Vom Anfang bis zur Apokalypse
Vom Anfang bis zur Apokalypse - Was verbirgt sich eigentlich dahinter?
Unser Kollege, Chefreporter Alois Bierl, wird in einem Jahr die
komplette Bibel lesen. Jede Woche lässt er uns an diesem spannenden
Experiment und seinen Erfahrungen teilhaben.
Ein Franzose schreibt das Matthäus-Evangelium in arabischer Sprache in ein Heft ab. Wegen dessen Schriftrichtung von rechts nach links, schlägt er es also hinten auf und beginnt auf der letzten Seite. Gleichzeitig benutzt er es als Haushaltsheft. In seiner Muttersprache notiert er seine Ausgaben und die vielen Almosen, die er gibt. Da beginnt er, im europäischen Verständnis, auf der ersten Seite. Gerade habe ich diese Geschichte in einer Biografie über den heiligen Charles de Foucauld gelesen. Der 1916 ermordete Priester lebte in einer kleinen Oasenansiedlung in der algerischen Wüste, im tiefen Respekt vor den muslimischen Turaregs, die dort siedeln.
Haushaltsbuch und Evangelium
Jetzt, wo ich an das Ende meiner Bibellektüre komme, rührt mich diese Geschichte besonders. Der Alltag und das Evangelium stehen im selben Heft, haben denselben Umschlag und kommen sich immer näher, um irgendwann aufeinander zu treffen. Grundsätzlich lässt sich die Bibel, so wenig wie jede andere Heilige Schrift, am Alltag vorbei lesen. Schon allein deswegen, weil die Lektürezeit von anderen Aufgaben oder auch Vergnügungen abgezwackt werden muss, sofern man die Bibel nicht berufsmäßig studiert. Erst recht braucht es viele Stunden, die Texte nicht nur mit den Augen, sondern auch mit der Hand zu lesen, sie also abzuschreiben. Foucauld hat sie sich genommen, weil er sich die Bibel sogar in einer fremden Sprache einverleiben wollte.
Spirituelle Kapitalanlage
Das Opfer an Zeit ist eine geistliche Kapitalanlage mit hohem Gewinn: da wird die Bibel zu einem persönlichen Eigentum. Vor vielen Jahren habe ich von einem Mann gehört, der als gelernter Stenotypist tatsächlich das komplette Alte und Neue Testament auf einer Computertastatur abgeschrieben hat. Er hatte sich nach einer Krebsdiagnose dazu entschlossen. Für ihn war es Teil der Therapie und ein Vermächtnis. Für jedes seiner fünf Kinder druckte er ein Exemplar aus. Der Katholik war in der früheren DDR aufgewachsen, in der es nicht selbstverständlich war, eine Bibel kaufen zu können. Er wusste aus seiner politischen wie aus seiner persönlichen Erfahrung, wie kostbar das Wort sein kann, gerade wenn das Leben von außen oder innen in Bedrängnis gerät. Ich habe im Internet eigens nach dem Namen des Mannes gesucht und ihn gefunden: Horst Grund hieß er und ist mittlerweile verstorben. Sein Beispiel und das von Charles de Foucauld zeigen mir, wie die Bibel in unterschiedlichster Weise ins Leben zielt, zu einer ganz persönlichen Sache und Begleiterin werden kann. Die komplette Heilige Schrift abzuschreiben, kommt mir allerdings nicht in den Sinn. Da wären zu viele Tippfehler drin und meine Ausdauer reichte nicht einmal für die Abschrift eines Evangeliums aus.
Persönliche Minibibel
Charles de Foucauld und Horst Grund stupsen mich aber an, die Bibel nicht einfach so wegzulegen, wenn die letzte Seite umgeblättert ist. Wenn ich mein Exemplar durchsehe, finde ich viele Anstreichungen, manchmal sogar mit Rotstift. Das war mir also in jenem Moment des Lesens aufgefallen und wichtig. Warum sollte ich mir daraus nicht eine kleine persönliche Minibibel abschreiben und immer in Griffweite haben. Ein kleines Büchlein, in dem ich beim Warten auf die U-Bahn, oder während das Frühstücksei kocht, eine Minute lang verliere, das mich mitten im Alltag über ihn hinausschauen lässt.
(Alois Bierl, Chefreporter beim Sankt Michaelsbund)
Es muss erheblich gerumpelt haben in der frühen Kirche. Da gibt es reiche Leute, die es schick finden, die neue religiöse Lehre anzunehmen. Aber so wie heute viele eifrige Befürworter des Klimaschutzes keineswegs an persönlichen Verzicht denken, wollen diese gerade bekehrten frühen Christen ihren Lebensstil höchstens ein bisschen ändern. Zeitweise begeistern sie sich für herumziehende Weisheitslehrer, die das Christentum für eine Angelegenheit erleuchteter Eliten halten. Von diesen Weisheitslehrern hören sie entweder, dass sie moralische Regeln überhaupt nicht zu kümmern brauchen, weil Christus das Gesetz ja aufgehoben hat. Ausschweifungen können einem von Christus durchdrungenen Geist schließlich nichts anhaben, der völlig unabhängig vom Körper das Göttliche denkt und schaut.
Die Mühen der Ebene
Andere dieser Gurus rufen dagegen zu vollkommener Enthaltsamkeit und Lustfeindlichkeit auf, denn der Tag sei nahe, an dem der Herr wiederkommt. So ähnlich stelle ich mir das vor, wenn ich die Pastoralbriefe und katholischen Briefe lese. Ganz hinten im Neuen Testament, oft überblättert, weil die an- und abschließende Offenbarung des Johannes viel geheimnisvoller daherkommt. Auch den Theologen der jungen Kirche scheinen insbesondere die katholischen Briefe nicht ganz so wichtig oder nicht ganz geheuer gewesen zu sein. Da ist das großartige Evangelium und diese dünnen Schriften erzählen vom Kleinklein, von Zänkereien, von den üblichen und unendlichen Mühen der Ebene, die das Christentum bis heute durchschreitet.
Spät erst im Kanon
Im Kanon des Neuen Testaments haben die katholischen Briefe jedenfalls erst seit etwa 400 n. Chr. einen festen Platz bekommen, lerne ich in der Einführung der Einheitsübersetzung. Tatsächlich sind sie nicht unbedingt literarische Meisterwerke. Ich mag sie aber trotzdem, weil sie zeigen, wie schwer es ist, die Balance von Ideal und Wirklichkeit zu halten. Da gibt es eine ständige „Dialektik der Entwicklung“, wie Marxisten gerne sagen. Dauernd sind neue oder wiederauftauchende alte Widersprüche zu lösen. Die hängen wie raues und graues Gestein am reinen Kristall der Lehre. Das wissen die Verfasser dieser Briefe und sind erfrischend pragmatisch. Wenn Paulus lehrt, dass gute Werke eigentlich nichts bedeuten, dann weist der Jakobusbrief wohl aus Erfahrung darauf hin, dass sie schmerzhaft vermisst werden, wenn sie niemand tut: „Was nützt es, meine Brüder und Schwestern, wenn einer sagt, er habe Glauben, aber es fehlen die Werke?“
Bekenntnis allein genügt nicht
Es reicht eben nicht, beim Bekenntnis stehen zu bleiben. Die Pastoral- und katholischen Briefe zeigen mir zudem, dass eine geistliche Bewegung nicht ohne Organisation und Autoritäten auskommt, wenn sie nicht in zahllose kleine Sekten zerfallen will. Da schälen sich allmählich Ämter heraus, die sich im Lauf der Kirchengeschichte immer wieder verändern. Ganz nach antiken Vorstellungen kommen Frauen da nur am Rand vor. Vielleicht will die „Dialektik der Entwicklung“ in diesem Punkt heute in der katholischen Kirche fortgesetzt werden.
Veränderung und Treue
Möglicherweise haben die Theologen, die diese Briefe in den Kanon des Neuen Testaments aufgenommen haben, es auch deshalb getan, weil sie zeigen, dass Streit, Widerspruch und Veränderungen zur Frohen Botschaft gehören, ebenso wie die Treue zur Überlieferung und die Vorsicht vor Irrlehrern. In den manchmal etwas umständlichen Johannesbriefen finde ich einen knapp formulierten Maßstab für solche unvermeidlichen Auseinandersetzungen unter Gläubigen: „Gott ist Liebe, und wer in der Liebe bleibt, bleibt in Gott und Gott bleibt in ihm.“ Schon allein wegen diesem Satz wäre es schade, wenn dieser und die anderen Briefe nicht im Neuen Testament ständen.
(Alois Bierl, Chefreporter beim Sankt Michaelsbund)
Es ist ein kurzer Brief und der Leser wundert sich, dass die frühen Christen ihn in den bedeutungsschweren Kanon des Neuen Testaments aufnahmen. Es geht um ein persönliches Anliegen, eine Privatsache. Doch wie hieß es so schön in der 68er-Bewegung: das Private ist politisch, so wie im Philemon-Brief des Apostels Paulus. Schon allein, dass er ihn mit eigener Hand geschrieben und nicht wie sonst diktiert hat, ist ungewöhnlich. Es ist ein kurzer Brief, der mich lange beschäftigt, vielleicht weil er so unscheinbar daherkommt und auch im Gottesdienst oft untergeht. Wenn ich es richtig sehe, taucht er nur alle drei Jahre im Lesejahr C mit einigen Versen als zweite Lesung auf.
Sklaven waren eine Sache
Es ist ja auch eine scheinbar schlichte Angelegenheit. Onesimus ist Sklave, sein Herr Philemon ein früher und tatkräftiger Christ. Onesimus läuft seinem Herrn davon und marschiert zu Paulus. Der Apostel schickt den entlaufenen und zum Christen gewordenen Sklaven jedoch wieder zurück. Er setzt ihn damit zumindest theoretisch dem Tod aus. Philemon hätte ihn schwer bestrafen, sogar umbringen können. Nach römischen Recht war der Sklave eine Sache, keine Person, seine „Eigentümer“ hatte volle Gewalt über ihn. Geschickt, oder sogar raffiniert, wie Paulus war, macht er Philemon allerdings deutlich, dass Onesimus als Christ sein Bruder ist. Fast amüsiert es mich, wie Paulus mit seiner Autorität als Apostel spielt. Er könnte Philemon „befehlen, was du tun sollst“, zieht es aber „um der Liebe willen vor, dich zu bitten“, auf eine Bestrafung zu verzichten.
Soziale Hierarchien auf den Kopf gestellt
Paulus verlangt aber noch mehr: „nimm ihn auf wie mich!“ Philemon soll dabei seinem eigenen Gewissen gehorchen: „Deine gute Tat soll nicht erzwungen, sondern freiwillig sein.“ In den 25 Versen des Briefes an Philemon stellt Paulus die sozialen Hierarchien auf den Kopf. Er würde wahrscheinlich erwidern, Christus stellt sie auf den Kopf, weil er einen neuen Blick für den Nächsten verlangt, eine Revolution des Herzens. Philemon ist Christ geworden und das hat Konsequenzen, die er selbst ziehen muss, wenn er es ernst meint. Das bringt die Verhältnisse zum Tanzen, verändert die menschlichen Beziehungen grundlegend und damit letztlich, auf lange Sicht, auch die politischen. Paulus weiß, dass das ohne Gott nicht gelingt. Der beste Politiker ist der Heilige Geist. Weil er aber durch eine von schwachen und sündigen Menschen gestaltete Ordnung hindurchgeht, kann es der Politik nie ganz gelingen, eine vollkommene Gesellschaft zu gestalten.
Veränderung, die nur Gott vollenden kann
Darum lehnt Paulus den Aufstand gegen die Obrigkeit entschieden ab, verlangt das Arrangement mit der Staatsmacht, von der er irdische Gerechtigkeit und entsprechende Anstrengungen erwartet, aber nicht mehr. Er fordert nicht nur Philemon, sondern alle auf, die sozialen und politischen Verhältnisse durch die Nächstenliebe zu erschüttern und einen Geschmack auf das Reich Gottes zu geben. Das löst eine ständige Veränderung aus, die sich in dieser Welt allerdings nicht vollenden kann. Dabei geht mir auf, dass der Apostel nicht nur hier, sondern in vielen seiner Briefe eine Warnung ausstößt, die gerade das 20. Jahrhundert nicht gehört hat: Vertraut nicht darauf, dass eine allein von Menschen gemachte Politik ins Paradies führt.
Warnung vor Ideologie
Der Münchner Philosoph Franz von Baader hat das sinngemäß einmal so ausgedrückt: Ideologie beginnt dort, wo Menschen glauben, die Menschheit ohne Gott erlösen zu können und sie mündet in hemmungsloses Morden. Denn es gibt immer Klassen, Nationen oder Gruppen, die der schönen neuen Welt scheinbar im Wege stehen. Die müssen dann eben ausradiert werden. Zum Beispiel reiche Männer wie Philemon. Doch auch dem Sklaven Onesimus macht er klar, dass dieser Philemon sein Bruder ist. Christus ist ihr gemeinsamer Herr und in seinem Geist müssen sie ihr Verhältnis zueinander finden und aushandeln. Ich hätte nicht geglaubt, dass sich aus dem kürzesten aller Paulus-Briefe so viel über Politik und Gesellschaft lernen lässt.
(Alois Bierl, Chefreporter beim Sankt Michaelsbund)
Ein Hunderagout kommt in Deutschland nicht auf den Teller. Sogar beim Pferdeschnitzel überkommt viele Fleischesser ein leichtes Grausen. Während das Schweinefilet als feine Mahlzeit gilt, das der muslimische Nachbar nicht anrühren darf. Nahrungstabus sind mächtig. Bei meiner Bibellektüre stoße ich oft darauf. Das Buch Levitikus im Alten Testament gibt im 11. Kapitel genaue Anweisungen, welche Tiere den frommen Magen füllen dürfen. Und ich frage mich, wie solche Nahrungstabus überhaupt entstanden sind.
Schweine als Nahrungskonkurrenten
Der amerikanische Wissenschaftler Marvin Harris hat dafür den sogenannten kulturmaterialistischen Ansatz gefunden: Mit Speisevorschriften reagiert der Mensch auf die Gegebenheiten seiner Umwelt und versucht Konkurrenten von der Lebensmittelproduktion fernzuhalten. Religiöse Gebote stärken diese durchaus vernünftigen Nahrungstabus. So waren Schweine im Nahen Osten so lange kein Problem, wie es dort ausgedehnte Wälder gab, in denen diese Tiere genug Futter fanden, das den Menschen nicht fehlte. Durch die riesigen Abholzungen entstanden Weideflächen für Rinder oder Ziegen. Schweine hätten die Viehhalter dagegen eigens mit Getreide oder anderen Nahrungsmitteln füttern müssen, die den Menschen dann gefehlt hätten. Warum das Judentum aus Blut gewonnene Speisen grundsätzlich ablehnt, erklärt der kulturmaterialistische Ansatz allerdings nicht.
Toleranz und Rücksichtnahme
Da scheint doch eine eigene religiöse Scheu vor dem geheimnisvollen Lebenssaft eine Rolle zu spielen. Es muss deshalb für fromme Juden geradezu skandalös gewesen sein, wenn Jesus im Markus- und im Matthäusevangelium die Speisevorschriften für unbedeutend erklärt. Paulus setzt das fort, wenn er immer wieder zwischen Judenchristen, die sich streng an das Gesetz des Mose gebunden fühlen, und Heidenchristen vermitteln muss, die in Ernährungsfragen wesentlich unbekümmerter sind. Mich rührt es, wenn er im 1. Korintherbrief die Gemeinde bittet, einander nicht leichtsinnig oder sogar trotzig am gemeinsamen Tisch zu kränken: „Wenn darum eine Speise meinem Bruder zum Anstoß wird, will ich bis in Ewigkeit kein Fleisch mehr essen, um meinem Bruder keinen Anstoß zu geben.“ Beim Blick auf eine weltweite Religionskarte geht mir auf, wie stark sich diese Anpassungsfähigkeit in Nahrungsfragen auswirkt.
Respekt vor der kulturellen Vielfalt
Die Verbreitung des Christentums über alle Kontinente hat damit zu tun, dass es offenbar auf sehr unterschiedliche Kulturen eingehen kann: Mission geht durch den Magen. Dem Islam etwa fällt es schwer, etwa in Papua-Neuguinea Fuß zu fassen, weil dort Schweine ein Grundnahrungsmittel sind. Ich glaube, dass ist auch eine Mahnung und Ermutigung, die weiter reicht als vom Tellerrand bis zum Mund. Mir geben die Paulusbriefe gerade in den gegenwärtigen Debatten der Kirche zu denken. Sie fordern einen hohen Respekt vor der kulturellen Vielfalt.
Vorsicht vor den eigenen Maßstäben
Was hätten unsere germanischen Vorfahren gesagt, hätten sie die Missionare zwingen wollen, ihre Schweine, die sie in Eichelwäldern mästeten, nicht am Spieß zu braten? Essen ist nichts Banales, selbst wenn es noch viel schwierigere Fragen gibt. Was ist mit Kulturen, für die Vielehen seit Jahrhunderten selbstverständlich sind und zum Sozialsystem gehören, die Homosexualität entweder für selbstverständlich halten oder entschieden ablehnen? Die Paulusbriefe haben mir etwas den Schneid abgekauft, da immer gleich eine eindeutige Meinung zu haben und sofort meine Maßstäbe anzulegen. Immerhin Paulus hat im Kolosserbrief einen guten Rat: „Ertragt euch gegenseitig“. Und er schreibt nirgendwo, dass das einfach ist.
(Alois Bierl, Chefreporter beim Sankt Michaelsbund)
Dieser Brief ist ein Hammer. Aber kein schwerer Dampfhammer, sondern ein feiner Goldschmiedehammer. Seit fast 2000 Jahren dengeln damit die Theologen an ihrer Lehre herum. Es gibt wohl keinen Brief in der Menschheitsgeschichte, über den so viel und immer wieder neu nachgedacht worden ist. Ich habe ihn deshalb mit etwas Muffensausen zu lesen begonnen. Doch der Römerbrief des Paulus richtet sich ja auch direkt an mich, nicht nur an die ersten Christengemeinden in der Hauptstadt des Imperiums. Denn das Evangelium „ist eine Kraft Gottes für jeden“, das macht der Verfasser gleich auf der ersten Seite klar.
Fortsetzung der Apostelgeschichte
Meine Scheu vor dem Römerbrief ist trotzdem groß. Dem Vorsatz die Bibel ohne Kommentare oder zusätzlicher Literatur zu lesen, bin ich deshalb wieder einmal untreu geworden. Eine kleine Biographie des selbsternannten Apostels habe ich durchgesehen, sogar in Karl Barths ebenso berühmtem wie schwer verdaulichem „Der Römerbrief“ habe ich geblättert. Dass der Römerbrief wohl die letzte der großen Paulus-Schriften ist, war mir noch in Erinnerung. Dass er gleich hinter er Apostelgeschichte steht, hatte ich aber ganz vergessen. Ein guter Platz, nicht nur, weil er an das Ende der Apostelgeschichte anschließt, der das „Anfang und Wirken des Völkerapostels in Rom“ schildert. Sogar, das unerwartete Detail, dass Paulus dort „zwei volle Jahre in seiner Mietwohnung“ lebte, arbeitete und netzwerkte, wie man heute so schön sagt, ist dort erwähnt. Wahrscheinlich hat er vielen Besuchern seinen Römerbrief auseinandersetzen müssen, den er wohl schon zuvor geschrieben hatte.
Die Sünde ist raffiniert
Der ist natürlich kein Privatbrief, sondern viel mehr eine Abhandlung, eine geballte Zusammenfassung, wie Paulus seinen Jesus Christus erfasst und wie er um die Botschaft ringt, die er verkündet. Er legt gleich richtig los, wenn er den Menschen als verderbten, von Gott entfremdeten Sünder sieht. Außerehelicher oder „widernatürlicher“ Geschlechtsverkehr und Homosexualität sind da nur zwei Erscheinungsformen. Eine Stelle, die für manche Christen alles andere in diesem weit ausgreifenden Text überstrahlt. Von mir selbst hätte ich erwartet, diese Zeilen mit etwas mehr Widerstreben zu lesen, aber es ist mir dann gar nicht so schwer gefallen. Denn ich meine, dass Paulus, wenn er über Geschlechtliches spricht, vor einer egoistischen Genusssucht und Lieblosigkeit gegenüber dem anderen Menschen warnt. Das kommt wohl ebenso in „anständigen“ und „normalen“ Ehen vor. Die Sünde ist raffiniert und hat vielleicht dort ihren stärksten Platz, wo sie am stärksten abgestritten wird. Wer mit Paulus andere kleinmachen will, benutzt ihn eben als Dampfhammer und nicht als feines Instrument.
