Melanie Wolfers - Die Kunst der klugen Wahl
Ich stehe vor einer Entscheidung und weiß einfach nicht, was im Sinne Gottes ist. Wie kann ich den Willen Gottes erkennen?“ Diese Frage hat mir vor wenigen Tagen eine junge Erwachsene gestellt. Viele verbinden mit der Rede vom „Willen Gottes“ die Vorstellung: Gott habe für jede Person ein fertiges Lebensmanuskript entworfen, das man nun möglichst wortgetreu nachsprechen solle. Aber diese Vorstellung entspricht nicht dem biblischen Gottes-bild! Denn der Gott Jesu Christi will einen freien Menschen, der verantwortlich entscheiden kann.
Grundsätzlich gilt: Um eine gute Entscheidung treffen zu können, braucht es eine dreifache Aufmerksamkeit: auf die eigenen Stärken und Grenzen; auf die eigenen Ziele, Wünsche und Werte; und auf die konkrete Wirklichkeit mit ihren Anforderungen und Möglichkeiten. Aus Sicht der jüdisch-christlichen Tradition haben die drei Pole einer tragfähigen Entscheidung eine zentrale spirituelle Bedeutung. Denn in ihnen bringt sich Gott zu Gehör.
Thesenhaft auf den Punkt gebracht: Respektieren wir die Koordinaten unseres Daseins – unsere Begabungen und Grenzen –, dann achten wir zugleich das Leben selbst. Biblisch gesprochen: Respektieren wir uns selbst, dann achten wir zugleich den Schöpfer, der ein Freund des Lebens ist und ein Leben in Fülle für alle will (vgl. Joh 10,10ff.). Nach dem Willen Gottes fragen heißt also, nach dem eigenen Können zu fragen.
Auf die zweite „Erkenntnisquelle“ weist die Mystikerin Teresa von Ávila pointiert hin: „Wer nicht weiß, was er will, weiß auch nicht, was Gott von ihm will.“ Welch eine kühne Aussage! Sie lenkt die Aufmerksamkeit auf die Sehnsucht des Menschen. In der Sehnsucht drückt sich eine göttliche Kraft aus – der Heilige Geist –, die jeden Menschen beseelt. Wie ein Kompass zeigt sie den Weg zum erfüllten Leben an. Nach dem Willen Gottes fragen heißt also, nach der eigenen Sehnsucht zu fragen. Nach dem, was ich wirklich wirklich will.
Und schließlich gilt es, die konkreten, „zufälligen“ Ereignisse und Begegnungen im Alltag in den Blick zu nehmen. Denn das ganz normale menschliche Leben ist das bevorzugte Gelände, in dem sich Gottes Spuren finden lassen. Nach dem Willen Gottes fragen heißt also, nach dem zu fragen, was jetzt dran ist. Das Betrachten der Person Jesu und das Hören der kirchlichen Traditionen kann das Gespür schärfen für das, was hier und jetzt mehr der Gerechtigkeit und Liebe entspricht. Und darin – in Gerechtigkeit und Liebe – liegen aus Glaubenssicht die entscheidenden Kriterien! Geht einer Person in ihrem Abwägen und Beten auf, was in ihrer speziellen Situation die passendere Entscheidung ist, dann kann und soll sie sich auf ihre innere Stimme verlassen. Auf ihr Gewissen.
Um zu einer guten Entscheidung zu finden, gilt es nicht allein, die Scheinwerfer nach innen zu richten und sich zu fragen: Was kann ich? Und was will ich? Vielmehr gilt es zugleich, die Augen für die konkrete Realität zu öffnen und sich zu fragen: Was will die Situation von mir? Was soll ich? Denn die konkreten Gegebenheiten geben den Spielraum vor, was möglich ist. Und was nicht. Daher braucht es eine gute Balance zwischen dem, was man anstrebt, und den Möglichkeiten, die sich anbieten. Und dies ist alles andere als selbstverständlich! Dies zeigt sich etwa dann, wenn jemand – getrieben von Ehrgeiz – Luftschlösser baut und irgendwann erbarmungslos abstürzt. Ein gesunder Realismus hingegen gibt Boden unter den Füßen.
