Eiskapelle im Nationalpark Berchtesgaden
Doch wer es von St. Bartholomä nur 30 Meter weit hinüber in den Biergarten schafft, kennt nicht die ganze Wirklichkeit. Die schält sich erst heraus, wenn man etwas weiter wandert, gut eine Stunde lang hinauf in Richtung Watzmann. Der Auftakt ist harmlos, ein flacher Spaziergang durch Wald. Rasch gelangt man zur Kapelle St. Johann und Paul, in deren Nähe früher eine wundertätige Quelle entsprungen sein soll. Nun geht es bergauf, und immer tiefer dringt man vor in das schattige Tal des Eisbachs, welches auf drei Seiten von himmelhohen Steilwänden eingerahmt ist; so hoch und steil, dass kaum noch ein Sonnenstrahl hereinfällt. Wer zuvor noch träumerisch die lichtdurchflutete Uferpromenade am See entlangflaniert ist, sieht sich nun plötzlich einer beklemmenden Düsternis und einem wilden Gewirr von Felsblöcken ausgesetzt.
Schon vor über 200 Jahren hat dieser Anblick Reisende beeindruckt. Joseph August Schultes schrieb 1804, er sah sich „in einem Kessel eingeschlossen, den auch die feurigste Phantasie sich nicht fürchterlicher schaffen kann“, und er zweifle, „ob es irgendwo in Europa einen so grausenvollen Winkel gibt, als dieses Amphitheater um die Eiscapelle.“ Franz Anton von Braune erkannte hier sogar „das schreckliche Chaos einer zerstörungsvollen Catastrophe des Erdballs“.
Nun ist es nicht mehr weit: Die letzte, etwas anspruchsvollere Etappe führt teils weglos durch Geröll und über Felsen zum Fuß der sich jäh aufbäumenden Watzmann-Ostwand, einer der höchsten Alpenwände, die erst 1.800 Meter höher am Gipfel endet. Ein ziemlich abrupt einsetzender kalter Wind lässt einen frösteln und verrät, dass es ganz in der Nähe etwas geben muss, das die Luft stark abkühlt. Dann sieht man den Grund: Die Eiskapelle ist erreicht.
Als weiß-graues Gebilde präsentiert sie sich, im hintersten Talwinkel versteckt wie ein Tier, das in einer Nische kauert. Aus der großen, gähnenden Öffnung plätschert ein kleiner Bach heraus, von den Rändern des Eisdachs tropft es. Am spannendsten ist das Innere des Hohlkörpers: ein Hauptgang, der in der Vergangenheit schon eine Länge von mehreren hundert Metern erreicht hat, sowie mehrere abzweigende Nebengänge, mit türkis und grau schimmerndem Eis in einer phantastischen Musterung.
Wie man diesen Anblick empfindet, beschreibt und deutet, liegt völlig im Auge des Betrachters. Einen großen schmutzigen Schneehaufen könnte man die Eiskapelle nennen und gar nicht näher Notiz von ihr nehmen – für andere ist sie dagegen ein edler, geheimnisvoller Eisdom. So oder so, sie ist eine Laune der Natur, ein glaziologisches Kuriosum, das mit der unwirklichen Tatsache irritiert, dass gefrorenes Wasser selbst über wochenlange sommerliche Hitzephasen hinweg bestehen kann. Vielleicht ist sie mit ihrer Aura des Außergewöhnlichen auch ein spiritueller Kraftort – weil sie staunen und zweifeln lässt, weil sie Glücks wie auch Angstgefühle hervorrufen kann, weil sie demütig macht.
Alexander von Humboldt war Ende November 1797 hier und beschrieb das „prächtige Eisgewölbe“ mit „milchweißem, durchscheinendem opalähnlichem Eise“ als einer der Ersten. Der Abenteurer Joseph Kyselak, der in seinen Reiseberichten eine gewisse Neigung zum Übertreiben pflegte, scheint besonders ergriffen gewesen zu sein: Er würdigte die Eiskapelle 1825 als „die merkwürdigste Naturschönheit vielleicht in der ganzen Welt“.