Streng dich an und nimm hin, dass es nichts nützt
Die Wichtigkeit von Gesetzen, Normen und Regeln streitet Paulus nie ab. Sie reichen aber nicht aus, um Menschen aus den „Strukturen der Sünde“, wie es die Befreiungstheologie nennt, herauszuwinden. Da braucht es eine Liebe, die menschliche Maßstäbe übersteigt. Sie verlangt jedoch das schwierige Hineinwachsen in ein Vertrauen, das sich nicht greifen und kaum begreifen lässt. Und ganz der kluge jüdische Gelehrte, der Paulus ist, beweist er das aus der Schrift: Der Stammvater Abraham konnte das Gesetz nicht kennen, weil es Mose ja erst lange nach ihm gefunden hat. Trotzdem empfängt Abraham die volle Gnade Gottes, weil es ihm gelingt zu glauben. Es gibt nicht nur ein Hineinwachsen, sondern genauso ein plötzliches Hineinfallen in diesen Gott. Letztlich ist es ein wunderbares Paradoxon, das der Römerbrief umkreist: Strenge dich unbedingt für den Glauben an und nimm hin, dass dir diese Anstrengungen allein überhaupt nichts nützen.
Die anderen aushalten
Es kommt vor, dass der Glaube Menschen einfach so geschenkt wird, sogar Leuten, von denen du überhaupt nichts hältst. Dabei hat Paulus wohl im Auge, dass es vielen Judenchristen schwer im Magen lag, dass unbeschnittene Heiden, Gesetzlose sich ehrlichen Herzens ihrer Christusgemeinschaft anschließen wollten. Da sagt mir der Römerbrief vor allem, dass ich den Glauben der anderen aushalten muss, selbst wenn mir ihre Wege, die ausgetretenen Pfade oder auch die scheinbaren Abwege dorthin unglaublich fremd sind. Wahrscheinlich ist es eine lebenslange Aufgabe daran herumzudengeln. Paulus gibt einem dafür das feine Goldhämmerchen des Römerbriefes in die Hand.
(Alois Bierl, Chefreporter beim Sankt Michaelsbund)
Ich muss sie immer wieder aufblättern. Sogar auf mehrere kleine Pick-Zettel habe ich mir diese Stelle aufgeschrieben, sie fällt mir am Kühlschrank, auf dem Schreibtisch, auf dem Umschlag meiner Bibel ins Auge. Und dann lese ich unwillkürlich: „Im Anfang war das Wort und das Wort war bei Gott und das Wort war Gott.“ Und die folgenden vier Verse stehen auch noch darunter. Der Johannes-Prolog klebt nicht nur am Kühlschrank, am Schreibtisch und auf der Bibel, sondern auch im Hirn. Immer wieder kehre ich zu ihm zurück, selbst wenn in meiner Bibellektüre das gesamte Evangelium schon hinter mir liegt und mich jetzt der vertrackte Römerbrief beschäftigt.
Goethes Faust plagt sich beim Übersetzen
„Wort“ ist nicht die einzige Übersetzung des griechischen Begriffs Logos, damit hat sich schon Goethes Faust in seinem Studierzimmer herumgeschlagen: „Ich kann das Wort so hoch unmöglich schätzen,/Ich muß es anders übersetzen.“ Ein Blick ins Lexikon erklärt, dass Logos genauso „Wort“ oder „Rede“ wie „Sinn“ oder „Vernunft“ bedeuten kann. Faust entscheidet sich für: „Im Anfang war die Tat.“ Mir gefällt „Im Anfang war das Wort“ viel besser. Tat, das klingt so nach Machtwillen, Kraftakt, Anstrengung, Herkulesarbeit. Für Gott genügt es, ein Wort, ein Hauch, ein Säuseln zu sein, so spüren ihn die Propheten Elija und Jesaja und lassen sich dadurch berühren. Schon allein Worte tragen Macht in sich, sogar bei Menschen, und sie entfalten Wirkung.
Gott will ins Reden kommen
Sie sind immer an jemanden gerichtet, selbst wenn sie jemand nur zu sich selbst spricht. Zuallererst schaffen sie Beziehung, sind Vermittler. Wenn Gott das Wort ist, dann will er offenbar ins Reden, in Gemeinschaft und einen Austausch kommen. Das Wort lässt sich also gar nicht hoch genug schätzen. Das Sprechen, die Zuwendung macht Gott zu Gott. Im Wort „war Leben und das Leben war das Licht der Menschen“ lautet der vierte Vers im ersten Kapitel des Johannes-Evangeliums. Es vertreibt die Finsternis, heißt es dann weiter. Mir fallen Kinder ein, die sich im Dunkeln fürchten, und die nicht ruhig schlafen können, ehe jemand zu ihnen spricht. Oder die vor dem Einschlafen eine Geschichte brauchen, ein unsichtbares Licht, dass sie durch die Nacht trägt. Und immer muss ich bei diesem Vers daran denken, was ein Wort ist. Im Gegensatz zu Gott benötigt der Mensch dazu einen Körper. Im Kehlkopf und in den Stimmlippen formen sich Schwingungen, die zum Laut werden und dann nicht mehr als Luft sind, eben ein Hauch.
Ohne Worte geht gar nichts
Es ist etwas Immaterielles, das aber so viel auslösen kann, wenn es wiederum in ein Ohr hineindringt. Jeder der einmal geliebt oder gestritten hat, weiß das. Das Wort ist ein Gedanke, der zum Ruf wird, ein Gegenüber und eine Antwort sucht. Wer das Licht, das im Wort liegt, aufnimmt, dem gibt es Macht, Kind Gottes zu werden, schreibt Johannes. Ohne Worte geht gar nichts! Sogar mein Bibellesen wäre unmöglich, wenn es keine Worte gäbe. Da sind sie in Zeichen übersetzt. Doch eigentlich sind sie unsichtbar, haben kein Gewicht und wiegen trotzdem viel, denn sie schaffen eine Verbindung, eine gemeinsame Erzählung. Jedes Wort ist ein Wunder. Daran erinnern mich die kleinen Pick-Zettel mit den ersten Versen aus dem Johannesprolog und das will ich bei meiner Bibellektüre vor Augen haben.
(Alois Bierl, Chefreporter beim Sankt Michaelsbund)
Sara und Abraham, die im wahrhaft biblischen Alter ein Kind zeugen; das Meer, das sich vor den fliehenden Israeliten teilt; der Prophet Elija, der Feuer oder Regen vom Himmel herabrufen kann. Die Wundergeschichten im Alten und im Neuen Testament lese ich gerne. Zuletzt die Erzählung vom Pfingstwunder in der Apostelgeschichte oder zuvor die Auferweckung des toten Lazarus im Johannesevangelium, der Wunder oder Zeichen besonders eindringlich schildert. Die Frage, ob das alles „wirklich“ so passiert ist, wie es in der Schrift steht, plagt mich eigentlich wenig. Ein Bekannter erklärte mir einmal, selbstverständlich habe Jesus nicht auf dem Wasser gehen können und die entsprechende Stelle bei Lukas und Matthäus sei auf eine Luftspiegelung, eine optische Täuschung zurückzuführen. Ich zucke dann nur mit den Schultern. Mir ist klar, dass die Wundererzählungen im Neuen Testament sich weniger für physikalische Kräfte interessieren, sondern etwas Unerhörtes vorbereiten wollen.
Optische Täuschungen für Leichtgläubige
Sie weisen auf das größte Wunder voraus: die Auferstehung Christi, das Wirken Gottes für die Menschen. Auf die Botschaft, auf das Kerygma kommt es an, wie der Theologe Rudolf Bultmann gelehrt hat. Mir kommt es jedoch so vor, als ob vielen Theologen die Geschichten, in die das Kerygma eingebettet ist, fast peinlich sind. Ein moderner, aufgeklärter Christ muss sich an die unumstößlichen Fakten halten, da kann er Wundererzählungen nicht für voll nehmen. Sie sind ein schmückendes Gewand, das die Botschaft sogar verhüllt. Hier muss entmythologisiert werden, sprach der durchaus verdienstvolle Bultmann. Über Bord mit dem Wunderglauben in den See Gennesaret, auf dem Jesus höchstens mittels Luftspiegelung herumspaziert sein kann. Solche Erzählungen sind literarische Mittel, die nichts mit der Wirklichkeit zu tun haben. Sind dann aber nicht die Auferstehungsgeschichten, die ich in vergangenen Wochen gelesen habe, ebenfalls eine optische Täuschung für leichtgläubige Frauen und Fischer, die in der etwas dünnen Botschaft münden, dass Gott den Tod nicht will? Vor ein paar Jahren habe ich ein Interview mit einer deutschen Bischöfin gelesen, in dem sie kräftig entmythologisiert. Selbstverständlich sei Jesus Christus auf natürlichem Weg gezeugt worden, da erschien kein Engel vor einer verblüfften Maria.
Physiker wundergläubiger als Theologen
Es stimmt schon, vieles in der Bibel ist unglaublich. Über die Bischöfin habe ich mich trotzdem geärgert. Sie traut ihrem Gott nichts zu, egal ob die Jungfrauengeburt nun so stattgefunden hat oder nicht. Sie fesselt ihn an die Naturgesetze, die er unverrückbar eingerichtet haben muss. Da herrschen Ursache und Wirkung, so wie das die Naturwissenschaften in den vergangenen Jahrhunderten erforscht haben. Gott hat mit der Welt eine Maschine gebaut, von der er jetzt gefälligst die Finger zu lassen hat. Als mir neulich ein Zeitungsartikel über den Physiker Werner Heisenberg in die Hände kam, hatte ich den Eindruck, dass Physiker von heute ein Wunder eher für möglich halten als Theologen, weil die kleinsten Teilchen zumindest theoretisch aus der Reihe tanzen können. Ja, ich kann es mir nur in meiner Fantasie aufregend vorstellen, dass Jesus in Kana Wasser in Wein verwandelt hat. Dennoch gefällt es mir nicht, wenn mir jemand beweisen will, dass das alles so nicht gewesen sein kann, weil es den Naturgesetzen widerspricht. Zum anderen bin ich ebenso misstrauisch, wenn Hochleistungsgläubige mich dazu verpflichten wollen, die Geschichte wie eine platte Tatsachenbeschreibung zu verstehen, nur weil sie in der Heiligen Schrift steht. Weder die einen wie die anderen waren dabei, genauso wenig wie die evangelische Bischöfin bei der Empfängnis Christi.
Wunder halten fit
Die Sache bleibt offen, oder besser verborgen, weil sie ein Geheimnis Gottes ist. Wunder muten mir zu, dass ich sie nicht genau erklären kann. Deshalb liebe ich sie, weil sie meine Gedanken und Gefühle über Gott fit halten. So zu tun, als wäre der theologische Streit über Wunder erledigt, kommt mir etwas hochmütig vor. Da halte ich es lieber mit Joseph Ratzinger. Vor langer Zeit hat mich ein Aufsatz von ihm aufgerüttelt, an den ich mich bei den vielen Wundergeschichten erinnert habe. Da empfiehlt der spätere Papst, immer wieder einen neuen Blick und Fragen an die Wunder zu richten: „Es wäre fatal, wenn die Theologie ihrer höchsten Aufgabe untreu würde, das Denken des Menschen weit offen zu halten und stattdessen durch voreilige Beflissenheit dem vermeintlich Wissenschaftlichen gegenüber den Raum unserer Beobachtung einengen würde.“ Die biblischen Wunder sind mir zu wichtig, als dass ich entscheiden wollte, ob sie wortwörtlich so passiert sind oder nicht. Ihr Prüfstein ist etwas anderes: Ob das was sie ankündigen eine Wirklichkeit hat - die Auferstehung und die Erfüllung bei Gott, dafür sind sie ein wundervolles Hoffnungszeichen.
(Alois Bierl, Chefreporter beim Sankt Michaelsbund)
Jesus stirbt nicht allein am Kreuz. Da ersticken noch zwei andere
qualvoll neben ihm. Darin sind sich Matthäus, Markus, Lukas und Johannes
einig. Wer die Evangelien hintereinander liest, wird jedoch auf die
Unterschiede zwischen ihnen aufmerksam. Darin liegt der Vorteil einer
kompakten Lektüre. In den drei Lesejahren für den katholischen
Gottesdienst verschwimmen die Differenzen schnell, fallen nicht mehr
auf. Vieles ist ja tatsächlich ähnlich. Ganz offensichtlich beziehen
sich Matthäus und Lukas auf Markus, erzählen seine Geschichten wieder,
ergänzen sie gelegentlich oder verschieben den Schwerpunkt. Sie kennen
noch eine weitere Quelle, die Markus offensichtlich nicht vertraut war.
Aus ihr haben Matthäus und Lukas vielleicht die Bergpredigt und das
Vaterunser geschöpft, die nur bei ihnen, allerdings in unterschiedlichen
Varianten zu finden sind. Unabhängig voneinander haben sie eigenes
Sondergut gesammelt.
Schimpfende und schweigende Schächer
Am
eigenwilligsten ist Johannes. Im Ablauf der Kreuzigung stimmen die
Evangelien weitgehend überein, allerdings nicht im Zeitpunkt: Bei
Johannes vollzieht sie sich am Rüsttag vor dem ersten Tag des
Passahfestes, die anderen drei Evangelisten lassen sie am ersten vollen
Festtag stattfinden. Bei den Schächern tanzt aber Lukas aus der Reihe.
Mich haben sie immer besonders angezogen. Sie sind Leidensgenossen an
der Seite von Jesus, sie sind ihm in seiner Qual und seinen letzten
Momenten nah, wie niemand sonst. Bisher war mir gar nicht bewusst, dass
sich so richtig nur Lukas für diese beiden Verbrecher interessiert. Bei
Markus und Matthäus ist die Sache klar. In deren Passionserzählungen
können diese Ganoven endlich einmal auf der „richtigen“ Seite stehen,
auf der Seite der „normalen“ und „vernünftigen“ Gesellschaft, sogar des
Establishments: Die umstehenden Schaulustigen, die Schriftgelehrten und
Hohepriester, verhöhnen den geschundenen Jesus.
Ein Gänsehautmoment: Verbrecher erkennt Gott
Sie
haben es ja schon immer gewusst, dass er ein Blender sein muss, soll er
doch jetzt einmal heruntersteigen von seinem Kreuz. Und die gleichfalls
gefolterten Schächer schimpfen mit. Bei Johannes halten die beiden
Männer den Mund. Allein bei Lukas kommt es zu der herzergreifenden
Szene, dass nur einer der beiden Schächer ihn beleidigt und der andere
Schächer ihm Contra gibt: „Uns geschieht recht, wir erhalten den Lohn
für unsere Taten; dieser aber hat nichts Unrechtes getan.“ Und dann
kommt diese Stelle, die einem eine Gänsehaut über den Rücken jagen kann,
weil sie ein Todgeweihter zu einem anderen Todgeweihten spricht: „Dann
sagte er: Jesus, denk an mich, wenn du in dein Reich kommst! Jesus
antwortete ihm: Amen, ich sage dir: Heute noch wirst du mit mir im
Paradies sein.“
Nikodemus-Evangelium spinnt die Geschichte fort
Mir
fällt ein Wort der französischen Philosophin Simone Weil dazu ein: „Das
Wunder des guten Schächers bestand nicht darin, dass er an Gott dachte,
sondern dass er Gott in seinem Nachbarn erkannte.“ In dieser
gepeinigten, hilflosen Kreatur. „Petrus vor dem Hahnenschrei erkannte
Gott nicht mehr in Christus“, fährt Simone Weil fort. Lukas erzählt den
entscheidendsten und erlösenden Moment im Leben dieses Verbrechers. Wie
viele andere Leser des Neuen Testaments finde ich es schade, dort nicht
einmal seinen Namen zu erfahren. Den frühen Christen ist es genauso
ergangen und sie haben seine Geschichte weitererzählt. Das apokryphe,
also nicht ins Neue Testament aufgenommene Nikodemus-Evangelium nennt
ihn Dismas. Ich habe dort nachgeschlagen und mit Freude gelesen, dass
der Erzengel Michael diesen Dismas persönlich im Himmel empfängt. Doch
das Wichtigste steht schon im Lukas -Evangelium. Und eigentlich genügt
das.(Alois Bierl, Chefreporter beim Sankt Michaelsbund)
Jedes Mal freue ich mich darauf, wenn ich es aufschlage. Ich gebe zu, das kann ich nicht von allen Schriften in der Bibel sagen. Beim Lukas-Evangelium habe ich mich jedoch nie dazu überwinden müssen, darin zu lesen. Äußerlich fällt es schon deshalb auf, weil es das längste Buch des Neuen Testaments ist. Gleich zu Anfang gibt Lukas gibt zu, dass er Jesus von Nazareth persönlich nicht gekannt hat. Wie ein gewissenhafter Forscher ist er aber allen Quellen und Berichten „sorgfältig nachgegangen“ und wie ein guter Journalist hat er sein Material brillant für sein eigenes Buch zusammengestellt.
Das schnell überlesene Vorwort
Seine Recherche hat sich gelohnt. Lukas hat Geschichten gefunden, die bei keinem anderen Evangelisten stehen und die zu berühmtesten und schönsten der Bibel zählen: seine Weihnachterzählung, die Gleichnisse vom verlorenen Sohn und vom barmherzigen Samariter. Besonders mag ich die Emmausgeschichte, mit der Lukas der Auferstehung Christi eine neue Wendung gibt. Die rührende Erzählung zeigt, wie gewaltig schon die frühen Christen davon bewegt und überzeugt waren, dass im Brotbrechen, in der Eucharistie, der Gekreuzigte und Auferstandene ganz bei ihnen ist. Bei der erneuten Lektüre habe ich mich gewundert, dass ich ganz vergessen hatte, dass ein Sponsor Lukas unterstützt hat, dem das Evangelium gewidmet ist. Wahrscheinlich lesen die meisten, sowie ich auch, über das Vorwort schnell hinweg. Dort steht, dass Lukas sein Evangelium für einen gewissen Theophilus aufgeschrieben hat, der ein wohlhabender Mann und Anhänger einer frühen Christengemeinde gewesen sein muss.
Theophilus – wohlhabend und nachdenklich
Ich stelle mir vor, wie Lukas in dessen Villa gearbeitet hat. Unwahrscheinlich ist, dass er alles in einem Zug auf Schriftrollen niederschrieb. Vielleicht hatte er eigene Notizzettel, Niederschriften von fremder Hand und vielleicht sogar Protokolle von Interviews, die er mit Zeitzeugen geführt hatte. Das Material hat er zusammengestellt, auf Einzelseiten abgeschrieben oder vielleicht einem Sklaven diktiert und die Blätter dann für Theophilus zu einem Buch zusammenbinden lassen. Theophilus hat für sein Geld jedenfalls ein Meisterwerk bekommen. Sprachlich und von seinem literarischen Aufbau ragt das Lukas-Evangelium aus den anderen biblischen Schriften heraus. Sogar in der Übersetzung ist das zu spüren. Und dieser Theophilus muss ein besonderer Mann gewesen sein. Ich stelle ihn mir als nachdenklichen Menschen vor, der gerne gelesen hat, sonst hätte er kein literarisches Werk in Auftrag gegeben. Vielleicht hat er sich sogar geniert, dass er in seiner Heimatstadt im heutigen Griechenland oder der Türkei ein Großverdiener war.