Ansprechende Wirklichkeit
Ein Zweites: Die Wirklichkeit, der wir begegnen, hat uns etwas zu sagen! Sie spricht an, irritiert, lädt ein, fordert heraus ... Vielleicht kennen auch Sie Erfahrungen, in denen das Leben Ihnen etwas zuruft: Da werden Ihnen unverhofft Bälle zugespielt oder Brocken vor die Füße geworfen und Sie merken: „Da will, ja da muss ich Position beziehen und mich kümmern. Das darf ich nicht links liegen lassen!“
So ging es etwa jener Frau, die gebeten wurde, für den Betriebsrat zu kandidieren. Sie hörte sich um, wo ihren Kolleginnen und Kollegen der Schuh drückt. Und als sie die Probleme sah, zauderte sie nicht länger, sondern beschloss, sich zur Wahl aufstellen zu lassen.
Für eine solch dialogische Begegnung mit der Wirklichkeit braucht es Zeit! Wer hingegen mit Überschallgeschwindigkeit durchs Leben rast, hochaktiv und ständig auf Achse, dem vergehen bei diesem Tempo Hören und Sehen. Und es braucht die Bereitschaft zu hören. Zu sehen. Sich berühren zu lassen.
Die Augen öffnen
Die biblischen Autoren sind davon überzeugt: Gott kommt uns in jenen entgegen, die uns brauchen. Menschen, die am Rand stehen, die bedrängt und heimatlos sind. Jesus lebt aus dieser Gewissheit. Entsprechend lehrt er eine „Mystik der offenen Augen“ (Johann Baptist Metz). Deren Leitsatz lautet: „Aufwachen! Die Augen öffnen!“
In biblischer Sicht gibt es eine unbedingte Pflicht, die Probleme und Nöte anderer an sich herankommen zu lassen und zu lindern. Doch ein nüchterner Blick ins eigene Leben und in die Welt zeigt: Die Augen zu öffnen und wirklich sehen zu wollen braucht Mut. Es gibt so etwas wie eine hartnäckige Angst vor dem genauen Hinsehen. Vor jenem Blick, der mich ins Gesehene verstrickt und nicht einfach unbeteiligt weitergehen lässt.
Können Sie mir bitte sagen, wo ich hinwill?“ – Mit dieser kuriosen Frage, die er an Passanten richtete, bringt der berühmte Komiker Karl Valentin die verbreitete Orientierungslosigkeit auf den Punkt. Worauf kommt es mir an? Wofür schlägt mein Herz? Wozu sage ich Ja im Leben? Und wozu Nein? – Diese Fragen stellen sich, wenn wir nach einer richtigen Entscheidung suchen. Entwickeln wir eine Vorstellung von dem, was für uns wirklich von Bedeutung ist, steht uns ein innerer Kompass zur Verfügung. Mit dessen Hilfe können wir uns orientieren, wenn wir auf eine Weggabelung stoßen und die verschiedenen Alternativen und Ziele abwägen. Daher gehört es mit zum Wichtigsten im Leben zu wissen, was wir wirklich wollen.
Der innere Orientierungssinn ist also gefragt – und der gerät schnell unter die Räder. Wie leicht übertönt das Alltagsrauschen die leise Stimme der Sehnsucht. Im eng getakteten Leben findet sie nur schwer Gehör. Sorgen, Enttäuschungen oder auch die Erwartungen anderer können sie fast zum Schweigen bringen. Und oft melden sich Tageswünsche vorlaut zu Wort – angefeuert durch die Werbetrommel der Konsumgesellschaft – und übertönen die tieferen Herzenswünsche. Nur wer den Mut aufbringt, sich Stille zu gönnen, und regelmäßig bei sich selbst einkehrt, wird die innere Stimme in neuer Klarheit vernehmen.
Imaginationsfragen können Klarheit bringen
Um deutlicher in den Blick zu bekommen, worauf es einem ankommt, erleben viele Menschen Imaginationsfragen als hilfreich. Denn diese sprechen nicht nur das Denken an, sondern den ganzen Menschen: Emotionen, Träume, Phantasien, Körper, Herz, Intuition … Wenn Sie sich folgenden Fragen zuwenden wollen, empfiehlt es sich daher, sie spontan zu beantworten.
