem Vertrauen zu schenken. Vertrauen ist wie das Gehen über eine Brücke, die gerade erst – und zwar Schritt für Schritt – gebaut wird. Wir müssen den jeweils nächsten Schritt wagen und damit das Risiko eingehen, möglicherweise auf die Nase zu fallen. Wenn wir erleben, dass sich der mutige Vertrauensvorschuss bewährt, so kann das Vertrauen weiter wachsen. Vertrauen verdankt sich einem mutigen Brückenschlag. Und Nähe ist das Ergebnis von riskierter Verletzlichkeit!
Das gilt für jede Beziehung – ob in Beruf, Nachbarschaft oder Verein, ob in Freundschaft oder Liebe. Je mehr uns jemand bedeutet, umso näher lassen wir ihn oder sie an uns heran. Umso berührbarer sind wir. Und umso sensibler und verwundbarer.
Großartig drückt dies C. S. Lewis aus: „Lieben heißt, verletzlich zu sein. Liebe irgendetwas, und dein Herz wird mit Sicherheit durch einen Schleudergang gehen und vielleicht gebrochen. Wenn du sicherstellen willst, dass ihm nichts passiert, darfst du es niemanden schenken, nicht einmal einem Tier. Verpack es sorgfältig in Hobbys und ein wenig Luxus, meide jede Verwicklung. Verwahre es sicher in der Schatulle oder dem Sarg deiner Selbstsucht. Aber in dieser Schatulle, sicher, dunkel, unbeweglich, ohne Luft, wird es sich verändern. Es wird nicht gebrochen werden, es wird unzerbrechlich, undurchlässig, hoffnungslos. Lieben heißt, verletzlich zu sein.“ Freundschaft und Liebe sind nichts für Feiglinge! Vertrauen und Liebe schenken ist bisweilen ganz schön schwierig. Aber es ist eben auch schön schwierig, denn darin gewinnt das Leben eine neue Schönheit und Stimmigkeit.
Passwort
jeder mensch
ein verwunschener turm
von sich selber hinter schloss und riegeln gebracht
bewegungsmelder lösen alarm aus
komm mir nicht zu nah
unübersehbar das warnschild
vorsichtig bissiger mensch
keine brechstange
kein raffinierter dietrich
nur ein schlüsselwort
sesam öffne dich
zärtlich gesprochen
DU
vielleicht entriegele ich
die sperrkette der angst
und aus dem spaltbreit
ein leises willkommen
(Andreas Knapp)