Lukas mutet den Reichen etwas zu
Das mag Theophilus beschäftigt haben, vielleicht war er auch ein großer Wohltäter, dem das materielle Leid anderer nicht gleichgültig war. In jedem Fall hat er hingenommen, dass Lukas Leuten seinesgleichen starken Toback zumutet. Das Evangelium erzählt vom armen Lazarus, „dessen Leib voller Geschwüre war“ und der vor der Tür eines reichen Mannes liegt, „der sich in Purpur und feines Leinen kleidete und Tag für Tag glanzvolle Feste feierte“. Im Jenseits leidet der reiche Mann dann „qualvolle Schmerzen“, obwohl er nichts Schlimmes angestellt hat, außer den Lazarus zu übersehen, der die Seligkeit gefunden hat. Wieder so ein Gleichnis, das nur bei Lukas zu finden ist. Sein Jesus besitzt ein empfindliches soziales Gewissen und führt damit die Linie der Propheten im Alten Testament konsequent fort. Lukas spart da nicht an scharfen und kompromisslosen Ermahnungen. Gleichzeitig liegt über seinem Evangelium eine Menschenfreundlichkeit und Wärme, die mir als Leser guttut. Würde mich jemand fragen, welche Schrift aus der Bibel er unbedingt gelesen haben müsste, wäre meine Antwort sofort: das Lukas-Evangelium.
(Alois Bierl, Chefreporter beim Sankt Michaelsbund)
Sie war ein richtiger Stopper, diese Erzählung aus dem Matthäusevangelium. Ich habe eine Zeitlang gebraucht, um danach weiterlesen zu können. Trotzdem hat sie mich noch vor dem Einschlafen beschäftigt und am Morgen danach wollte sie mir auch nicht aus den Gedanken gehen: die Geschichte von der kanaanäischen Frau im 15. Kapitel. Da schreit eine Mutter aus Verzweiflung, weil ihre Tochter von einem Dämon besessen ist. Heute würden wir vielleicht sagen, das Mädchen leidet an einer schweren psychischen Krankheit. Sie fleht Jesus an, ihre Tochter zu heilen. Aber die Frau ist eine Kanaanäerin, eine Heidin, Götzenanbeterin, weit weg vom rechten Glauben.
Eine Frau, die nicht auf den Mund gefallen ist
Sie zu verachten gehört zur religiösen Etikette, auch für Jesus von Nazareth. Zunächst würdigt er sie nicht einmal einer Antwort. Den Jüngern ist ihr Geschrei peinlich. Jesus soll sie wegschicken. Und mit einer Beleidigung macht er ihr klar, dass er für jemanden wie sie seine Fähigkeiten nicht vergeuden will und ausschließlich für das Volk Israel zuständig ist: „Es ist nicht recht, das Brot den Kindern wegzunehmen und den kleinen Hunden vorzuwerfen.“ Die Kanaaniterin ist jedoch weder auf den Kopf noch auf den Mund gefallen: „Ja, Herr! Aber selbst die kleinen Hunde essen von den Brotkrumen, die vom Tisch ihrer Herren fallen.“ Ich stelle mir das verblüffte Gesicht von Jesus in diesem Moment vor. Wie er den Ärger über die freche Beharrlichkeit dieser Person spürt und gleichzeitig Respekt vor ihr. Er ist dann auch ganz knapp: „Frau, dein Glaube ist groß. Es soll dir geschehen, wie du willst.“ Und die Tochter ist geheilt.
Wahrheit ist etwas anderes als klare Kante
Damit ist das Eingeständnis verbunden: ich, Jesus, hatte unrecht! In meinem Kopf verbindet sich diese Stelle aus dem ersten Evangelium im Neuen Testament, mit einer aus dem letzten. Mit einem der berühmten „Ich bin“-Worte bei Johannes. „Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben…“ Wenn ich die beiden Abschnitte nacheinander lese, kommt mir in den Sinn, dass Wahrheit wohl etwas ganz anderes sein muss als klare Kante, Rechthaben, kein Schluss aus und basta. Wahrheit entwickelt sich, sie ist eben ein Weg. Selbst Jesus lernt und gewinnt neue Einsichten. Dabei behandelt die Geschichte bei Matthäus eine der wichtigsten Fragen für jede Gemeinschaft: Wer gehört dazu, wer gehört nicht dazu? Jesus hat plötzlich gelernt, dass das gar keine Rolle spielt, wenn ein Mensch nach Gott schreit. Und da fällt mir meine Kirche ein: Wie oft hat sie das scheinbar ganz genau gewusst, wer Recht hat, und wer dazugehören darf, zumindest gewusst, wer an den Rand zu stellen ist.
Alte Gewissheiten hinter sich lassen
Passiert übrigens nicht nur durch die Glaubenskongregation in Rom, sondern auch in vielen Pfarreien auf dem Dorf oder in der Stadt. Sogar Jesus gibt bei Matthäus im 18. Kapitel eine klare Anweisung, wann jemand auszuschließen ist. Vor diesen Versen steht aber die Geschichte vom Hirten, der dem verlorenen Schaf nachgeht und danach der Rüffel an Petrus, der fragt, ob sieben Mal verzeihen reicht. Und Jesus antwortet: „Ich sage dir nicht: Bis zu siebenmal, sondern bis zu siebzigmal siebenmal.“ Zur Wahrheit zu finden, zum Einklang mit Gott und den Menschen, das ist ein mühsames Vorantasten. Die Bereitschaft, alte Gewissheiten hinter sich zu lassen, gehört dazu.
(Alois Bierl, Chefreporter beim Sankt Michaelsbund)
Immer wieder treffe ich Theologen, die mich ein bisschen scheel ansehen, wenn ich unbedarft vom Alten und vom Neuen Testament spreche. Sie korrigieren mich zwar nicht direkt, sprechen aber konsequent vom Ersten und vom Zweiten Testament. Verkehrt ist das nicht, weil es die richtige zeitliche Reihenfolge der beiden Teile der christlichen Bibelwiedergibt. Ich verstehe, dass diese Theologen die enorme Bedeutung des Alten Testaments hervorheben wollen. Sie betonen, dass es nicht von einem Neuen Testament abgelöst und verdrängt worden ist. Die Begriffe Erstes und Zweites Testament hören sich für mich trotzdem nach Bundesligatabelle oder Olympiamedaillen an, eben nach Nummer eins und Nummer zwei.
Kodex statt Schriftrolle
Da bleibe ich doch lieber bei den herkömmlichen Begriffen, zudem ich das Eigenschaftswort „alt“ überhaupt nicht respektlos finde. Im Gegenteil: was alt ist und sich über die Jahrhunderte behauptet und fortgesetzt. hat, besitzt eine besondere Würde. Und mit dem „Zweiten Testament“, setzt doch tatsächlich etwas Neues ein. Das beginnt schon mit der Form: Die frühen Christenhaben haben sehr schnell auf die bis dahin gängigen Schriftrollen verzichtet, sondern ihre Schriften in Kodizes aufbewahrt, also in Form aufeinander liegender und zusammengebundener Blätter. Damit haben sie diese Schriften auch kompakt zu einem einzigen Buch zusammenfassen können. Ein solcher Kodex ließ sich leichter transportieren und bei Verfolgungen verstecken als eine Batterie Schriftrollen. Zudem waren verschiedene Textstellen durch einfaches Umblättern schneller zu finden und zu vergleichen. Die frühen Christen haben sich einer damals neu aufkommenden und modernen Technologie bedient, so wie heute Texte als elektronische Dateien und nicht in einem Schreibheft aufbewahrt werden. Damit grenzten sie sich auch von anderen und „konservativen“ Gruppen ab. Besonders die gebildeten Oberschichten im Mittelmeerraum bevorzugten noch lange Zeit die Schriftrolle.
Briefe als Heilige Schrift
Das ist aber nicht das einzig neue am zweiten Teil der Bibel. Sie umfasst viele Briefe, eine literarische Form, die im Alten Testament nicht vorkommt, und viele davon stammen eindeutig von einem einzigen und greifbaren Autor: Paulus, selbst wenn viele Bibelausgaben auf einige spätere Einschübe hinweisen, die nicht von ihm stammen. Die Zuschreibungen für die Autoren des Alten Testaments sind viel undeutlicher. Dessen Bücher haben einen etwa tausendjährigen Entstehungsprozess hinter sich, immer wieder haben kluge Köpfe etwas eingefügt oder umgestellt. Das neue Testament war in weniger als 100 Jahren weitgehend abgeschlossen. Und das Wichtigste: im Neuen Testament taucht eine zuvor unbekannte oder höchstens undeutlich geahnte Hauptperson auf: Jesus von Nazareth. Ihm verdankt es überhaupt erst seine Entstehung.
Matthäus schlägt Sportschau
Der zweite Teil der Bibel kann sich auf ihn und seine Deutung konzentrieren. Im Gegensatz zum Altern muss sich das Neue Testament weniger mit komplizierter Weltpolitik, einer vielen hundert Jahre langen Nationalgeschichte und Staatsgrenzen herumschlagen. Gleich auf den ersten Seiten fällt mir das Lesen im Neuen Testament jedenfalls leichter als im Alten. Durch die geschichtlichen Bücher oder selbst die Propheten oder Weisheitsbücher habe ich mich durchkämpfen müssen, so stark und wichtig die Eindrücke auch waren. Sie begleiten mich jetzt durch das Matthäus-Evangelium, bei dem mir jetzt viele alttestamentliche Bezüge auf Anhieb klar sind. Das hat mich angetrieben, das erste Buch des Neuen Testamentes an einem späten Samstagnachmittag auf einen Sitz zu lesen. Und das Matthäusevangelium hat mich so gepackt, dass ich auf die Sportschau verzichtet habe.
(Alois Bierl, Chefreporter beim Sankt Michaelsbund)
Der kleine Prophet ist ein großer Unbekannter, aber er ist der Schlussakkord in der großen Sinfonie des Alten Testaments. Das Buch Maleachi steht an dessen Ende. Ob es wirklich ein einzelner Autor dieses Namens geschrieben hat, wissen die Bibelwissenschaftler nicht genau. Der nur wenige Seiten umfassende Text richtet sich scharf gegen Priester, die rituelle Vorschriften bei den Opfergaben missachten. Für mich liest es sich so als hätten sie versucht, sich zu bereichern. Maleachi, vielleicht sind Teile des Buches sogar selbst von einem Priester verfasst, bedenkt die untreuen Gottesdiener mit einem schweren Fluch: „Siehe, ich schlage euch den Arm ab und werfe euch Unrat ins Gesicht.“ Das geht unter die Haut. In meinen Augen liest es sich wie eine vorweggenommene Rechtfertigung der Tempelreinigung durch Jesus von Nazareth.
Maleachi, der Frauenversteher
Maleachi wendet sich dann gegen die Ehen, die jüdische Männer, wahrscheinlich aus der Oberschicht, mit nichtjüdischen Frauen schließen, um bessere Aufstiegschancen zu haben. Dass sie ihre erste Frau dafür verstoßen, empört Maleachi. Diese Männer bedecken ihr „Gewand mit Gewalttat“. Der Autor ist da ein Frauenversteher und auch das dürfte dem Jesus der Evangelien gefallen haben. Am Ende dieses letzten alttestamentlichen Buches kündigt Maleachi die Wiederkehr des Propheten Elija und deutet eine neue Einheit unter den Menschen an. Der kleine Prophet, der im Schatten der großen Jesaja, Jeremia, Ezechiel und auch anderer kleiner Propheten wie Amos oder Jona steht, wird hier zu einem wichtigen Gelenkstück. Das Buch ist im christlichen Kanon gewiss mit Bedacht ans Ende des Alten oder Ersten Testaments gesetzt. Es verspricht unterschwellig eine Fortsetzung. Es ist wie ein Cliffhanger in mehrteiligen Filmen, die Spannung erzeugen und dem Zuschauer sagen, da kommt noch Entscheidendes nach, ein neuer Held, dessen Taten und Charakter schon angedeutet werden.
Unterschiede im jüdischen und christlichen Kanon
Der christliche Kanon des Alten Testaments ist allerdings anders als der jüdische. Der sogenannte Tenach ist anders aufgebaut. Tenach ist übrigens ein Kunstwort. Es leitet sich von den Anfangsbuchstaben der Tora (Weisung) mit den fünf Büchern Mose, den Nevi´im (Propheten) und den Ketuvim (Schriften) ab, die am Schluss stehen und mit den Büchern er Chronik enden. In deren letzten Versen kündigt der Perserkönig Kyrus an, dass er die Babylonische Gefangenschaft beendet, die Judäer wieder nach Jerusalem zurückkehren und dort einen neuen Tempel errichten können. Das ist eine klare Perspektive, das Happy End einer langen Geschichte. Für die juden- und heidenchristlichen Leser des Alten Testaments, steht das aber erst bevor. Entsprechend gruppieren sie dessen einzelne Bücher um. Dabei gab es unter den frühen Christen Stimmen, das Alte Testament völlig zu verwerfen.
Neues Testament beginnt mit alttestamentlichen Stammbaum
Das hat sich nicht durchgesetzt. Denn den jüdischen wie den heidnischen Christus-Anhänger war klar, dass ihr Erlöser sich nicht vom Gott des Volkes Israel, seiner Geschichte und seinen Propheten abspalten ließ. Das macht schon der erste Vers des Neuen Testaments klar: „Buch des Ursprungs Christi, des Sohnes Davids, des Sohnes Abrahams“. Das erste Kapitel des Matthäusevangeliums startet mit einem ausführlichen Stammbaum und einem Paukenschlag: Mit Jesus kommt nicht der Prophet Elija zurück, sondern der Gott Israels als Mensch auf die Welt. En passendes Jesaja-Zitat aus dem Alten Testament darf dabei nicht fehlen.
(Alois Bierl, Chefreporter beim Sankt Michaelsbund)
Es hat sich gelohnt, dafür ein paar Urlaubstage herzugeben. Ich habe
da neben den biblischen Propheten auch ein vor über einem
Vierteljahrhundert erschienenes Buch gelesen. Es hat damals viel Furore
gemacht, sogar den Pulitzerpreis gewonnen. „Gott. Eine Biographie“ heißt
es schlicht und geschrieben hat es der amerikanische Theologe und
frühere Jesuit Jack Miles. Ich habe vorher schon immer wieder hineingeschaut, wenn mich die Gewaltschilderungen etwa bei Josua, in den
Büchern der Richter und der Könige ganz hilflos gemacht haben. Nun bin
ich die 500 Seiten komplett durchgegangen. Jack Miles hat mir erheblich
geholfen, etwas Ordnung in meine Eindrücke von der Bibel zu bringen.
Ein Gott, der sich ändern kann
Sein
Grundgedanke ist, verkürzt beschrieben, dass es Gott im Alten Testament
gelingt, sich wie eine Romanfigur zu entwickeln und zu ändern.
Zumindest, wenn Menschen ihre jahrhundertelangen Erfahrungen mit ihm
schildern. Da hat die Geschichte des Volkes Israel immer wieder
existenzbedrohende Abstürze erfahren, Einflüsse anderer Kulturen dringen
ein, das Verhältnis zu fremden Völkern schwankt und davon bleibt Gott
nicht unberührt. Dabei ist der Gott des Alten Testament tatsächlich
etwas Besonderes. Im Gegensatz zur Götterwelt anderer antiker Religionen
fängt der Gott des Alten Testaments alles allein und zum ersten Mal an.
Er hat keine Eltern, keine Frau und keine Geschwister wie etwa die griechischen Götter. Miles nennt ihn eine „kosmische Waise, buchstäblich
der einzige seiner Art“.
Gott und seine Wutanfälle
Am
Beginn des Alten Testaments hat Gott keine Beziehungserfahrungen, muss
sie erst allmählich sammeln, kennt nur sich und seine Allmacht. Der
erste vertraute Freund, den er hat, ist Moses. Sein Gegenüber sind die
Menschen, die er nach seinem Bild geschaffen hat. Sie stellen ihn aber
immer wieder vor unerwartete Fragen. Auf die Idee, dass Kain seinen
Bruder Abel erschlagen könnte, ist Gott gar nicht gekommen. Es gibt zu
Beginn des Buches Exodus nicht einmal ein Tötungsverbot über das sich
Kain hinweggesetzt hätte müssen. Darauf muss Gott nun eine Antwort
finden: es sind die Zehn Gebote im Buch Exodus und ausführlich entfaltet
im Buch Deuteronomium. Sie sind eine Antwort aus einer Erkenntnis Gottes: Der Mord in zerstört menschliche Gemeinschaft, greift die
Schöpfungsordnung am, selbst wenn ein unwillkürlicher Affekt dazu
treibt. Krieg ist eine andere Sache, aber Mord und Totschlag müssen
verboten sein. Mit Affekten kennt sich Gott nach Miles übrigens gut aus,
weil er selbst oft so unberechenbar handelt und maßlos ist in der
Androhung seiner Strafen. Gott hat da richtige Wutanfälle.
Gott entdeckt seine Zuneigung
Von
denen lese ich gerade bei den Propheten. Aber als Gegengewicht
beschreiben sie Gottes geradezu verzweifelte Sorge um das Volk Israel
und er gleich neben den Drohungen stehen überschwängliche Versprechungen. Auch da entdeckt er in sich etwas bisher Unbekanntes und
Widersprüchliches: die grenzenlose Zuneigung zu den so oft untreuen
Menschen. In den Psalmen wagen es die Israeliten, ihm ohne Angst
näherzukommen und ihn zu bestürmen. Sie haben entdeckt, dass dieser eine
Gott gleichzeitig ein vielfältiger ist. Er trägt die einzelnen
Gottesbilder der fremden Völker in sich, er ist ein Schöpfer, aber auch
ein Zerstörer wie in der Sintflut, ein unerbittlicher Krieger für sein
Volk und zugleich ein Beschützer, Tröster oder guter Hausgeist.
Kein Softie
Dabei
nimmt er seine unmittelbare Macht immer weiter zurück, lässt sich von
jedem ansprechen. Er ist ein lernender Gott, der schließlich vor allem
das Gesetz und die Gerechtigkeit verkörpern will. Er wird zum Gott, der
für die Schwachen eintritt, für diejenigen da ist, die von den Mächtigen
der Welt schnell übersehen werden. Der All-Mächtige schaut auf sie.
Aber nichts, „was einmal in Gottes Persönlichkeit auftaucht,
verschwindet jemals ganz“, schreibt Miles. Zum Softie wird dieser Gott
nicht. Er ist unendlich und deshalb keine ausrechenbare Größe. Im Lauf
des Alten Testaments hat er immer wieder neue Seiten an sich gefunden.
Davon erzählen die Propheten. Und sie deuten an, dass er noch andere
Überraschungen parat hält. Für die Menschen ist er bereit, unerhörtes
Leid auf sich zu nehmen. Aber das ist eine andere Geschichte, die das
Neue Testament erzählt. (Alois Bierl, Chefreporter beim Sankt Michaelsbund)
Manchmal muss ich unwillkürlich aufstöhnen, die Luft zwischen den
Zähnen einziehen oder mir an den Bauch greifen, wenn ich mich ins Alte
Testament vertiefe. Oft erscheint es mir, als würde der ganze Körper mitlesen und mitfühlen, was da steht. Ich bekomme einen komischen
Geschmack im Mund, wenn ich bei Jeremia auf die Drohung stoße: „jedem
Menschen, der die sauren Trauben isst, werden die Zähne stumpf“. Als mir
neulich ein Freund eine sehr traurige Nachricht mitteilte, die mich
tief getroffen hat, schoss mir sofort ein Vers aus dem Zweiten Klagelied
durch den Kopf: „mein Inneres glüht, meine Leber ist zu Boden geschüttet“.
Leidenschaft für innere Organe
Knapper
und treffender lässt sich ein tiefer Schmerz kaum in Worte, zu einem
Sprachbild formen. Es hätte auch der Psalm 73 sein können: „mein Herz
war bitter und Schmerz bohrte mir in den Nieren“. Vielleicht schlagen
viele Bibelstellen deshalb so stark in Bann und setzen sich fest, weil
sie mächtige Erfahrungen ins Leibhaftige übersetzen. Jede Wahrheit ist
körperlich. Das haben die Schriftsteller des Alten Testaments gewusst
und meisterhaft in eine Sprache gefasst, die den ganzen Menschen im
Blick hat. Und der reicht eben bis in die Eingeweide. Auf innere Organe
und Körperfunktionen treffe ich in der Bibel ziemlich häufig, dafür
haben die Autoren eine Leidenschaft. Am wichtigsten ist natürlich das
Herz, das je nach Übersetzung und Zusammenhang zwischen 350- und 850-mal
gezählt wird. Oft stoße ich auch auf die Nieren.