Später wurde der Schneekegel jedoch auch ganz profan als Skipiste genutzt: Noch in den 1960er Jahren fanden hier im Juni Slalomrennen statt, volksfestartig inszeniert und mit Hunderten Schaulustigen. Derartige Veranstaltungen sind seit der Errichtung des Nationalparks Berchtesgaden im Jahr 1978 nicht mehr möglich, doch auch die strengen Naturschutzmaßnahmen konnten nicht verhindern, dass in den vergangenen Jahrzehnten immer mehr Menschen den Weg zur Eiskapelle suchten und ein ganzes Netz von Pfaden in die Landschaft trampelten. Sogar ganze Schulklassen stiegen hinauf – 1984 mit tragischem Ausgang, als ein Kind, das am Eingang zum eisigen Hohlraum stand, von plötzlich herabstürzenden Eismassen getötet und drei weitere Schüler schwer verletzt wurden.
Vorfälle wie dieser rufen in Erinnerung, dass die wilde Bergwelt bei aller Schönheit eben doch auch ein Gefahrenraum ist – weder TÜV-geprüft noch DIN-genormt noch EU-reguliert. Noch deutlicher wird das in der Watzmann-Ostwand, in der bereits über 110 Menschen ihr Leben verloren haben. Vom Betreten der Eishöhle wie auch vom weiteren Aufsteigen in der Wand wird daher gewarnt.
Das Bayerische Landesamt für Umwelt hat die Eiskapelle zusammen mit der Watzmann-Ostwand übrigens in seine Liste der „Schönsten Geotope Bayerns“ aufgenommen – als hundertstes und letztes Objekt, und wie die 99 anderen „wegen ihrer Schönheit, Seltenheit, Eigenart oder ihrem hohen wissenschaftlichen Wert“. Über Stichworte wie diese darf man sinnieren, wenn man dann wieder nach St. Bartholomä hinunterwandert, mit frischen Eindrücken von diesem schönen, seltenen, eigenartigen Eisgebilde, das irgendwie auch ein bisschen unheimlich ist.
(Joachim Burghardt, Redakteur beim Michaelsbund)
Wissenswert
Ein Bauwerk der Natur, Jahr für Jahr neu gebaut
Die Eiskapelle ist kein von Menschenhand errichtetes Gebäude, sondern ein ganzjährig bestehendes Schnee-, Firn- und Eisfeld, innen hohl und einem starken jahreszeitlichen Wandel unterworfen. Sie kommt dadurch zustande, dass im Winter und Frühjahr die Schneemassen aus der Watzmann-Ostwand wie in einem Trichter an einem Punkt zusammenstürzen. Der so aufgehäufte Schnee verdichtet sich unter Druck zu einem Eiskörper, welcher im Laufe des Jahres aufgrund der warmen Temperaturen nach und nach wieder schmilzt. Und zwar nicht nur von außen, sondern auch von innen: Unter dem Eis hindurchfließendes Wasser höhlt das Gebilde aus; ein Vorgang, der zudem von hindurchströmender Luft verstärkt wird.
Die Eiskapelle ändert jedes Jahr ihre Form und Größe, je nach Temperaturen und Niederschlägen. Mehrfach kam es vor, dass das komplette Eisgewölbe einstürzte – woraufhin es Jahre dauerte, bis sich die ursprüngliche Form wieder bildete. Auch nach heißen und langen Sommern schmilzt das Eis niemals ganz ab – und das trotz der geringen Seehöhe von nicht einmal 1.000 Metern. Damit ist die Eiskapelle das tiefstgelegene ganzjährige Schneefeld Deutschlands, vielleicht sogar der gesamten Alpen. Das ist, gerade in Zeiten der Klimaerwärmung und der Gletscherschmelze, bemerkenswert, und es wird erwartet, dass sich daran so schnell nichts ändert. Denn jeden Winter wird die Eiskapelle von Lawinen aufs Neue genährt. Als Gletscher gilt sie übrigens nicht, weil sie niemals so groß wird, dass das Eis beginnt, talwärts zu fließen – dafür reichen die jährlichen Schneefälle dann doch nicht.