- Angenommen, ich hätte zwei Leben zur Verfügung – wie würde mein zweites Leben aussehen?
- Was ist mir das Risiko wert, mich dafür mit all meiner Kraft einzusetzen, selbst wenn ich scheitere?
- Welche Menschen beeindrucken mich? Und warum?
- Welches Bild von der Person Jesu –aus der Kunst, Literatur oder Bibel – spricht mich besonders an?
- Wenn ich einem Menschen, der heute geboren wird, einen einzigen Rat mit auf seinen Lebensweg geben sollte: Wie würde der lauten?
Abschließend können Sie Ihre Antworten betrachten und sich fragen:
- Sehe ich in meinen Antworten einen roten Faden, eine tiefer liegende Sehnsucht, die sich durchzieht?
- Wie passen meine Sehnsüchte zu dem, was ich vom Evangelium verstanden habe?
Die Antwort auf die Fragen „Was willst du? Wofür lebst du?“ kann und
darf Ihnen niemand abnehmen. Denn die Frage nach dem Sinn des eigenen
Lebens lässt sich nur persönlich beantworten. Nur Sie selbst können
entdecken und entfalten, welche Ziele und Werte Ihrer innersten
Sehnsucht entsprechen. Und dies geht allein im Dialog mit sich und mit
der Welt. Und mit dem Urgrund des Lebens, mit Gott.
Das Leben ist von mehr Ungewissheit und Chaos durchzogen, als einem oft lieb ist. Dies erschwert auch das Treffen von Entscheidungen. Eine gelingende Wahl baut darauf auf, dass wir unseren Stärken und Schwächen, unserer Biografie und Persönlichkeit Rechnung tragen. Denn diese bilden das Fundament, auf dem eine Entscheidung aufruht.
Das bedeutet: In allem, was Ihnen leicht von der Hand geht, woran Sie Freude haben, was Ihren Begabungen entspricht und was Sie sich im Lauf Ihres Lebens angeeignet haben – in all dem liegt ein Wink für eine gute Wahl. Wenn Sie die Potenziale berücksichtigen, die Sie in sich tragen, weckt dies Lebendigkeit und Freude. Eng damit verbunden: Sie geben das, was nur Sie zu geben vermögen. Sie verändern und bereichern Ihr konkretes Umfeld. Und das tut gut. Sie tun gut!
Allen wohnt ein göttliches Licht inne!
In einem bekannten Text der Pfarrerin Marianne Williamson heißt es:
„Du bist ein Kind Gottes. Dich klein zu machen nützt der Welt nicht. Es zeugt nicht von Erleuchtung, sich zurückzunehmen, nur damit sich andere Menschen um dich herum nicht verunsichert fühlen. Wir alle sind aufgefordert, wie die Kinder zu strahlen. Wir wurden geboren, um die Herrlichkeit Gottes, die in uns liegt, auf die Welt zu bringen. Sie ist nicht in einigen von uns, sie ist in jeder und jedem. Und indem wir unser eigenes Licht scheinen lassen, geben wir anderen Menschen unbewusst die Erlaubnis, das Gleiche zu tun.“
Marianne Williamson deutet die Größe und Schönheit jedes Menschen religiös: Alle verdanken sich einem göttlichen Ursprung. Allen wohnt ein göttliches Licht inne. Es ist jeder und jedem anvertraut, das eigene Licht leuchten zu lassen und – auch dadurch – andere zu ermutigen, ihr Licht zum Strahlen zu bringen. Wo das geschieht, verwirklicht sich die neue Welt Gottes, für die Jesus eingetreten ist.
Zu Recht wird dem Christentum vorgeworfen, dass es Menschen im Namen einer falschen Demutsforderung klein gemacht hat, insbesondere Frauen. Wenn sie aus der Masse heraustraten, wurde ihnen Stolz vorgeworfen – und auf diese Weise die göttliche Dimension in ihnen verneint. Als ob Gott umso erhabener würde, je armseliger der Mensch über die Erde kriecht … Doch dies steht ganz und gar im Widerspruch zur Bibel und zu allen großen spirituellen Traditionen!