Leibnähe des Alten Testaments
Laut
der Internetseite Bibelwissenschaft.de sind sie das zweitwichtigste
Organ, auch wenn es „nur“ 31-mal erwähnt wird. Die Nieren stehen oft für
den Sitz des Gewissens, des Bewusstseins, der Seele. Doch auch da
unterscheiden sich die Übersetzungen und entsprechend die Zählung. In
der Lutherbibel heißt es im Psalm 139 etwa: „Denn du hast meine Nieren
bereitet und hast mich gebildet im Mutterleibe.“ Die katholische
Einheitsübersetzung schreibt: „Du selbst hast mein Innerstes geschaffen,
hast mich gewoben im Schoß meiner Mutter.“ Als gelernter Journalist
weiß ich, dass eindeutige und anschauliche Begriffe allgemeinen stets
vorzuziehen sind: „Äpfel und Birnen“ sind immer deutlicher als „Obst“.
Deshalb halte ich die Lutherübersetzung hier für stärker. Und ich meine,
sie gibt an dieser Stelle auch die Leibnähe des Alten Testaments, ihre
Bildhaftigkeit und dessen eindringlichen Sound besser wieder. Wenn es um
wichtige Dinge und erst recht, wenn es um Gott geht, freut sich und
leidet der ganze Mensch: mit Haut und Haar, mit Herz und Nieren, das
geht durch Mark und Bein.
Poetische Kraft der Bibel
Um
Gott und sich selbst nahezukommen, reicht das Gehirn nicht aus, das im
Alten Testament gar nicht vorkommt. Erkennen, erinnern, empfinden und
verstehen sind in der Bibel eine Angelegenheit des Herzens, der Nieren,
oder eben der Leber. Mir war im Moment der traurigen Nachricht
jedenfalls tatsächlich zumute, als wäre „meine Leber…zu Boden
geschüttet“. Es hat mir geholfen, dass es für meinen Kummer in einem
solchen Moment Worte gibt, die mehr als nur abstrakt und allgemein
sagen: „Jetzt bin ich aber traurig“. Für das, was mich im Innersten
aufrührt und unter die Oberfläche geht, findet die Bibel einen Ausdruck.
Sie hat eben eine poetische Kraft, die den Menschen packt. Darum wird
sie ja auch in aller Welt gelesen.
(Alois Bierl, Chefreporter beim Sankt Michaelsbund)
Lange, staubige Trecks. Kein Wasser. Krieg mit den Alteingesessenen.
Eroberung des versprochenen Landes, des promised country. Starke Männer,
die für Ordnung sorgen. Opferbereitschaft. Ebenso unerbittliche
Vergeltung, Rache und ihre schlimmen Folgen. Manchmal zwielichtige,
aber immer starke Frauen, die durch ihre Klugheit Gefahren abwenden.
Außenseiter oder unscheinbare Gestalten, die zu Helden werden.
Schließlich kommen Städte und Organisation, Zivilisation und Eisenbahn,
Sieger und Abgehängte. Und es kommen Bedrängnisse und Zweifel: War das
alles so richtig? Lastet durch das eigene Tun ein Fluch auf uns? Wie
konnte es kommen, dass das große Gemeinschaftsunternehmen, die große Verheißung in Einzelinteressen zerfallen ist, so zerreißende
Widersprüche gewachsen sind? Wie viel Ungerechtigkeit, Grausamkeit und
Armut war da von Anfang an und ist geblieben? Was oder wer ist da vergessen worden? Fragen, bei denen am Sinai genauso großes Kino
herauskommt, wie am Grand Canyon.
Prärie und Propheten
Wenn
ich auf ein halbes Jahr Lektüre im Alten Testament zurückschaue, dann
fühle ich mich oft wie in einem langen Westernfilm vor, der alle
Facetten dieser Kinogattung ausschöpft. Die ist voll von biblischen Anspielungen und Namen. In einem meiner Lieblingswestern wimmelt es nur
so davon. In „The Searchers“, im deutschen Verleih lautet der Titel „Der
Schwarze Falke“, gibt es einen Aaron, einen Mose, einen Samuel, eine
Debbie, also eine Deborah. John Wayne heißt darin Ethan, der Name kommt
im Ersten Buch der Könige, im Ersten Buch der Chronik und im Psalm 89
vor, er bedeutet „der Feste“ oder „der Fortdauernde“. Fest ist John
Wayne in dieser Rolle vor allem in seinem Hass, und was in ihm
fortdauert ist der Krieg und die Entmenschlichung, aus der er kommt,
genauso wie sein Gegenspieler, der Comanche Scar. In späteren Westernfilmen werden solche Helden immer gebrochener, die Fragen nach
Schuld und Sühne immer dringlicher, besonders wenn es um die Ausrottung
der Indianer, der native people, geht. Das Alte Testament ist da weniger
empfindsam, wenn die Amalekiter von der Landkarte verschwinden.
Bibelfeste Pazifistin greift zum Gewehr
Im
Western werden die Genesis, Exodus, die Propheten und vieles anderes
aus Bibel erzählt. Es geht um ein göttliches Versprechen, die Verheißung
auf ein gutes, erfülltes Leben und die Menschen vermasseln es, weil sie
aus freiem Entschluss sündigen, Böses tun. Und selbst wenn eine Episode
oder ein Film gut ausgeht, er hinterlässt unschuldige und auch
schuldige Opfer, oder geopferte Ideale, wie in „High noon“ (Zwölf Uhr
mittags), wenn die bibelfeste Pazifistin auf die Feinde ihres Mannes
schießt. Der ist ein Marschall, den alle braven Bürger im Stich lassen,
weil es gefährlich ist und Bekennermut verlangt, das Recht zu
verteidigen. Da grüßen schon wieder Prophetenschicksale und der leidende
Gerechte.
Der lange Weg nach Texas und ins Paradies
Im
Alten Testament und im Western erleben Menschen, wie gebrechlich ihre
Welt eingerichtet ist und dass sie so lange keine Erlösung finden
werden, wie sie das gelobte Land mit unschuldigem Blut düngen und das
Recht ersticken. Beide erzählen von Enttäuschung, Sehnsucht und
schlimmen Vergehen, aber auch von der Hoffnung, dass Umkehr möglich ist
und tatsächlich immer wieder geschieht. Zumindest vorläufig. Denn das
verheißene Land, in das Gott sein Volk geführt hat, steht erst am Anfang
des Reiches Gottes. Es ist noch ein langer Weg nach Texas. Oder ins
Paradies, dem endgültigen Ziel. Jeder Versuch diesen Weg in Gerechtigkeit und Frieden zurückzulegen, ist eine Meile auf dem schweren
Weg ins Gelobte Land. Darum lohnt es sich das Alte Testament zu lesen –
und Western anzuschauen.
(Alois Bierl, Chefreporter beim Sankt Michaelsbund)
Da fliegen die Fetzen und die Hormone schäumen über, wenn Gott so etwas wie Hormone hätte. Seine emotionale Verausgabung in den Prophetenbüchern ist enorm. Schon in den ersten Büchern der Bibel, etwa in Exodus, sind diese Gefühlausbrüche heftig. Bei Jesaja, Jeremia und Ezechiel kommen sie mir noch atemloser vor, sie ziehen sich fast ununterbrochen von Kapitel zu Kapitel und beschäftigen mich. Bei Facebook könnte der Beziehungsstatus zwischen Jahwe und seinem Volk lauten: „verheiratet“, „in einer festen Lebensgemeinschaft“ und „es ist kompliziert“. Denn die symbolische Braut Israel ist flatterhaft, gewissenlos, poussiert mit fremden Liebhabern – das Alte Testament drückt es wesentlich deftiger aus. Sie betet Götzenbilder an, die doch nur totes Holz oder Metall sind. Und Gott erscheint als verzweifelter Bräutigam. Er hat Treue geschworen. Die fordert er aber auch ein und – er wird schmählich betrogen. Jahwe ist aufgewühlt, droht und schmeichelt und ist ständig aus dem Häuschen. Er flüstert und schreit, holt mit der Hand zum Schlag aus und ist im nächsten Augenblick wieder zärtlich und besorgt.
Zorn und Zärtlichkeit
Es ist fast wie in den „Szenen einer Ehe“, der berühmt-berüchtigten Fernsehserie von Ingmar Bergman, übrigens der Sohn eines evangelischen Pastors und ein Bibelkenner. Bei den Propheten kommt mir Gott oft wie ein tobsüchtiger Ehemann vor, weil er so böse getäuscht worden ist. Er ist allmächtig und gleichzeitig hilflos, weil er fast närrisch liebt. Und weil er so liebt, will er sein Gegenüber davor bewahren, sich selbst zu verderben, zur Not mit furchterregenden Drohungen, Prügel und Gewalt. Verwirrend schildern ihn die Propheten nicht nur als Bräutigam, sondern ebenso als Mutter und Vater seines Volkes. Er lebt jede Form und Erfahrung der Nähe, die Menschen kennen. Die kippt mühelos von Zorn in Zärtlichkeit und umgekehrt. In seinen Gefühlsausbrüchen ist dieser totale Gott einer von uns und rückt den Menschen dadurch auf den Leib. Er ist ewig, unendlich fern und hält dennoch keinerlei Abstand, ist distanzlos.
Kein unbewegter Beweger
Der Gott Israels ist kein „unbewegter Beweger“ und darum war er ein Problem für die griechischen Philosophen der Antike. Für sie war ein höchstes Wesen, das nicht entrückt, unangefochten und souverän den Weltenlauf weise lenkt, schlicht unvorstellbar. Das Göttliche konnte nicht durch Affekte und sogar Aggressionen auf eine menschliche Ebene herabsinken und schon gar nicht vor Wut die Kontrolle über sich verlieren. Doch gerade das macht Jahwe den Menschen vertraut, er hat eine Passion für sein Geschöpf. Die Propheten beschreiben sie und nicht umsonst zitiert sie das Neue Testament so häufig und an Schlüsselstellen. Diese Leidenschaftlichkeit geht im Neuen Testament in eine unfassbare und für die Philosophen skandalöse Leidensbereitschaft Gottes über. „Gott Abrahams, Gott Isaaks, Gott Jakobs, nicht der Philosophen und Gelehrten“, hat der geniale Mathematiker und Logiker Blaise Pascal in einem Text geschrieben, den er immer in seiner Jacke eingenäht hatte. Auch er war ein Philosoph, aber einer, der Gott viel mehr zugetraut hat, als bloße Vernunft zu sein, sondern genauso ein heißblütig und leidenschaftlich Liebender. So wie ihn die Propheten Israels erleben und beschreiben.
(Alois Bierl, Chefreporter beim Sankt Michaelsbund)
Für Propheten wie Ezechiel muss der Leser einen großen und starken
Magen haben. Da ist viel miteinander Unvereinbares zu verdauen. Das gilt
für die ganze Bibel, für Ezechiel aber besonders, dessen Name auch mit
Hesekiel übersetzt wird. Da ist ein merkwürdiger Fanatiker, der sich von
Gott eine enthemmte Brutalität wünscht. Ezechiel hat geradezu
pornografische Fantasien, wenn seine Israeliten oder andere Völker nicht
so recht spuren und wieder einmal nicht kapieren, was Jahwe fordert.
Treu gegen Gott, skeptisch gegen Traditionen
Selbst
wenn das „nur“ drastische Mahnreden und Weckrufe sein sollen, ist es
starker Tobak. Gottes ewiges Gesetz muss sich durchsetzen, wenn es sein
muss mit Gewalt, die der Herr zwar am besten selbst besorgt, er kann
sich aber auch fremder Eroberer bedienen. Sonst lernen es Israel und die
übrige Menschheit nie. Gleichzeitig wirft der Prophet eherne Formen und
Gesetze über den Haufen, die über Jahrhunderte als unverrückbarer Wille
Gottes galten. Er wettert gegen das politische und religiöse
Establishment und theologische Traditionen. Gott straft das Vergehen
eines Einzelnen auch an dessen Nachkommenschaft bis in die vierte
Generation – nicht mit Ezechiel. Einheit von Thron und Altar, von Staat
und Religion, exklusiver Totalanspruch des Volkes Israel auf das Heilige
Land, Unantastbarkeit der Priester, da muckt er entschieden auf. Vieles
liest sich wie ein Kommentar auf Debatten in der Politik und in der
Kirche von heute. Und neben der Drohbotschaft steht die Liebe zum
Menschen, den das Buch anfleht, nicht selbst ins Verderben zu rennen:
„Habe ich etwa Wohlgefallen am Tode des Gottlosen - Spruch GOTTES, des
Herrn -, und nicht vielmehr daran, dass er sich von seinem Wandel
bekehre und am Leben bleibe?“ (Ez 18,23)
Zwang und Gewalt – Gift für den Glauben
Bei
der Lektüre der „Großen Propheten“ (Jesaja, Jeremia und Ezechiel)
treibt mich immer um, ob sie nun Fundamentalisten waren oder die letzten
hellsichtigen Stimmen ihrer Zeit. Mir ist klar, dass viele Verse erst nach ihrem Wirken und den von ihnen beschworenen Katastrophen entstanden
sind und ihnen zugeschrieben wurden. Trotzdem fügen sie sich ein in das
Auftreten der Propheten zu deren Lebzeiten. Einer wie Ezechiel war da
unerbittlich, dagegen kommt mir Jesaja fast wie ein „Softie“ vor. Darf
diese Unerbittlichkeit aber in Forderungen umgegossen werden, die
unbedingt und mit Gewalt zu verwirklichen sind? Es sind doch gerade der
Zwang und die Starrheit religiös begründeter Regeln, die dem Glauben schaden, ihn vergiften. Gerade hat die schiitische Theologin Katajun
Amirpur in einem Buch festgehalten, dass in einer Theokratie wie im Iran
sich nur noch 30 Prozent der Frauen als religiös bezeichnen, sie kehren
dem Islam den Rücken. In diesem Land herrschen offensichtlich Unrecht
und Unterdrückung im Namen Gottes, die doch Gottlosigkeit bedeutet.
Widerspruch ist das Geschäft des Propheten
Dagegen
aufzubegehren, gehört zur Arbeitsbeschreibung eines Propheten,
Widerspruch ist sein edles Geschäft. Vielleicht träte Ezechiel heute
sehr scharf gegen die Ungleichheit der Geschlechter auf, gegen nationale
Extremisten und ausbeuterischen Reichtum sowieso. Die sind nicht nur
unter Muslimen, sondern ebenso unter Christen und Juden zu finden. Da
braucht es möglicherweise Einpeitscher wie Ezechiel. Die nicht
leisetreten, sondern hinausschreien, wie gewaltig und sogar gewalttätig
die Folgen sein können, wenn die Bereitschaft zu Veränderung und oft
schmerzhafter Umkehr zu spät kommen. Ezechiel, und seine Ghostwriter,
nutzen dazu ihre meisterhaften Schriftstellerqualitäten, die mich an
diesen Text fesseln. Trotzdem fällt es mir an vielen Stellen schwer, ihn
nicht als grausame Hetzerei zu lesen, die mir auf den Magen schlägt und
sich schwer verdauen lässt.(Alois Bierl, Chefreporter beim Sankt Michaelsbund)
Wenn meine Frau und ich Lust auf einen gemütlichen Streit haben, dann
reden wir über gendergerechte Sprache. Da wissen wir im Vorhinein, was
uns erwartet: Meine Frau ist eine entschiedene Befürworterin. Endlich
fühle auch sie sich persönlich angesprochen, wenn etwa von „lieben
Leser*innen die Rede ist, endlich wird der selbstverständlichen
männlichen Vorherrschaft in den Hauptwörtern etwas entgegengesetzt. Als
Mann könne ich das halt schlecht begreifen. Deshalb nimmt sie es hin,
wenngleich seufzend und widerstrebend, dass ich ihr nicht zustimmen mag.
Allerdings ist Gott kein Mann
Mir kommt die
Sache eben viel verwickelter vor. Ich denke an die Zuwanderer, denen das
Verständnis und der Erwerb der deutschen Sprache durch den Asterikus,
das berüchtigte Gendersternchen, wohl noch saurer gemacht wird. Das ist
ausgrenzend. Außerdem widerstrebt mir, wenn eine akademische Elite für eine ganze Gesellschaft bestimmen will, in welcher Form Worte moralisch
korrekt sind. Und was eigentlich bekämpft werden soll, die biologische
Aufladung der Grammatik, wird erst recht betont. Ich halte das Gendersternchen für eine gewaltsame Genmanipulation an der Sprache.
Meine Frau aber ist schlau und packt mich jetzt bei der Bibel. Habe ich
nicht selbst gesagt, dass mir Gott als Mann überhaupt nicht einleuchtet,
zeige das nicht, wie wichtig neutrale, geschlechtergerechte Begriffe
sind? Selbstverständlich besitzt sie eine Übersetzung der Bibel „in
gerechter Sprache“. Da stört mich schon der Titel, weil er unterschwellig behauptet, dass die anderen Übersetzungen „ungerecht“
sind.
Gerechte Sprache und Bibel
Aber seitdem ich
die Heilige Schrift komplett lese, greife ich doch immer wieder danach.
Es ist eine kleine Genugtuung, dass dort keine „Gott*in“ vorkommt,
sondern das gute alte Wort „Gott“, ganz ohne Geschlechtergerechtigkeit.
An anderen Stellen ist es „die Gottheit“, mit der ich auch leben und
lesen kann. Mir gefällt außerdem, dass die Übersetzer, korrekt gendernd
müsste ich jetzt wohl schreiben, die Übersetzenden, in einem Glossar
schlüssig erklären, warum sie so verfahren: die hebräischen Texte verwenden verschiedene Gottesnamen und Elohim lässt sich auch als „die
Gottheit“ ins Deutsche übertragen. Beim „Herrn“ hat die „Bibel in
gerechter Sprache“ dagegen Schwierigkeiten, da fängt die Gelehrtenschar
an zu interpretieren. Dem „Adonaj“ entspricht durchaus das deutsche Wort
„Herr“, auch wenn sich „Adonaj“ vom Begriff für weltliche Herren leicht
unterscheidet. Die „Bibel in gerechter Sprache“ schreibt den Herrn
deshalb gerne in „die Macht“ oder „meine Autorität“ um. Sie will damit
„der Festschreibung einer ausschließlichen oder vorrangigen Männlichkeit
Gottes ebenso entgegentreten wie einer Einreihung der Gottesherrschaft
in all die anderen Herren und Herrschaften“. Na ja.
Geistkraft oder Heiliger Geist
Bei
der „Geistkraft“ kann ich wieder besser mitgehen. Die steht in der
„gerechten Bibel“ für den Heiligen Geist. Das hebräische Wort dafür ist
„ruach“ und weiblich, das Griechische verwendet dafür das Wort „pneuma“
und das ist immerhin sächlich, also ein Neutrum. Es bedeutet eigentlich
„bewegte Luft“ und erinnert mich an das „leichte Säuseln“, in dem der
Prophet Elija Gott erkennt. Da gefällt mir Geistkraft ganz gut. Und
meine Frau ist mit mir zufrieden, dass ich in wenigsten hier und da
geschlechtergerechte Sprache in der Bibel nicht ganz so schlecht finde.
Solange mich kein Gendersternchen aufreizt!(Alois Bierl, Chefreporter beim Sankt Michaelsbund)
Die Gelegenheit für einen Tag ganz allein mit ihr, ist günstig. Meine
Frau unternimmt einen Ausflug mit dem Enkel. Das Mobiltelefon lasse ich
im Büro. Niemand soll uns stören, wenn wir zu zweit sind. Wir haben einiges nachzuholen, denn meine Bibellektüre ist zuletzt nur schleppend
vorangegangen. Also soll ein ganzer Samstag soll nur ihr gehören, von
morgens bis abends. Das will vorbereitet sein wie kleine Exerzitien. Am
Abend zuvor rechtzeitig zu Bett gegangen, Mittagessen ist vorgekocht,
die Wohnung geputzt, der Schreibtisch aufgeräumt, das Radio bleibt
ausgeschaltet, Nach dem kurzen Frühstück geht´s um 7.00 Uhr los, nicht
mit der ersten Seite am heutigen Tag, sondern mit einem kurzen Gebet und
dem 40. Psalm: „Selig der Mann, der auf den Herrn sein Vertrauen
setzt.“
Kein Dickens und kein Tolstoi
Schließlich
wollen die Propheten Jeremia, Baruch endgültig niedergerungen und
Ezechiel in die erste Runde gerufen sein. Ein bisschen ist Bibellesen
für mich ein Sport. Es ist eine andere Herausforderung, als sich einen
Tag lang in Tolstois „Krieg und Frieden“ oder in „David Copperfield“ von
Charles Dickens zu versenken. Auch da lassen sich die 2.000 bzw. 1.000
Seiten nicht auf einen Sitz schaffen. Aber da sind ein durchgehender
Erzählfaden, aufregende Abenteuer, schillernde Persönlichkeiten, die
sich entwickeln und den Leser an sich binden und ein langer
Spannungsbogen. Ist alles auch in der Bibel zu finden, aber nur in starken Abkürzungen, äußerst konzentriert und immer theologisch
aufgeladen, schließlich liegt da die Offenbarungsurkunde von zwei
Weltreligionen vor und das Vorbild für den Koran, also der heiligen
Schrift einer dritten Weltreligion. Und die Bibel hat nicht nur einen
souveränen Autor, sondern viele unterschiedliche. Manche Überlieferungen
sind unvollständig, Schriftgelehrte und Redakteure haben sie über
Jahrhunderte hinweg mit unendlichem Fließ in eine Form gebracht. Sie
wollten ihr Publikum auch nicht unterhalten, wie das selbst Klassiker
wie Tolstoi oder Dickens als ihre vornehme Aufgabe betrachteten.
Übung lohnt sich
Doch
darüber will ich jetzt gar nicht nachdenken, jetzt beginnt die
sportliche Herausforderung mit Jeremia. Das 6. Kapitel fängt dramatisch
an: „Flieht, ihr Leute von Benjamin, hinaus aus Jerusalem!“ da lässt
sich schnell in einen Lesefluss hineinfinden. Das geht jetzt leichter
und schneller als zu Beginn meiner Bibellektüre, da macht sich die Übung
bemerkbar. Bis Mittag ist der Prophet tatsächlich geschafft, es ist das
längste Einzelbuch der Bibel, die Mahlzeit verdient. Dann lege ich mich
zwanzig Minuten hin, denn die konzentrierte Jeremia-Lektüre hat mich in
ein Wechselbad der Gefühle gestürzt und mir diesen Mann nahegebracht.
Seine Aufgabe ist so groß, seine Mittel so klein. Er ist eine
verletzliche Seele, der manchmal den ganzen prophetischen Krempel vor
sich hinschmeißen möchte und es doch nicht schafft: „Denn das Wort des
HERRN bringt mir den ganzen Tag nur Hohn und Spott. Sagte ich aber: Ich
will nicht mehr an ihn denken und nicht mehr in seinem Namen sprechen!,
so brannte in meinem Herzen ein Feuer, eingeschlossen in meinen
Gebeinen. Ich mühte mich es auszuhalten, vermochte es aber nicht.“
Jeremia ist doch ein Romanheld
Ein
bisschen ist Jeremia doch ein Romanheld, überlege ich bei mir, der eine
Entwicklung durchläuft, eine persönliche Geschichte hat. Doch nicht zu
lange, denn auch Baruch will heute noch gelesen sein und seine kompromisslose Verurteilung des Bilderkults, die mich als
bildersüchtigen Katholiken stark beschäftigt. Am Ende nehme ich mir
sogar noch die ersten drei Ezechiel-Kapitel drin. Wegen der Psychologie,
die auch zum Sport gehört. Denn damit hat die nächste Etappe durchs
Alte Testament begonnen. Es ist ein guter Samstag! (Alois Bierl, Chefreporter beim Sankt Michaelsbund)
Schon wieder zwei Tage ohne prophetische Worte! Meine Bibellektüre
stockt. Nachdem ich den Jesaja mühsam abgeschlossen habe, fällt es mir
schwer, bei Jeremia weiterzukommen und es gibt so viele rechtschaffene
Gründe dafür. Da sind nahe Verwandte ins Krankenhaus gekommen und
verlangen mit Recht, dass ich mich um sie kümmere. Im Haushalt wollen
die Fenster geputzt, die Böden gewischt und die Kleidung gewaschen sein,
im kleinen Garten sind die verblühten Blumen zurückzuschneiden und das
Gras ist zu mähen. In jeder Bürowoche sind Konferenzen wahrzunehmen,
Beiträge zu recherchieren und zu texten, Nachrichten zu sichten und zu
bewerten. Viele davon berichten vom bedrückenden Zustand einer Kirche in
höchster Atemnot. Manchmal kommt es mir vor, als ob das Wort
„katholisch“ ein Synonym für „depressiv“ ist.
Kommentar zu den Frühnachrichten
Da
kann man schon einmal die Lust auf die Bibel verlieren oder sich zu
müde für sie fühlen. Dazwischen sind allerdings viele kleine
Unterbrechungen, Gelegenheiten für einen Psalm oder ein Kapitel bei den Propheten. Oder der wache Moment am Morgen, vor der Fahrt in die
Redaktion. Da sind allerdings gerade die Propheten Stimmungskiller für
einen fröhlichen Aufbruch in den Tag, sondern sie lesen sich wie ein düsterer Kommentar zu den Frühnachrichten über Putin, über
Treibhausgase, über bittere Armut und schamlosen Reichtum anderswo und
hierzulande. „Man schlang zur Rechten, und blieb hungrig, man fraß zur
Linken und wurde nicht satt. Jeder frisst das Fleisch seines eigenen
Armes… (Jes 9.19). Das passt immer, ein mächtiges Bild für jede Krise,
bei mir ist das hängen geblieben und verdrängt die Verheißungen: „Das
geknickte Rohr zerbricht er nicht und den glimmenden Docht löscht er
nicht aus; ja, er bringt wirklich das Recht.“ (Jes 42, 3). Diese
erregte, widersprüchliche Spannung, diesen Ton in den prophetischen
Texten, die kann ich gerade kaum vertragen.
Entspannung oder Propheten
Das
ist der Hauptgrund, warum das Buch jetzt so oft zubleibt. Darin am
Abend zu lesen, gelingt mir zurzeit schon gar nicht. Selbst wenn ich
nach Gott lechze „wie ein Hirsch nach frischem Wasser“ (Ps 42,2), so lechze ich genauso nach einem entspannten Feierabend, einem Kinobesuch,
nach Zerstreuung oder Ruhe. Ach ja, und schwimmen muss ich auch noch,
oder täglich wenigstens 15 Minuten gymnastische Übungen machen, wegen
Schultergürtel und überhaupt Gesundheit. Aber die Bibel macht mich
unruhig und schon gar nicht bietet sie mir Zerstreuung oder eine
Lockerung im Schultergürtel. Immer begleitet und verschärft sie, was
mich entweder im Innersten umtreibt oder was mir an Äußerem durch die
Politik, durch die Welt, durch die Kirche die Seele aufscheuert.
Unruhig, wenn die Beunruhigung fehlt
Dabei
möchte ich so oft einfach dumpf vor mich hinleben, ein bisschen auf die
Schlechtigkeit der Welt schimpfen und wieder dösen, weder nach innen
noch nach außen schauen. Die Propheten öffnen ihren Lesern aber die
Augen, auf die grelle Realität von Leben und Sterben, von Gewalt und
menschlicher Unzulänglichkeit, so dass es weh tut. Warum soll ich mir
das antun? Trotzdem fehlt mir etwas, wenn ich ein paar Tage nicht die
Propheten lese. Da ist die Enttäuschung, mein selbstgestecktes Ziel der
täglichen Bibellektüre zu verfehlen, persönliches Leistungsversagen.
Viel tiefer geht aber ein Paradox: Ich werde unruhig, wenn mir die
Beunruhigung fehlt. Der Rückzug in die warme Kuhle der bequemen Gedankenlosigkeit, in ein noch immer sicheres Wohlstandsleben, in die
nette und gesunde Gemütlichkeit – ich glaube, in dieser stickigen Luft
müsste ich verkümmern. Gott nur einen guten Mann sein lassen, damit gehst du an ihm, der Welt, sogar an dir selbst vorbei, das rufen, ja
schreien mir Jesaja und Jeremia zu. Noch heute muss ich da wieder drin
lesen. (Alois Bierl, Chefreporter beim Sankt Michaelsbund)
Ein älterer Herr mit Bart, meistens trägt er ihn weiß, manchmal
braun. Seit ich denken kann, begegnet er mir in Kirchen und Museen. Es
ist der liebe Gott, so wie ihn die Christenheit seit ein paar
Jahrhunderten kennt, der Schöpfer der Welt. Ab und zu fällt er aus der
Rolle und das sticht dann gleich ins Auge. Auf einem mittelalterlichen
Altarbild von Bertram von Minden in der Hamburger Kunsthalle ist es ein
junger Mann, der die Welt erschafft. Er trägt ein klassisches
Jesus-Antlitz. Der Maler hat das Johannes-Evangelium ernst genommen: wer
Christus sieht, sieht den Vater. Nachdem Jesus aber selbst oft vom
Vater spricht, der von Ewigkeit her lebt, kann ich begreifen, dass die
Kunst Gott als alten, wenngleich tatkräftigen Mann darstellt, so wie
Michelangelo in der Sixtinischen Kapelle.
Unbehagen über ein Bild
Doch
je länger ich im Alten Testament und gerade jetzt im Propheten Jesaja
lese, bereitet mir dieses selbstverständliche Bild Unbehagen. Nicht nur
mir allein: Neulich war ich erstaunt, als die bekannte Paartherapeutin
Ann-Marlene Henning in einem Interview von einer „Energie“ sprach, „die
uns alle verbindet…und es etwas Größeres gibt, das wir jetzt nur noch
nicht verstehen können“. Eine Energie, die Paare stärken kann. Auf die
Frage, ob sie damit Gott meinte, verneinte sie das entschieden, „weil
mit diesem Wort ein Mann mit weißem Bart assoziiert wird“. Mir fallen
die Stellen im Alten Testament ein, die Gott beschreiben wollen. Oft ist
er der Herr, gelegentlich der Vater, er erscheint als Wolke oder als Feuersäule, bei Jesaja schreit er „wie eine Gebärende“ oder trägt das
Haus Israel „vom Mutterschoß an“. Es geht also ganz ohne Bart.
Gott ist einfach „the voice“, die Stimme
Das
Alte Testament beschreibt Rollen Gottes, aber nicht sein Bild. Das
verbietet sich dieses Buch hartnäckig: „Du sollst Dir kein Kultbild
machen und keine Gestalt von irgendetwas am Himmel droben“, heißt es im
Buch Exodus und es wird fast wortwörtlich im Deuteronomium wiederholt.
Auch Jesaja vernimmt von Gott nur dessen Stimme, der sich nur hören und
nicht anschauen lässt. Wie Frank Sinatra ist er einfach „the voice“. Die
Jesaja-Stelle erinnert mich an andere Verse ein paar hundert Seiten
vorher. Blättere ich in meiner Bibel, finde ich sie schnell im ersten
Buch der Könige, weil ich sie nicht nur mit Blei-, sondern sogar mit
einem Rotstift angestrichen habe.
Nichts fürs Auge
Das
19. Kapitel erzählt, wie Elija eine Begegnung mit Gott erfährt. Ein
Sturm, ein Erdbeben, ein Feuer ziehen an dem Propheten vorbei. Darin ist
der Herr nicht zu finden. Er kommt als „ein sanftes, leises Säuseln“.
Elija verhüllt sein Gesicht, als ob jedes Bild für die Augen das
Zusammentreffen mit Gott stören, ja zerstören würde. Und dann hört er
ihn. Mich rührt das zutiefst, genauso wie die Stelle bei Jesaja. Mir gefällt der paradoxe Gedanke, dass Gott eine Stimme ist, die von außen
kommt und dennoch mitten in uns spricht. Sie hebt uns über uns selbst
hinaus, in eine Welt und eine Sprache, die wir mühsam übersetzen. Und
immer wieder muss ich aufs Neue das bequeme und vertraute Bild zur Seite
schieben, dass diese Stimme durch den Bart eines älteren Herren
murmelt. Es ist die Stimme einer Gestalt, die viel zu groß für ein Bild
ist.(Alois Bierl, Chefreporter beim Sankt Michaelsbund)
Viele Verse haben ihren ganz eigenen Kniff, ein kraftvolles unerwartetes Bild. Die Weisheitsbücher habe ich gerne gelesen, weil sie mich an andere Schriftsteller erinnern, die ich gern habe: etwa an Georg Christoph Lichtenberg. Mit seinen berühmten „Sudelbüchern“ hat er einen deutschen Klassiker der Aphorismenliteratur geschrieben, also kurze, prägnante Weisheitssprüche, wie sie auch bei Jesus Sirach oder bei Kohelet zu finden sind. Bestimmt hat der Pfarrerssohn und Physiker aus dem 18. Jahrhundert diese biblischen Bücher gekannt und daraus gelernt. „Wenn ein Buch und ein Kopf zusammenstoßen, und es klingt hohl, ist das allemal im Buch?“, ist einer seiner bekanntesten Aphorismen. Mal schauen wie das wird, nachdem ich nun mit den Propheten angefangen habe. Hohl hat da bisher noch nichts geklungen. Jesaja, der am Anfang steht, schon gar nicht. Und mein Kopf ist von der Vorbereitung auf die Lektüre auch ganz voll.
Kommentar über 200 Jahre Politik
Etwa dass in dem Buch ein Deutero- und ein Tritojesaja, also ein zweiter und dritter Jesaja enthalten sind. Ab dem 40. Kapitel ist ein anderer Autor auszumachen als in den Abschnitten zuvor und nach dem 56. Kapitel wiederum ein anderer. Sonst hätte Jesaja über 200 Jahre alt werden müssen, das lässt sich sogar von exegetisch unbeschlagenen Lesern erkennen, die entweder die Geschichtsbücher der Bibel kennen oder in den historischen Überblick im Anhang der meisten Ausgaben schauen. Denn das erste Prophetenbuch kommentiert alle politischen Angelegenheiten von 740 bis etwa 530 v. Chr. Und das mit Leidenschaft. Jesaja greift alle an, die die Geschichte in der Hand haben, aber keinen moralischen und keinen religiösen Kompass. Und er kämpft für diejenigen, die das aushalten müssen, die einfachen Leute, selbst wenn die oft genug mitirren, den Scharlatanen und ihrem Weg ins Verderben nachlaufen. Es ist unvermeidlich, dass ein solcher Prophet immer wieder auf die Nerven geht, weil er mit seinen Moralkeulen grundsätzlich immer recht hat. „Ich hab´s Euch doch gesagt“, kann ein Prophet stets selbstgewiss behaupten.
Kein Sympathieträger
Wahrscheinlich war Jesaja, der um 740 v. Chr. gelebt hat, deshalb kein sympathischer Mensch, das gehört jedoch nirgendwo zur Stellenbeschreibung eines Propheten. Ich merke selbst, wie er mit seinem schonungslosen Dauerkritisieren Unbehagen und Unsicherheit in mir auslöst. Entweder ist der Einzelne oder eine ganze Gesellschaft zu lau, zu hitzig oder zu unbesonnen. Mahnungen, die irgendwie immer stimmen und sich abnützen. Jesaja hatte trotzdem stets Konjunktur. Bei der Lektüre ist schon in den ersten Kapiteln zu spüren warum: Es geht ihm nicht ums Rechthaben, sondern ums Heil. Nicht nur um das eigene, sondern, über fast 2800 Jahre hinweg, sogar um meines.
Weise hier, leidenschaftlich da
Jesaja warnt davor und wirbt mit Leidenschaft dafür, dass Gott nicht vergessen und verloren wird, so schwer einem das fällt, wenn die Welt oder die Kirche wieder einmal Kopf steht. Das ist keine hohle, sondern eine mit heißem Herzen erfüllte und auch aufwühlende Botschaft. Die Weisheitsbücher legen dem Leser nahe, klug und rational abzuwägen, unaufgeregt und zurückhaltend zu leben, auf sich zu schauen, die Leidenschaften zu zügeln, eben weise zu sein. Die Weisheitsbücher beschreiben, wie ohne Gerechtigkeit, das Leben verkümmert. Der Prophet Jesaja fordert sie, vehement und in sehr genau erfassten geschichtlichen und politischen Zusammenhängen. Da feurige Buch des Propheten Jesaja beunruhigt und verunsichert. Es fordert mich auf, die abgewogene Weisheit auch einmal hinter mir zu lassen, ungeschützt und mit Schärfe nach außen zu gehen. Das ist eben Bibel: kein Einheitsbrei, sondern viele Tonlagen.
(Alois Bierl, Chefreporter beim Sankt Michaelsbund)
Die biblischen Weisheitsbücher verleiten manchmal dazu, ein bisschen
schnell über sie hinwegzuhudeln. Es sind immer wieder Variationen über
Gottvertrauen, Lebensklugheit, Mitgefühl und genaues Urteilen. Oft halte
ich trotzdem länger inne, weil die Sprache und ihre Bilder so mächtig
sind: „Die ganze Welt ist ja vor dir wie ein Stäubchen auf der Waage,
wie ein Tautropfen, der am Morgen zur Erde fällt.“ (Weish 11,22) Solche
Stellen sind Hudelei-Bremsen, die mich am Morgen immer wieder festhalten
und ich vergesse fünf Minuten lang, dass ich ins Büro muss. Bei Jesus
Sirach ist eine kurze Einleitung, ein Prolog vorangestellt. Den nimmst
Du zwischen zwei Schlucken Tee noch schnell mit, denke ich mir beim
Lesen am Frühstückstisch, das wird Dich sicher keine fünf Minuten
ergreifen. Doch auch da bleibe ich lange an einer Stelle kleben.
Übersetzungen sind nur Bibel light
Dabei
ist es gar kein bewegender geistlicher, sondern eine Art
fachwissenschaftlicher Inhalt. Es geht um Übersetzungsfragen. Ein Enkel
hat das Weisheitsbuch seines Großvaters Jesus Sirach übersetzt, nach dem
es auch benannt ist. Der Nachkomme schickt seiner Übertragung ins
Griechische voraus, es habe „nicht die gleiche Kraft“ wie der hebräische
Ursprungstext. Aber auch das „Gesetz und die Prophetenworte und die
übrigen Schriften weisen keinen geringen Unterschied auf, wenn sie in
ihren Ursprachen gelesen werden“. Wenn ich nun also in meiner deutschen
Bibel lese, dann ist das nur eine Bibel light, kein Vergleich mit dem
Original. Nun müsste ich meine dramatisch mickrigen
Griechisch-Kenntnisse ein paar Jahre lang verbessern, damit ich die
Übersetzung verstehe, von der ich wiederum nur eine Übersetzung lese.
Dann hätte ich aber immer noch nicht das hebräische Original erfasst,
dafür müsste ich dann noch einmal ein paar Jahre fleißig lernen.
Nicht nach Diktat geschrieben
Schlage
ich in meiner Bibel die Einführung zu Jesus Sirach auf, steht dort
jedoch, dass ein komplettes hebräisches Original gar nicht existiert.
Erst 1896 haben Wissenschaftler Bruchstücke in Kairo und in den
Jahrzehnten danach noch an anderen Orten gefunden. Wie ursprünglich ist
das also, was in der Heiligen Schrift zu lesen ist, was ist in der
Jahrtausende langen Überlieferungskette verloren gegangen? Davon
abgesehen, weichen die überlieferten Handschriften in hebräischer,
aramäischer oder griechischer Sprache immer wieder voneinander ab. In
der einen steht immer wieder etwas, was in anderen fehlt und umgekehrt.
Immerhin hat schon die frühe Bibelauslegung das Alte und das Neue
Testament nicht als Diktat Gottes verstanden, das die Autoren nur, und
zwar fehlerlos, mitstenografiert haben. Das ursprüngliche Wort des Herrn
geht durch den Menschen hindurch und es bleibt etwas von ihm daran
hängen. Er ist ein Medium, ein Mitschöpfer, der die Botschaft mit seinen
Erfahrungen und seiner Kultur beeinflusst. Wie oft erscheint ein
übersetztes Wort eindeutig zu sein, in der Originalsprache ist es
dagegen vielfältig, reicher, besitzt eine andere Fülle.