In meiner Seelsorgearbeit gehört es für mich zu den schmerzhaftesten Momenten, wenn ich erfahre, dass Menschen im Namen des Glaubens oder der christlichen Moral zurechtgestutzt worden sind oder kleingehalten werden. Und es zählt zum Schönsten, wenn ich dazu beitragen kann, dass Menschen Entscheidungen treffen und leben aus ganzem Herzen, mit ganzem Verstand und mit ganzer Kraft. (vgl. Markus 12,30ff)
Wenn es um Entscheidungen geht, wird umgangssprachlich oft zwischen einem Kopf- und einem Bauchtyp unterschieden. Klar, das sind nur Bilder, denn niemand entscheidet ausschließlich aus dem „Bauch“ heraus oder nur mit dem „Kopf“. Doch viele haben in dem Miteinander von Fühlen und Denken ein Stand- und ein Spielbein. Sie neigen dazu, der Vernunft oder dem Gefühl spontan ein Vorrecht einzuräumen. Wie ist das bei Ihnen: Kennen Sie Ihr Stand- und Ihr Spielbein? Oder lassen Sie ein Bein vielleicht sogar verkümmern?
Der spontan-emotionale Typ
Wer zu einem spontan-emotionalen Verhalten neigt und sich leicht begeistern lässt, denkt nicht lange nach, sondern legt sich schnell fest. Dabei verlässt er sich auf sein situatives Gefühl. Damit kann er intuitiv richtig liegen. Doch der Schnellschuss kann auch gehörig danebengehen. Wer offen für Neues ist und gerne spontan Dinge übernimmt, bugsiert sich dadurch öfters ins Chaos hinein. Für emotionale Schnellentscheider liegt die Herausforderung darin, sich selbst zu verlangsamen. Denn nur dann haben Verstand und Herz die Chance, zum Zug zu kommen.
Der kontrolliert-rationale Kopftyp
Menschen mit einem rationalen Entscheidungsstil denken lange nach, ehe sie handeln. Sie wägen genau ab und investieren viel Zeit in die Planung künftiger Ereignisse. Müssen sie einen schnellen Entschluss treffen, macht sie dies unsicher und unzufrieden. Solche Personen können hervorragend analysieren und Strategien entwickeln! Doch es gelingt ihnen nur schwer, ihre Analyse mit ihren persönlichen Bedürfnissen und Zielen abzustimmen. Was sie angesichts von verschiedenen Entscheidungsalternativen empfinden, nehmen sie nur schwach wahr.
Ein Traum-Team
Wer das Gespür für sich selbst so wenig entwickelt hat, tut sich schwer, stimmige Entscheidungen zu treffen. Denn er schöpft nicht aus dem Erfahrungsreservoir, welches das Bauchgefühl zur Verfügung stellt. Erkenntnisse der Hirnforschung unterstreichen das: Gefühle und Körperempfindungen sind ein immenser Wissensspeicher auf dem Weg zu einer guten Entscheidung!
Ein Traumteam: Beide – Kopf und Bauch – haben uns in Entscheidungssituationen etwas zu sagen. Daher wäre es auch ein Missverständnis zu meinen, dass eines dieser Bewertungssysteme besser oder schlechter sei als das andere. Vielmehr gilt hier das Prinzip der Arbeitsteilung. Je nachdem, welche Art von Entscheidung ansteht und wie die Umstände aussehen, kommen Kopf und Bauch unterschiedlich zum Einsatz. Wenn eine Physikerin sich infolge einer Modellrechnung für einen bestimmten Versuchsaufbau entscheidet, arbeitet das Hirn anders als beim Fußballer, der blitzschnell zwischen Torschuss und Pass wählen muss.
Die Kunst einer klugen Wahl besteht darin, dass wir die Stärken und Schwächen von Kopf und Bauch kennen und situationsgerecht einsetzen. Gelingt ihre Kooperation, ist ein Traumteam am Start!