Das eigene Herz als Dolmetscher
Mir
wird wieder einmal klar, dass ich ein durch viele Menschen
vermitteltes, gefiltertes und dadurch vorgeprägtes Heiliges Buch lese.
Bei all diesen Gedanken und beim Nachschlagen im Lexikon ist der zweite
Schluck Tee nicht einmal mehr lauwarm, sondern kalt. Von wie vielen
Köpfen aus dreitausend Jahren, hängt meine Bibellektüre ab. Dabei merke
ich, ich bin ja selbst ein Übersetzer - für mich, wenn auch ohne
gelehrten Kopf. Das eigene Herz ist Dolmetscher, wenn die Bibel mein
Denken und Fühlen einmal gepackt hat, wenn die Heilige Schrift mein
Innehalten erzwingt. Sie befragt mich, wie ich sie auf mein Leben und
meinen Glauben übertragen kann. Vielleicht ist das Herz nicht der
schlechteste Dolmetscher, wenn sich der rationale Verstand mit
exegetischen Fragen herumschlägt. Auch der ist nur ein winziges Teilchen
vom „Stäubchen auf der Waage“, genauso wie das Herz – doch das wiegt
vielleicht ein bisschen schwerer. (Alois Bierl, Chefreporter beim Sankt Michaelsbund)
Ständiges Bibellesen, das führt zu gedanklichen Zwangshandlungen, plötzlich ist die Bibel überall. Ich bin da in der Tat etwas neurotisch geworden. Neulich habe ich mit meiner Frau eine DVD angeschaut: eine alte Schwarz-Weiß-Aufnahme von „Das Mädl aus der Vorstadt“, eine Posse von Johann Nestroy. Die Hauptrolle des gutmütigen und redlichen Schnoferls spielt Josef Meinrad. Gehetzt, atemlos und brillant biegt er das Krumme gerade und sorgt für irdisches Glück. Irgendwann spricht er den berühmten Halbsatz „…die edelste Nation unter allen Nationen ist die Resignation.“ Und während wir noch grinsen, sage ich: „Ganz klar, Kohelet.“
Ein ganzes alttestamentliches Buch in ein paar Worten
Wahrscheinlich war Nestroy kein großer Bibelleser, dafür dürfte er keine Zeit gefunden haben, er hat lieber selbst geschrieben, 83 Stücke insgesamt. Doch sein Schnoferl fasst ein ganzes alttestamentliches Buch in ein paar Worten zusammen, den Kohelet, das in der Lutherbibel unter „Der Prediger Salomo“ firmiert. Mir kommt dieses Buch wie ein Gegenstück zu Ijob vor. Ijob verliert alles, wird zum kranken Mann und fragt nach Gott. Kohelet ist dagegen pumperlg´sund und hat alles, was sein Körper so braucht und gerne mag. In bester biblischer Tradition ist er da unverdruckst und schwer sexistisch: „Ich besorgte mir Sänger und Sängerinnen und die Lust der Männer: Brüste und nochmals Brüste.“ (Koh 2,8)
Ein resignierter Pessismist und Optimist
An Wein und Leckerbissen mangelts ihm ebenso wenig, aber er hats auch mit der Philosophie und will herausfinden, „wo es vielleicht für die einzelnen Menschen möglich ist, sich unter dem Himmel Glück zu verschaffen während der wenigen Tage ihres Lebens.“ (Koh 2,3) Schnell findet er heraus, dass alles „Windhauch“ ist, vor der Ewigkeit hat nichts Bestand. Verzweifelt ist Kohelet nicht, eher realistisch, resigniert halt. Er rät das Irdische zu genießen, denn mehr bekommt der Mensch nicht in die Hand oder in den Gaumen, gleichzeitig unverdrossen sein Tagwerk zu erledigen, sein Vermögen gut anzulegen und leidlich großzügig damit zu sein. Mehr ist hienieden nicht zu haben. Gleichzeitig ist Kohelet ein resignierter Pessimist und ein resignierter Optimist. Er kommt von der süßen Seite des Daseins zum selben Schluss wie Ijob von der bitteren Seite: Gott ist nicht zu ergründen und er schickt den Menschen auf einen ungewissen Lebensweg bevor dessen „Atem zu Gott zurückkehrt, der ihn gegeben hat.“ (Koh 12,7) Mit verstecktem Optimismus glaubztKohelet aber auch, dass er sich in einer von Gott gegebenen Ordnung bewegt und sein Tun vor dem Schöpfer nicht ganz belanglos ist, der „über alles Verborgene urteilt, es sei gut oder böse“.
Nach Kohelet kommt das Hohelied
Gewiss kann es nicht schaden, wie der Schnoferl im „Mädl aus der Vorstadt“ daran mitzuwerkeln und sich anzustrengen, dass etwas mehr Gerechtigkeit und Zuneigung in die Welt kommt, auch wenn´s vor der Ewigkeit nichts zu gelten scheint – die Resignation ist die edelste Nation. Am Ende von Nestroys Stück steht wenigstens viel erfüllte irdische Liebe. „So, das war das Hohelied“, sage ich am Schluss der DVD zu meiner Frau. Und schon ist die nächste Zwangshandlung da: Kommt das bezaubernde Hohelied der Liebe im katholischen Bibelkanon nicht gleich nach dem illusionslosen und nüchternen Kohelet? Bestimmt kein Zufall, raffinierte Zusammenstellung, muss ich gleich nachschauen!
(Alois Bierl, Chefreporter beim Sankt Michaelsbund)
Meine Begleiterin ist nicht böse, wenn ich sie in den Rucksack stecke und den ganzen Tag nicht anschaue. Sie ist sehr geduldig und ich mache mir Vorwürfe, wenn ich sie manchmal völlig vergessen habe. Am Wochenende landet sie oft in meiner Jackentasche. Ihre Mängel sind ihr großer Vorzug, sie ist klein und etwas schwer, aber kompakt und hat viel zu sagen. Ihre Botschaften sind manchmal launisch und schwer zu deuten, aber unglaublich sprachgewaltig. Sie verblüffen mich immer wieder und reden mir ins Gewissen, manchmal amüsieren sie mich. Äußerlich ist sie ein bisschen empfindlich. Ich weiß das und behandle sie vorsichtig und fast ehrfurchtsvoll, trotzdem bleibt die eine oder andere Verletzung nicht aus: ein Eselsohr, ein Riss in der Seite oder ein kleiner Fettfleck.
Torte neben der Bibel
Nachdem ich angefangen habe, die Bibel komplett zu lesen, trage ich fast immer eine Taschenausgabe mit mir herum. Sie hilft mir, mein Pensum zu schaffen. Doch oft blättere ich einfach so in ihr herum - wenn ich in der U-Bahn fahre, bei einer Verabredung zu früh dran bin, oder neulich sogar beim Kuchenessen in der Konditorei, daher der Fettfleck. Es gab dort nur ein paar illustrierte Hefte mit vielen Fotos aus europäischen Adelshäusern. Mir sind die englischen, spanischen oder niedersächsischen Fürsten und Royals jedoch ziemlich egal, mich interessieren am Rand nur die Wittelsbacher und, ziemlich stark, das davidische Königshaus. Wie gut, dass da meine Begleiterin mit ihren winzigen Buchstaben und ihren meistens riesigen Botschaften in der Jackentasche steckte und mich lässig beim Genießen unterstützte und zerstreute: „Voller Freude aßen und tranken sie an jenem Tag vor dem Herrn“, las ich im zweiten Chronikbuch, bei waren es eine Esterhazy-Schnitte und Kaffee, und ich huschte mit den Augen über die Verse und wie sie die Salbung König Salomos erzählen.
Römerbrief als Pausenfüller
In der U-Bahn habe ich neulich von meiner Lektüre in den Weisheitsbüchern aufgeblickt und auf einem der üblich gewordenen Monitore eine DVD-Werbung für eine spitzzüngige Ehekomödie vor Augen: da hatte ich gerade im Buch der Sprichwörter aufgeschnappt: „Ein ständig tropfendes Dach in der Regenzeit und eine zänkische Frau gleichen einander“ (Spr. 26,15) Beim Warten auf einen verspäteten Freund, habe ich mir die Zeit beim Blättern im Römerbrief vertrieben. Der Text beschäftigt mich seit Jahrzehnten und natürlich waren auch da die passenden Worte zu finden: „Hoffen wir aber auf das, was wir nicht sehen, dann harren wir aus in Geduld.“ (Röm 8,25). Manchmal kommen mir Skrupel, wenn ich die Bibel so als Pausenfüller lese und in Zeitlücken setze. Da wird eine tiefe Stelle schnell zum oberflächlichen Witz.
Heilige Schrift hält Alltag aus
Mir tut es trotzdem gut, die Bibel fast immer bei mir zu tragen, öfter einen schnellen Blick hineinzuwerfen, selbst wenn es oft nur ein kurzer und nicht immer ein erleuchteter Blick ist. Meine treue Begleiterin hat mir fast immer etwas zu sagen, weil sie das Leben von allen Seiten kennt. Sie weiß, dass ich mich nicht nur von ihr zerstreuen oder amüsieren lassen will, sondern ihre Schönheit, Klugheit und ihre Leidenschaft schätze, auch wenn ich sie im einen oder anderen Augenblick nicht richtig würdige. Die Bibel lässt es sich gefallen, Teil meines Alltags zu sein. Ich glaube, sie hält das gut aus, weil sie dadurch merkt, wie sehr sie mir ans Herz gewachsen ist. Und wie mit einer besten Freundin, kichere ich ab und zu mit ihr. Schwere und ernste Angelegenheiten kommen in unseren Begegnungen oft genug vor.
(Alois Bierl, Chefreporter beim Sankt Michaelsbund)
Die Bibel macht Sprüche – und zwar keine schlechten. Ich bin beim „Buch der Sprichwörter“ angekommen, wie es in der katholischen Einheitsübersetzung heißt. Die Lutherbibel nennt sie „Die Sprüche Salomo“. Etliche Exegeten halten den Begriff „Sprüche“ für treffender, weil er offener sei als „Sprichwörter“. Zugegeben: Sprichwörter, das riecht etwas streng nach „Moral von der Geschicht´“ und billigen Weisheiten. Mir kommt es aber so vor, als ob gerade Moral und Geschichte dieses Buch treiben. Das fängt schon damit an, dass es 4.500 Jahre alte ägyptische Überlieferungen aufnimmt (schönen Dank an Wikipedia!)
Ägyptische Weisheit in der Bibel
Sie sind entstanden, lange bevor das erste Wort des Alten Testaments aufgeschrieben worden ist. Viel später, in den politisch aufgewühlten Zeiten vor dem Babylonischen Exil, unterhält das untergehende judäische Reich enge Beziehungen zu Ägypten. Im Zweiten Buch der Könige und dem Zweiten Buch der Chroniken sind sie beschrieben. Ich erinnere mich noch gut, wie ich mich vor wenigen Wochen durch diese komplizierten Abschnitte und die vielen Namen gekämpft habe, merke aber, dass es sich gelohnt hat. Denn jetzt stellen sich Zusammenhänge her: Zum kulturellen Austausch, mit dem wohl auch die alten ägyptischen Überlieferungen ins Alte Testament gefunden haben und zu den Kämpfen, Intrigen und diplomatischen Winkelzügen, dem gesellschaftlichen Zerfall jener Epoche. Denn diese Zeit ab 700 v. Chr. fällt mit den Anfängen des Buches der Sprichwörter zusammen.
Sehnsucht nach dem guten Leben
Ich lese es deshalb als Antwort auf die leidvoll erfahrene Gewaltgeschichte und soziale Zusammenbrüche: als Sehnsucht und Appell, dass Menschen einander achten; als Sehnsucht nach einem guten Leben, das nicht einfach zu bekommen ist, sondern viel abverlangt, in der Politik genauso wie in der Familie. Denn ein großer Teil der Sprichwörter widmet sich der Erziehung, dem Miteinander von Frau und Mann, dem kleinteiligen Alltag, dem Umgang miteinander. Aber das ist der Kern, aus dem eine gerechte und innerlich gefestigte Gesellschaft entsteht, die auch nach außen besonnen und gleichzeitig entschlossen handeln kann. Es ist eine Erfahrung, die den Autoren in Fleisch und Blut übergegangen ist. Um dem Buch noch größeres Ansehen und Würde zu verleihen, schreiben es die Autoren König Salomo zu, dem gerechten und weisen Herrscher über ein einiges und geachtetes Israel.
Glückskeks-Philosophie
Die Sprüche oder Sprichwörter sind einfach, erscheinen manchmal fast abgedroschen. „Glückskeks-Philosophie“ nennt das einer meiner Bekannten, denn solche Weisheiten finden sich auch auf den kleinen Zettelchen, die in manchen Kekssorten stecken. Sind diese Weisheiten deshalb weniger wert? Schließlich soll sie jeder verstehen, sich gut merken und anwenden können. Im Buch der Sprichwörter reißen sie den Leser mit sich fort und drängen ihn von Vers zu Vers, weil sie so eindringlich und beschwörend sind, Meisterwerke der kleinen literarischen Form. An vielen Stellen erschrecken sie mich, weil sie so nah an unserer Gegenwart sind. Sie klingen wie ein Kurzkommentar zu den Kriegen in der Ukraine, im Sudan oder in Jemen, den Folterkellern in Syrien oder im Iran, zur Ausrottung der brasilianischen Urwaldbewohner. Die Frevler „schlafen nicht, ehe sie nicht Böses getan haben…essen das Brot des Unrechts und trinken den Wein der Gewalttat“ (Spr 4, 16-17). Mach’ da nicht mit, sagt das Buch, sei da nicht gleichgültig, denke darüber nach und widerstehe, selbst wenn Brutalität Erfolg verspricht: „Beneide den Gewalttätigen nicht, wähle keinen seiner Wege.“ (Spr 3,31) Das scheinen Selbstverständlichkeiten zu sein, „Glückskeksphilosophie“ eben. Die Menschheitsgeschichte erzählt anderes, von unendlichen Kriegen und Rücksichtslosigkeit machtbesessener Herrscher, mit der sie sogar ihre eigenen Völker in den Abgrund reißen. Ohne Moral aus der Geschichte gäbe es nicht einmal Besinnungspausen, wenigstens Unterbrechungen in dieser Gewaltspirale.
(Alois Bierl, Chefreporter beim Sankt Michaelsbund)
Nein, so geht das nicht. 150 Höhepunkte der Weltliteratur einfach so an einem Stück herunterreißen, dasist unangemessen. Da bin ich bei meiner Bibellektüre auf eine Schwierigkeit gestoßen. Schon nach den ersten Psalmen habe ich gemerkt, dass diese kostbaren Texte behutsam und gut verteilt gelesen werden wollen. So wie das Ordensleute im Chorgebet halten. Alle Psalmen in ein oder zwei Wochen aufsaugen, oft abgelenkt vom Alltag, das passt mir nicht. Noch mehr als andere Bibelverse wollen sie durchmeditiert, durchgefühlt und durchgebetet sein: der höchste Jubel und die tiefste Klage. Für meinen Leseplan bedeutet das, das ich mir etwas überlegen muss. Ungefähr jeden Tag ein Psalm neben der fortlaufenden Lektüre, das geht rechnerisch gut auf. Und weil ich natürlich in meiner Bibel auch nach vorne blättere, weiß ich schon jetzt wie gut die letzte Zeile der Apokalypse mit dem letzten Psalmvers zusammenklingt. „Die Gnade des Herrn sei mit allen“ und „Alles, was atmet, lobe den Herrn, Halleluja“.
Spirituelles Kraftpaket
Sie werden in ein paar Monaten der Schlussakkord meiner Bibellektüre sein. Wie gut Psalmen der Seele tun, habe ich schon nach den ersten Seiten stark gespürt. Nicht umsonst sind sie vielen Ausgaben des Neuen Testaments als einziges Buch aus dem Alten Testament beigegeben. Sie sind die Magna Carta christlichen Betens, ein gewaltiges spirituelles Kraftpaket. „Ich singe Psalmen dem Herrn, der mich aus Schmerzen und Enge wieder in Höhe und Herrlichkeit gebracht hat“, hat Goethe einmal an Charlotte von Stein geschrieben, der gleichzeitig ein großer Kirchenskeptiker und ein hingerissener Bibelleser war. Und es stört mich schon lange und jetzt noch mehr, wie nachlässig und lieblos diese Psalmen oft durch den Gottesdienst gehechelt werden. Als liturgischer Nomade, der sonntags gerne die Kirchen wechselt, erlebe ich oft, dass ein Lied oder ein anderer Zwischengesang aus dem sie Gotteslob ersetzt. Wenn kein Kantor da ist, leiert sie der Zelebrant oder ein Lektor am Ambo oft tonlos herunter und die Gemeinde murmelt stammelnd ihren Kehrvers.
Beste Literatur
Das hat kein Psalm verdient. Und kaum ein Prediger geht auf den Text ein, das teilen die Psalmen mit vielen Lesungen aus dem Alten Testament. Die Predigten, die ich in den vergangenen Wochen gehört habe, handelten vom Wert der Familie, vom Skandal des sexuellen Missbrauchs, von der Mühsal einen Pfarrverband zu vereinen, vom Priestermangel oder waren unsortierte philosophische Gedanken. Gewiss, wichtige Angelegenheiten und eine Predigt wert. Wenn sie aber 20 Minuten dauert, dann kommt mir die Schriftstellerin Muriel Spark in den Sinn, die einmal bekannt hat, sie besuche die Messe immer erst nach der Predigt, weil sie schlechte Literatur nicht ertragen könne.
Psalm oder Predigt
In solchen Momenten bekäme ich lieber noch einmal den vorangegangenen Psalm zu hören, beste Literatur, als eine gut gemeinte, aber öde Predigt über mich ergehen zu lassen. Vielleicht macht mich die Lektüre des Psalters in nächster Zeit frech und ich nehme meine Bibel in den Sonntagsgottesdienst mit. Wenn dann wieder einmal eine fade Predigt gleichgültig an mir vorbeirauscht, lese ich heimlich meinen nächsten Psalm, „der mich aus Schmerzen und Enge wieder in Höhe und Herrlichkeit“ und sogar meinen Leseplan vorwärtsbringt.
(Alois Bierl, Chefreporter beim Sankt Michaelsbund)
„Mann am Boden - jutet Jefühl“, hat der Berliner Boxer Graciano Rocchigiani einmal gesagt. Mich verfolgt seit Tagen ein Mann, der richtig am Boden liegt. Nachdem ich an einem Nachmittag seine Geschichte gelesen habe, werde ich ihn nicht mehr los. Es ist Ijob oder Hiob aus dem Alten Testament. Egal, ob auf dem Fahrrad, beim Zähneputzen, am Schreibtisch oder vor dem Schlafengehen, immer wieder muss ich an ihn denken.
Unfaire Tiefschläge
Es kann doch nicht Recht sein, diesen braven Familienvater nicht nur auf die Bretter zu schmettern, sondern ihn auch unfairen Tiefschlägen auszusetzen! Der gottesfürchtige Ijob hat nie jemand herausgefordert. Nur, ohne es zu ahnen, den Satan, weil er der frömmste Mensch ist. Der Teufel wird bei Gott vorstellig und will ihm zeigen, dass sogar ein Ijob vom Glauben abfällt, wird er nur lang genug geplagt. Und Gott stellt Ijob in den Ring, unter regelwidrigen Bedingungen, einen machtlosen Kämpfer, ein Fliegengewicht gegen ein Schwergewicht. Mutig ist er, denn er kann schwere Schläge einstecken und bleibt aufrecht in seinen Überzeugungen, seinem Glauben, selbst wenn er da schon ein Mann am Boden ist. Wie kann Gott dabei ein gutes, ein „jutet“ Gefühl haben, wenn er eine Wette auf Kosten eines anderen abschließt, der alles verlieren und gleichzeitig standhaft bleiben muss, damit der Herr über Leben und Tod sie gewinnt? Natürlich halte ich zu Ijob, den ich auch mag, weil er sich etwas traut.
Kinnhaken von Gott
Er ist stark genug Gott nicht zu lästern, aber er stellt ihm sehr unbequeme Fragen. Ijob kämpft um seine Würde. Er weiß, dass er die Quälereien nicht verdient, selbst, wenn ihm seine „Freunde“ das nahelegen: Irgendwie muss Ijob doch gesündigt haben, wenn ihn Armut und Aussatz überfallen und seine Kinder sterben. Tat-Ergehens-Zusammenhang nennen das die Theologen, und seine Freunde scheinen den armen Kerl nur deshalb zu besuchen und mit ihm zu reden, damit sie ihre eigene Hilflosigkeit und Angst niederargumentieren können, auch das sind Schläge. Dann gibt ihm Gott selbst noch lässig ein paar literarisch brillante Kinnhaken mit. „Willst du wirklich mein Recht brechen, mich schuldig sprechen, damit du Recht behältst? Hast du denn einen Arm wie Gott, dröhnst du wie er mit einer Donnerstimme?“ Gegen Satan hat Ijob keine Chance und erst recht nicht gegen Gott, gedemütigt wirft er das Handtuch: Er bereut „in Staub und Asche“, dass er von Gott Erklärungen verlangt hat, wissen wollte, warum ihn das Leben plagt und ohne Grund straft. Ganz wohl scheint sich Gott dabei nicht zu fühlen.
Es gibt eine Fortsetzung
Er gibt Ijob Geld und Gut zurück, lässt ihn eine neue, sogar noch bessere Familie gründen. Es wirkt wie ein billiger Trost. Sprachgeschichtlich kann der Name Ijob sowohl die Frage „Wo ist mein Vater?“ bedeuten oder „der Angefeindete“, finde ich in den Kommentaren. Ebenso, dass die Figur schon in vorbiblischer Zeit erscheint, 4.000 Jahre alte Tontafeln erzählen von ihm. Ijob ist der Mensch, der fassungslos vor seinem kleinen Leben und seinen Schmerzen steht, die im gleichgültigen und unendlichen Kosmos Gottes versinken. Die Heilige Schrift nimmt seine Geschichte ganz selbstverständlich auf. Wie souverän die vielen Bibelautoren doch waren, sich vor dieser „Nacht des Glaubens“ nicht zu drücken! Das Buch ijob ist ein verzweifelter Schrei nach Gott und verlangt eine Fortsetzung – das kann doch noch nicht alles gewesen sein. Die Propheten und die Evangelien haben sie aufgeschrieben und erzählen von einem Gott, der gar nicht mehr cool seine Allmacht und Unerforscherlichkeit herauskehrt, sondern die Schläge des Bösen mit einsteckt. „Mann am Boden - jutet Jefühl“, nur wenn ich Dich wieder aufgerichtet habe, wenn Du weißt, dass ich dich vom Boden aufhebe und dorthin bringe, wo niemand mehr schlägt. Wenn ich die Bibel jetzt weiterlese, dann wird mir Ijob immer über die Schulter schauen.
(Alois Bierl, Chefreporter beim Sankt Michaelsbund)
Es sollte eigentlich eine Woche mit Hiob und den ersten Psalmen werden. Doch dann bin ich an einer Stelle aus dem letzten Geschichtsbuch des katholischen Bibelkanons nicht vorbeigekommen. Im glatten Lektürefluss über die Intrigen und Kämpfe um das Amt des Hohepriesters im zweiten Makkabäerbuch sind plötzlich ein paar Verse wie ein Katarakt vor mir gestanden und haben mich gebremst. Denn da taucht um das Jahr 170 vor Christus eine Auseinandersetzung auf, die mich an die Kirche von heute erinnert.
Lifestyle-Fragen im Alten Testament
Im vierten Kapitel des Buches geht es darum, wie die griechische Kultur, das moderne Leben den heiligen Kult im Tempel von Jerusalem stört. Zumindest die jüdische Elite findet diesen neuen Lifestyle sogar ausgesprochen attraktiv. Es kommt zu einer „Blüte der griechischen Lebensweise. Die fremde Art hatte Zulauf“, steht da. Aus machttaktischen Gründen hat der Hohepriester Jason diese „fremde Art“ gefördert. Die Leute gehen lieber „auf den Sportplatz“, wie es wörtlich heißt, als sich um den Tempeldienst und den Kult zu kümmern. Im Hintergrund höre ich da eine aktuelle Klage vieler gläubiger Christen: Die Kirchen werden immer leerer, die Menschen gehen lieber ins Fitnessstudio als in die Messe und schon lange sind die Zeiten vorbei, in denen der Pfarrer den Präsidenten des örtlichen Fußballvereins in den Senkel stellen konnte, wenn der ein Spiel am Sonntagvormittag zuließ. Es kann ein bisschen trösten, dass schon vor über 2000 Jahren die organisierte Religion ihre Probleme mit der Freizeitgesellschaft hatte.
Braucht Glaube inneren und äußeren Druck?
Die Autoren der Makkabäerbücher scheinen ein paar Kapitel später fast froh zu sein, dass die griechische, scheinbar so liberale Lebensart auch Zwänge auslöst, gegen die sich Widerstand entwickelt. Da sollen sieben Brüder gezwungen werden, Schweinefleisch zu essen. Sie lassen sich aber lieber niedermetzeln, als ihre religiösen Gesetze zu brechen. Die frühen Christen waren von diesen jüdischen Märtyrern übrigens so beeindruckt, dass sie sogar Kirchen nach ihnen benannten. Diese Kapitel im Zweiten Makkabäerbuch arbeiten immer noch in mir. Es geht in ihnen ja letztlich um die Frage, ob und wie sich eine neue Kultur mit einem alten Kult vereinbaren lässt, ob das moderne und bequeme Leben dazu führt, Gott zu vergessen. Und wie nahe die gefährliche Antwort liegt, dass ein religiöses Bekenntnis inneren und äußeren Druck, sogar Gewalt nötig hat, um diesen Anfechtungen zu widerstehen. Ich höre manchmal Gläubige fast davon schwärmen, wie standhaft verfolgte Christen in anderen Ländern und wie lasch die Kirche hierzulande seien. Würden sie wirklich tauschen wollen?
Sicherheit oder Pflichtenkatalog
Die Autoren des Makkabäerbuches gehen davon aus, dass eine Religion von allen, die ihr angehören, in einem streng geregelten Kult vollzogen und bis zur Selbstverleugnung bekannt werden muss, oder sie geht unter. Das gibt Sicherheit, die aber dazu führen kann, dass der Glaube zu einem Pflichtenkatalog missrät, zu einem äußeren Tun ohne innere Teilnahme, und das macht die Religion mindestens ebenso kaputt. Genauso stimmt es, dass eine Glaubensgemeinschaft ohne ein starkes Ritual zerfällt, das sie mit Gott verbindet. Die Bibel wäre nicht dieses großartige Buch, würde sie diese mächtige ständige Spannung ignorieren. Die Propheten und das Neue Testament ringen mit ihr. So weit bin ich aber noch nicht. Jetzt kommen zuerst Hiob, die Psalmen und Weisheit für den Alltag.
(Alois Bierl, Chefreporter beim Sankt Michaelsbund)
In meiner Bibellektüre geht es wieder einmal um kriegerische Auseinandersetzungen, nationalen Befreiungskampf, politische Bündnisse und einen durch eine mutige jüdische Frau verhinderten Völkermord. Darum drehen sich, mal historisch erstaunlich exakt und dann wieder als reine Erbauungs- und auch Propagandaschriften geschriebenen Bücher Judit, Ester und Makkabäer. Nach dem russischen Überfall auf die Ukraine liest sich das bedrückend aktuell. Deshalb bin ich auf ein gerade erschienenes Bändchen aufmerksam geworden. Es trägt den Titel: „Wo bist Du, Gott?“. Geschrieben hat es die aus der Ukraine stammende Historikerin und Theologin Dominika Rank.
Gefühle an Gott weitergeben
Die in den Geschichtsbüchern des Alten oder Ersten Testaments beschriebene Gewalt und Grausamkeit, spielt sich über 2000 Jahre später in ihrer Heimat ab. Mit allen Affekten, die auch in der Bibel zu finden sind: Angst, Trauer, Zorn, Hass, Rachefantasien und dem ohnmächtigen Gefühl, dem Feind nicht verzeihen und sich mit ihm versöhnen zu können. Nach der ersten Schockstarre greift Dominika Rank zur Bibel. Dort findet sie alle ihre Empfindungen wieder. Und sie entdeckt in der Heiligen Schrift, dass sie diese Gefühle vor Gott nicht verstecken oder sich dafür schämen muss. Gleich im ersten Kapitel schreibt sie über die Rache. Und ihre Erleichterung ist zu spüren, wenn sie im Römerbrief liest: „Die Rache ist mein, ich will vergelten, spricht der Herr.“ Sie kann das schreckliche Gefühl an Gott weitergeben, der Gerechtigkeit verspricht. Sie liest in den Psalmen, den Weisheitsbüchern und Propheten, die Erfahrungen tiefster Not, von Krieg und Unterdrückung beschreiben und deuten.
Keine schnelle Vergebung
Dominika Rank bemerkt dabei, dass sie als Christin nicht einfach und schnell vergeben muss. Ihre Bibellektüre hat sie aber bestärkt, für den langen Weg einer Versöhnung mit dem Feind offen zu bleiben, den Schatz des Friedens nicht aufzugeben. Wie schwer der für Menschen zu finden ist, davon erzählt die Heilige Schrift ständig, ebenso davon, dass es dafür Gott braucht. Aber wo soll der inmitten dieser Gemetzel denn sein? Dominika Rank lässt das einen befreundeten Soldaten und Theologen erzählen: Nach einem furchtbaren Gefecht irrt er mit seinen Kameraden zwischen den Trümmern umher. Da kommt ihnen aus den Ruinen eine alte Frau entgegen, die ihnen freundlich Eierkuchen und Geißenmilch anbietet. In diesem Moment der Mitmenschlichkeit mitten in einem unmenschlichen Krieg, „haben wir Gottes Liebe erblickt“, sagt der Soldat.
Offene Fenster der Seele
Jeden Tag stellt mir die Bibel fast beiläufig vor Augen wie schwer es Menschen fällt, ein friedliches und gutes Leben zu führen. Ohne Gott verändert sich da gar nichts, aber er wird eben ständig vergessen. Trotzdem spüren Menschen wie die Fenster und Türen ihrer Seele immer wieder unerwartet aufreißen und Gottes Atem in sie hinein dringt, der rettet, befreit und erlöst. Davon erzählt die Heilige Schrift und darum wird sie immer Leser wie Dominika Rank finden, die von einem Elend gelichzeitig gelähmt, verstört und aufgewühlt sind. Wir Bibelleser finden dort Halt und die Gewissheit, dass die maßlose Gewalt nicht das letzte Wort behält.
(Alois Bierl, Chefreporter beim Sankt Michaelsbund)
Mein dreijähriger Enkel geht immer darauf zu, wenn ich mit ihm die Münchner Bürgersaalkirche besuche. „Der Engel helft dem Kind wegen der Schlange“, sagt er dann fast richtig, ich nicke ihm zufrieden zu und er lacht. Es ist die weltberühmte Schutzengel-Gruppe von Ignaz Günther, eines meiner Lieblings-Kunstwerke: „Erzengel Raphael geleitet den kleinen Tobias“, nennen es viele Bücher und Internet-Einträge. Nun habe ich gerade die Lektüre des Buches Tobit hinter mir und merke, eigentlich kann dieser Titel nicht stimmen.
Babyspeck an den Wadeln
Tobias ist der Sohn Tobits, ein junger Mann, der auf Geheiß seines blinden Vaters auf Brautschau geht und außerdem ein Finanzgeschäft regeln soll. Mit der ausgewählten Hochzeiterin geht es unheimlich zu: Sie hatte schon sieben Gatten, die aber ein Dämon unmittelbar vor dem Vollzug der Ehe erwürgt hat. Darüber ist die junge Frau so verzweifelt, dass sie sogar daran denkt, sich zu erhängen. Ein mysteriöser Unbekannter, der sich später als Erzengel Raphael zu erkennen gibt, begleitet den mutigen Tobias bei seinem Abenteuer. Der ist bei Ignaz Günther ein kleiner Bub mit noch reichlich Baby-Speck am Knie und an den Wadeln. Er hebt sein auf Zuwachs geschneidertes und deshalb etwas zu langes Kleid an, damit er beim Gehen nicht darüber stolpert, auf dem Kopf sitzt ihm ein Schutzring, wie sie früher Rugbyspieler getragen haben, damit er sich nicht die Stirn aufschlägt, wenn er doch einmal stürzt. Heirats- und geschäftsfähig ist dieser Tobias bestimmt nicht. Und die Schlange über die Raphael lässig hinwegschreitet und sie zur Seite drängt, kommt in der biblischen Erzählung schon gar nicht vor, nur der Familienhund, der Tobias und dem Engel folgt.
Der kluge Dummling
Als ich mir die Geschichte noch einmal vornehme, spüre ich trotzdem: Ignaz Günter hat ihren Kern getroffen. Das Buch Tobit ist ein Märchen, wie es auch bei den Brüdern Grimm stehen könnte. Es erzählt vom unbedingten kindlichen Vertrauen zu einem Begleiter und von der Gewissheit, dass ihm nichts schaden kann, weil er behütet ist, selbst wenn ein Dämon, eine Schlange, etwas Bedrohliches sich in den Weg stellt. Tobias ist ein bisschen der klassische Dummling aus dem Märchen. Der macht immer sein Glück, weil er klug genug ist, nicht allein auf sich selbst zu setzen, sondern sich von einer weisen und sogar rätselhaften Gestalt an der Hand nehmen zu lassen. Wie im Märchen befolgt Tobias später den Rat des Unbekannten, der ihm aufträgt, einen magischen Fisch zu packen. Das muss er allerdings ohne fremde Hilfe alleine schaffen.
Begleiter beim Wachsen
Mit Herz und Leber des Fisches wird er seine Braut vom Dämon befreien, mit der Galle seinen Vater von der Blindheit heilen. Ignaz Günther zeigt Tobias am Beginn dieses Weges als hilfloses Kind, das gereift und groß geworden am Ziel ankommen wird, weil es gute Mächte leiten. Dadurch kann er ins Leben hineinwachsen wie in sein noch zu großes Gewand. Meinem Enkel ist die Tobit-Geschichte noch zu lang und zu verwickelt. Als ich sie ihm zu erzählen beginne, geht er lieber zum Kerzenstand. Aber die Schutzengelgruppe von Ignaz Günther hat ihm eines der schönsten biblischen Märchen ja schon ohne Worte zusammengefasst. Mit etwas wackeliger Grammatik hat es mein Enkel auch selbst auf den Punkt gebracht: „Der Engel helft dem Kind wegen der Schlange.“
(Alois Bierl, Chefreporter beim Sankt Michaelsbund)
Es ist ein seltenes Bild: Es stammt aus der Zeit um 1860 und zeigt
eine Jugendliche, die in einer Gruppe von Kindern in ein aufgeschlagenes
Buch blickt, das stark nach einer Bibel aussieht. Das Besondere: die
afroamerikanische Frau ist eine Sklavin, die Heilige Schrift war
wahrscheinlich eines der wenigen Bücher, an das sie überhaupt herankam,
und sie kann lesen. Wie ungewöhnlich das war, berichtet der
Schriftsteller Alberto Manguel in seinem Buch „Geschichte des Lesens“.
Als die junge Sklavin Belle Myers Carothers sich mit Buchstabenklötzchen
das Lesen selbst beibrachte, trat sie ihr „Herr“ mit den Stiefeln.
Thomas Johnson ließ sich von seinem offenbar gutmütigeren „Besitzer“
immer wieder eine lange Stelle aus dem Neuen Testament vortragen, bis er
sie auswendig konnte. Er verschaffte sich heimlich eine Bibel, fand die
Stelle heraus, verglich die Buchstaben mit dem, was er auswendig
wusste, und lernte so das Lesen.
Die Angst der Mächtigen
Viele
Sklavenhalter fürchteten wohl nicht ganz zu Unrecht, dass ihre billigen
Arbeitskräfte bei der Lektüre der Heiligen Schrift auf merkwürdige
Gedanken kommen könnten, dass sie „ägyptische Knechtschaft“ durch
„amerikanische Knechtschaft“ ersetzen und einen Exodus probieren
könnten. Die Angst der Mächtigen vor der Bibellektüre der Ohnmächtigen
war immer groß. In Ländern wie Nordkorea, Saudi Arabien oder in manchen
indischen Bundesstaaten kann sie bis heute gefährlich sein, im Gefängnis
oder gar mit einer Kugel im Kopf enden. Aber auch in der DDR war der
Kauf oder das Einführen einer Bibel nicht so einfach. Ein katholischer
Priester aus Magdeburg hat mir einmal erzählt, dass er in seiner
Schulklasse der Einzige war, der das Buch besaß und entsprechend hütete.
Vor etwa 150 Jahren hätte sie ihm sogar sein Bischof abnehmen müssen.
Auf Wikipedia ist ein langer Eintrag über „Bibelverbote“ zu finden,
volkssprachliche Übersetzungen der Heiligen Schrift standen lange auf
dem katholischen Index verbotener Bücher. Papst Pius IX. schrieb in
einer Enzyklika von „den überaus verschmitzten Bibelgesellschaften“ und
einem „alten Kunstgriff der Häretiker“. Sie würden die „göttlichen
Schriften… in alle Landessprachen übersetzen und mit oft verdrehten
Erklärungen versehen“.
Viel Stoff für Fanatiker
Als
Bibelleser ertappe ich mich dabei, diese Einwände sogar zu verstehen.
Immerhin bietet das Buch auch für religiöse Fanatiker und Ideologen jede
Menge Stoff. Eine blinde oder enge Bibellektüre, egal ob alleine oder
in einem Zirkel, das kann schlecht ausgehen. Die Heilige Schrift kann
nicht nur befreien, sondern auch das eigene Denken und Empfinden zur
Erstarrung bringen und jede Menge abstruser Dinge rechtfertigen. Darum
sind mir die frommen Leute in der Fußgängerzone immer etwas unangenehm,
die mir beseelt von ihren unerschütterlichen Überzeugungen und
Wahrheiten erzählen, „die im ewigen Wort der Bibel geschrieben stehen“.
Aber da steht viel. Etwa: „Eine Hexe sollst du nicht am Leben lassen.“
(Ex 22,17). Und ich will diesen braven Menschen nicht unterstellen,
dass sie am Münchner Marienplatz wieder Scheiterhaufen lodern sehen
wollen.
(Alois Bierl, Chefreporter beim Sankt Michaelsbund)
Auf der letzten Seite des 2. Buch der Könige habe ich an eine gute Bekannte denken müssen: eine immens fleißige evangelische Theologie- und Altorientalistikstudentin. Bei einer Plauderei über das Bibellesen hat sie mir gestanden, dass sie ebenfalls eine durchgehende Lektüre angefangen hatte, „aber nach den Königsbüchern war Schluss, da war ein toter Punkt“. Sie hatte im Studium so viel mit einzelnen Textstellen zu tun, dass sie das volle Bibelprogramm einfach nicht mehr untergebracht hat und froh ist, wenn sie die Heilige Schrift nicht aufschlagen muss. Ein bisschen stolz bin ich schon, dass ich den „toten Punkt“ meiner Bekannten hinter mir habe, sogar die darauf folgenden Chronikbücher. Allerdings muss ich auch keine Prüfungen mehr ablegen. Niemand zwingt mich, gerade diese oder jene Stelle auszudeuten, selbst zu übersetzen und darüber zu schreiben. Da fällt es leichter, im Lektürefluss zu bleiben.
Lange, weit entfernte Zeiträume
Aber zugegeben, ich habe mich selbst überwinden müssen, in diesen Fluss hineinzusteigen und ihn nicht wieder zu verlassen. Es gibt kaum einmal mit langem Spannungsbogen erzählte Geschichten. Es sind oft genug nur Bruchstücke aus einer Historie, die vielleicht 2000 Jahre vor Christus beginnt. Sie stammen aus einer oft nicht mehr verständlichen Kultur und Gesellschaft. Die Versuchung auszusteigen, ist immer wieder da. Es wundert mich deshalb nicht, dass laut einer Umfrage von 2019 rund 70 Prozent der Deutschen nie in die Bibel schauen. Schon eher, dass immerhin vier Prozent jeden Tag darin lesen. Zu denen gehöre ich jetzt. Dass ich nicht abbreche, liegt an den oft überraschenden Texten, die mich nicht selten verstören oder tief anrühren. Es sind starke Bilder, die sich dann in mir festsetzen. Neulich bin ich darauf gestoßen, dass ich dabei ein System anwende, ohne es gekannt zu haben: POZEK nennt es sich, die einzelnen Buchstaben stehen für Person, Ort, Zeit, Ereignis und Kern.
Ermutigung zur Phantasie
Der Leser soll sich etwa die Kleidung der Figuren im Text vorstellen, die Landschaft, die Straße, die Tageszeit, in der er spielt. Es hilft, auf den Ablauf des Geschehens und die dabei verwendeten Verben zu achten und eine Kernaussage, ein Ziel der Geschichte zu suchen. Es ist eine Methode, wie ich sie vom heiligen Ignatius kenne. Die Bibel mit allen Sinnen lesen, die Phantasie anstrengen, mahnt der strenge Exerzitienmeister und Gründer des Jesuitenordens. Manchmal ist das schwer auszuhalten, weil sich das eine oder andere Bild nicht mehr auflöst. Mich hat die Vorstellung wie die verstoßene Hagar im Buch Genesis mit ihrem kleinen Ismael in der Wüste verzweifelt tagelang verfolgt. Wie sie da in ihren mit Stricken zusammengehaltenen Leinenkleidern zur Mittagszeit zwischen Sand und Steinen sitzen, das Kind vor Durst wimmert und die Mutter weint. Dass Gott sie gegen die Absicht von Abraham und Sara rettet, war eine große Erleichterung, aber leicht gefallen ist es mir nicht, den Kern dieser Geschichte festzuhalten. Aber gerade dadurch krallt sich die Bibel an mir fest, weil es schwerer Stoff ist, immer um große Fragen geht und um Menschen, die Gott unbedingt brauchen.
(Alois Bierl, Chefreporter beim Sankt Michaelsbund)
Könige haben Ärger mit feindlichen Mächten, Verbündeten und der eigenen Familie. In der Bibel kommt der Stress mit Propheten und Gott dazu. Ein gekröntes Haupt in Israel hatte es nicht leicht, ich hätte keines sein wollen. Weder im Nordreich, das weiter den Namen Israel trug und bis 722 bestand, noch im Südreich Juda, das 596 unterging. Kleine Herrschaftsgebiete, die sich immer durchlavieren mussten, die ohne das Alte Testament nur noch spezialisierte Historiker kennen würden. Ich habe mir immer wieder den Kopf zerbrochen, warum diese ständigen politischen Auseinandersetzungen, die inneren Unruhen, die Machtspiele so wichtig für die Glaubensgeschichte sein sollen.
Dauerthema Staat und Religion
Im frühen Christentum gab es ja durchaus Stimmen, das Alte Testament einfach zu streichen und nur das Neue Testament gelten zu lassen. Wahrscheinlich war den klügeren Theologen klar, was für ein großer Erfahrungsschatz damit verloren ginge. Das 1. und 2. Buch der Könige und die Chronik-Bücher tarieren immer wieder aus, wie Staat und Religion zueinander stehen, eine endlose Geschichte. Das Alte Testament erzählt sie auf einzigartige Weise. Immer wieder stellt es klar, dass Herrscher die schwere Verantwortung tragen, sich vor Gott verantworten müssen. Dazu gehört, für einen geregelten Kult zu sorgen und Gerechtigkeit gegen die Schwachen zu üben. Besonders wenn ausländische Großmächte ihre Hände nach dem gelobten Land ausstrecken, ist das eine erdrückende Aufgabe. Die Könige scheitern, wenn sie das mit ihrem persönlichen Machtkalkül verbinden und selbstherrlich über Gott verfügen wollen. Dann nerven die Propheten. Sie gehören nicht zum Establishment der Priester, sind ohne Apparat, faktisch fast ohnmächtig und nur mit der Autorität ausgestattet, Gottes Stimme zu sein.
Gott kann sich nicht nur auf die Mächtigen verlassen
Letztlich misslingt den Königen Israels und Judas ihre Mission, sogar wenn sie versuchen, mit den Propheten auszukommen. Wahrscheinlich konnte sie gar nicht gelingen, die innen- und außenpolitischen Verstrickungen ließen das einfach nicht. Dazu waren viele Könige unfähig, machtbesoffen und brutal. In der Vernichtung der Monarchie erkennen die Propheten das große Lehrstück: Gott kann sich nicht allein auf die Mächtigen verlassen, damit sein Reich kommt und er tut es auch nicht. Er braucht und sucht dafür jeden Menschen guten Willens, hörende Herzen. Die Königs- und Chronikbücher - ich lese sie als Folie, auf denen die Propheten ihre geschichtlichen Erfahrungen weiterschreiben, politische Handlungen und Herrschaft bewerten, Fragen an die Macht stellen und die muss sich diese Fragen gefallen lassen. Diese Bücher des Alten Testaments sind furchtbar aktuell. Es gibt genug Herrscher wie König Ahab und Königin Isebel mit ihrer religiösen Kamarilla, die politische Gegner ermorden und armen Leuten das Lebensnotwendige rauben. Es geht furchtbar und grausam blutig für sie aus, wenn ein charismatischer Prophet wie Elija das Volk auf seine Seite zieht und aufwiegelt. Da kennt das Alte Testament weder Gnade noch Illusionen.
(Alois Bierl, Chefreporter beim Sankt Michaelsbund)
Das ist doch ein Stoff für Netflix: Mit House of Cards oder The Crown können David und sein Anhang locker mithalten. Aufstieg und allmählicher Niedergang einer Monarchie, politisches Kalkül und viele Emotionen. Zum ersten Mal geht es mir bei meiner Bibellektüre so, dass ich wie bei einem Roman nicht aufhören mag. Mit den Samuelbüchern setzt im Alten Testament die Entdeckung der gebrochenen Helden ein. Endlich wird’s persönlich, endlich Menschen aus Fleisch und Blut. Und dann gleich solche wie David! Er sieht blendend aus, ist gerissen und gleichzeitig großmütig.
Manchmal brutal, manchmal empfindsam
Er führt nach dem Geschmack der Zeit gnadenlose Kriegszüge, hat aber auch eine andere Seite. David ist tollkühn, grausam und gleichzeitig empfindsam, manchmal richtig weich! Sein Vorgänger und Schwiegervater Saul will ihn aus dem Weg räumen und fordert als Brautpreis für seine Tochter Michal einhundert Vorhäute von erschlagenen Feinden. David liefert 200. Gleichzeitig ist er ein Dichter und Sänger, verschafft dem offenbar geistesgestörten Saul mit seinen Liedern Momente inneren Friedens. Als der schon sein offener Feind ist und ihn umlegen will, lässt David die Gelegenheit ungenutzt, den ersten König Israels umzubringen und ihn gleichzeitig zu verhöhnen. Saul verrichtet zufällig seine Notdurft in einer Höhle, in der sich David versteckt hält. Er bräuchte nur zu zuschlagen und hätte Saul nicht nur beseitigt, sondern auch der Lächerlichkeit preisgegeben, David tut es nicht. Andererseits hat er keine Skrupel einen seiner Militärs an die vorderste Frontlinie in den sicheren Tod zu schicken, um sich dessen Frau Betseba in seinen Harem zu holen.
Ein Mann mit Gewissen, machnmal mit schlechtem
Danach bereut er sein Handeln. Ein Mann, der ein Gewissen hat, wenn auch kein reines, sich nach seinem Gott sehnt und sich ihm verantwortlich weiß. Er weint um seinen unsympathischen Sohn Absalom, als der ihn vom Thron stoßen will. Ein brillantes Detail hält die Spannung hoch, gleichzeitig gruselig und komisch. Absalom verfängt sich auf der Flucht mit dem Hals in einer Astgabel und der Empörer hängt noch lebendig aber grotesk hilflos fest. David gibt strikte Anweisung, ihn zu schonen. Immer aber war er klug genug, entschlossene und auch eigenständig handelnde Gefolgsleute um sich zu scharen. Sein Heerführer Joab, ein skrupelloser, exzellenter Militär, bringt Absalom entgegen dem königlichen Befehl um. Anschließend erklärt er dem Regenten warum das aus Gründen der Staatsräson gar nicht anders ging. David trauert trotzdem, er kann seine ganze Seele an andere Menschen hängen, schließt eine rührende Freundschaft mit Sauls Sohn Jonatan.
Ein moderner Typ
Eigentlich logisch, dass sich gerade die Renaissance für diesen vielschichtigen David interessiert. Eine Epoche, die den Menschen in seiner körperlichen Schönheit entdeckt, da braucht man nur an die berühmte Skulptur Michelangelos in Florenz zu denken. Zudem ist es eine Epoche, die neu über Politik, Gewalt, Macht und Verantwortung nachdenkt, sich für den Einzelnen und seine Psychologie interessiert, ein persönliches Verhältnis zu Gott wichtig wird. Da ist David eine ideale und schillernde Identifikationsfigur. Eine christliche Kultur kann über diesen Mann nicht hinweggehen. Bis heute nicht, denn in seiner Gebrochenheit ist er modern. Mich wundert, dass Netflix diesen David und seinen Anhang nicht schon längst entdeckt hat.
(Alois Bierl, Chefreporter beim Sankt Michaelsbund)
Es geht einfach nicht. Ich hatte mir vorgenommen, das viele
Kriegsgeschrei und Metzeln in der Heiligen Schrift als das zu nehmen,
was es nach Meinung der historisch-kritischen Forschung überwiegend ist:
Geraffte und oft überhöhte Erzählungen und Erklärungen einer
langwierigen Besiedlungsgeschichte, mit vielen kleinen Kriegen, manchmal
auch friedlichen Vereinbarungen. Zudem ließen sich Vergleiche zu
anderen Meisterwerken der antiken Literatur ziehen, etwa zur Ilias. Auch
Homer lässt fröhlich morden, auch bei ihm wird grausam getötet und die
Taten der Helden stiften Zusammenhalt und Selbstbewusstsein in der
eigenen Ethnie. Trotzdem macht es mich immer noch unruhig, wenn es im
15. Kapitel des ersten Samuelbuches wie in einem Splatterfilm zugeht,
mit einer regelrechten Schlächterei, die zudem ein Heiliger Mann
ausführt.
Ein Prophet tobt und mordet
Da schleppt
König Saul die Beute aus einem vernichtenden Überfall auf die
Amalekiter herbei. Ich stelle ihn mir verschwitzt, befleckt vom Blut und
müde vor. Der Arm tut ihm weh, so viele Leute hat er mit seinem Schwert
erschlagen. Samuel hatte ihm jedoch als Richter und Prophet einen
vollständigen Ausrottungsbefehl gegeben: „…töte Männer und Frauen,
Kinder und Säuglinge, Rinder und Schafe, Kamele und Esel!“ Saul hat es
aber um die wertvollsten Stücke Vieh leidgetan, die schönsten Tiere
nimmt er doch mit und sogar den amalekitischen König Agag lässt er am
Leben. Warum auch immer, vielleicht verspricht er sich noch einen
politischen Nutzen des besiegten Feind. Samuel tobt: Saul habe den
Willen Gottes missachtet, das werde ihm die Herrschaft über Israel
kosten. Dann nimmt Samuel ein Schwert und haut Agag in Stücke. Einen
solchen Splatterfilm würde ich abschalten oder das Kino verlassen. Aber
ich bin doch in der Bibel.
Furcht und Zittern vor Bibelversen
Solche
Stellen versetzen mich in inneren Aufruhr. Ich stehe dann auf und gehe
an meinen Büchern vorbei, ziehe manchmal eines heraus, von dem ich
meine, es könnte mir weiterhelfen. Tatsächlich finde ich etwas bei
Martin Buber. Dieser einzigartige Schriftkenner und Gelehrte hätte
bestimmt irgendeine weise Erklärung für Samuels Verhalten aus den Zeilen
herauswinden können. Doch er schreibt schlicht, dass ihm gerade diese
Bibelstelle schon immer „furchtbar“ und „grauenerregend“ gewesen sei.
„Ich glaube,…dass Samuel Gott missverstanden hat“, schreibt dieser
tiefgläubige Jude. Immer wieder hefte sich in der Heiligen Schrift
„Missverstehen ans Verstehen“.
Geschichten mit Warnsignal
Deshalb
lese er nicht nur das 15. Kapitel des ersten Samuelbuches „mit Furcht
und Zittern, in einer unentrinnbaren Schwebe zwischen dem Worte Gottes
und den Worten der Menschen“. Mich ermutigt das bei meiner eigenen
Bibellektüre. Vieles muss ich als Warnung lesen, dass es in jeder
Glaubensgeschichte ein mächtiges und sogar verbrecherische Missverstehen
geben kann. Sogar bei Menschen, von denen die Heilige Schrift erzählt,
dass Gott direkt zu ihnen spricht. Darum ist es gut, dass die Bibel
einen solchen Splatterfilm nicht unterdrückt, sondern mich mit ihm
beunruhigt.(Alois Bierl, Chefreporter beim Sankt Michaelsbund)
So etwa bei 45 Grad sollte er liegen. Der Neigungswinkel beim Bibellesen ist nicht gering zu veranschlagen. Schon seit längerer Zeit habe ich ein schmales zusammenklappbares Pult, auf das ich etwas schwerere Bücher stelle, meistens liegen sie aber flach auf dem Tisch oder ich lese im Bett oder auf dem Kanapee. Immer öfter sagen mir jedoch mein Rücken und meine Nackenmuskulatur, dass sie damit nicht zufrieden sind. Die schwere Bibel, die ich zu Anfang benutzte, konnte ich so nach einigen Minuten kaum noch halten, am Tisch musste ich mich wegen der kleinen Schriftgröße ziemlich nah über sie beugen. Platzierte ich sie auf dem etwas windigen Pult, verrutschte es beim Umblättern, auch bei der neuen mehrbändigen, leichteren und größer gedruckten Ausgabe kommt das häufiger vor. Außerdem stören mich die zwei bis drei anderen Bände und Lexika, die ich links oder rechts ablege, um etwas nachschlagen zu können. Die genieren mich immer. Dazu kommen ein kleines Heft und ein Bleistift, um etwas notieren zu können.
Beim Laufen und beim Lesen – die Materialfrage ist wichtig
Nach dem Lesen mag ich das nicht einfach liegen lassen, ich verabscheue unaufgeräumte Schreibtische, da bin ich etwas neurotisch und muss aufräumen. Bleistift und Notizbüchlein in die Schublade, Bücher zurück ins Regal. Diese kleinen Ärgernisse sind heimtückisch. Wenn Bibellesen unbequem ist, dann wirst du allmählich nachlässiger und brichst es eines Tages ab. Ein Dauerläufer braucht leichtes Schuhwerk und probiert einiges aus, bis er das richtige gefunden hat. Ebenso braucht der Bibelleser das richtige Material. Ich hatte es sogar im Keller stehen. Ein festes Lesepult – im 45-Grad-Winkel, schon vor Jahren auf einem Flohmarkt für fünf Euro erworben: solide Fichte, lackiert, die Auflagefläche für das Buch 45 mal 32 Zentimeter groß, selbstverständlich mit Stützleiste am unteren Rand. Stelle ich es auf den Tisch bleibt darunter ein Hohl- und damit auch ein Stauraum für die anderen Bücher. Nur einen Boden hat das gute Stück nicht, besser hatte. Der Wunsch nach Bequemlichkeit macht erfinderisch, sogar mich.
Stauraum basteln
Ich habe eine etwa zentimeterdicke Sperrholzplatte zurechtschneiden lassen und unten an die Seitenstützen geschraubt, die Löcher behutsam vorgebohrt, damit die danach eingedrehten Schrauben, das schmale Holz der Stützen nicht zerreißen. Auf die leicht versenkten Schraubenköpfe habe ich kleine Gumminoppen gesetzt, das schützt den Tisch und macht das Pult noch rutschfester. Und der jetzt nach unten geschlossene Hohlraum ist wunderbar. Darin sind die anderen Bücher, Bleistift und Notizheft schnell verstaut, das gesamte Lesepult lässt sich samt Inhalt mit einem Griff an einen anderen Platz stellen und der Tisch ist frei. Will mein Enkel Memory spielen, ist das wichtig. Und mit der Bastelei habe ich mir selbst gezeigt, dass mir diese Bibellektüre etwas bedeutet. Wäre sie belanglos für mich, hätte ich mir bestimmt nicht die Mühe gemacht, den Akkuschrauber aufzuladen, Schrauben herauszusuchen und eine Bodenplatte zuschneiden zu lassen. Der richtige Neigungswinkel und das passende Pult sind gefunden – wo alle Umstände passen, kann ich ja mit dem Bibellesen nicht mehr aufhören. Vor allem jetzt, wenn´s mit den Königs- und Chronikbüchern so richtig spannend wird.
(Alois Bierl, Chefreporter beim Sankt Michaelsbund)
Endlich ein paar Seiten in der Bibel hintereinander ohne Krieg. Wurde
auch Zeit und dafür braucht es selbstverständlich eine Frau, in die ich
mich schon lange verliebt habe. Als Moabiterin gehört sie zu einem
Volk, dass fast immer Feindseligkeiten mit den Israeliten ausgetragen
hat. Sie aber verbindet die beiden Völker, handelt völlig selbstlos
zugunsten eines anderen Menschen, der aus der Fremde kommt und nicht
direkt blutsverwandt ist.
Rut – eine Ausnahmefigur im Alten Testament
Das
passiert gar nicht so oft vor in den ersten sieben Büchern der Bibel,
nach dem katholischen Kanon gezählt. Rut ist eine Ausnahmegestalt, so
ausführlich wie sie kommt vorher keine Frau und nach ihr so bald keine
andere in der Heiligen Schrift vor. Nach ihr ist ein ganzes biblische
Buch benannt, das zwischen Richter und Samuel steht. Mir ist es
vertraut, weil meine Tochter, als sie noch klein war, das Büchlein des
niederländischen Illustrators Kees de Kort besonders geliebt hat, in dem
er die Geschichte für Kinder erzählt. Ihr hat es gut gefallen, dass die
Mädels, die erwachsene Frauen sind, so gut zusammenhalten über alles
Trennende hinweg. Ich kann ihr da nur zustimmen. Als ich ihr damals
erzählte, dass Rut die Ur-Oma von König David ist und eine
Ur-Ur-Ur-Großmutter von Jesus hat, war sie damit sehr zufrieden.
Eine Frau zum Verlieben
So
jemand im Stammbaum zu haben ist eine Auszeichnung und eine
Verpflichtung. Nach dem Tod ihres ersten Mannes aus folgt sie ihrer
Schwiegermutter Noomi in deren judäische Heimat. Die wäre ohne Rut dort
völlig verlassen und dem Hunger preisgegeben, was für eine anrührende
Geschichte! Kein Wunder, dass sich der Großbauer Boas in Rut verliebt
und Noomi mit weiblicher List die Ehe einfädelt. In der jüdischen Bibel
steht das Buch mit ihrer Geschichte an anderer Stelle als im
katholischen Kanon. Dort zählt sie zu den Festrollen, zu denen auch das
Hohelied der Liebe gehört. Das passt schön! In der jüdischen Bibel
schließt das Buch der Richter direkt an Samuel an. Und es stimmt, so
richtig passt Rut da nicht dazwischen. Es steht nur in der ersten Zeile,
dass die Geschichte in der Zeit der Richter spielt. Tatsächlich ist sie
wohl erst viel später entstanden.
Spitze gegen Ehegesetze
In
einem Kommentar lese ich, dass das Buch Rut eine scharfe Spitze gegen
Esra und Nehemia enthalten, die Ehen zwischen Israeliten und Moabitern
verbieten. Die Bibel mag den Widerspruch, so wie das Leben eben ist. Für
mich ist Rut jedenfalls eine Erholung zwischen den Männern, die nicht
nur um Gott, sondern auch um Macht ringen. Manchmal halten sie das für
das Gleiche. Das Kees de Kort-Büchlein über Rut werde ich wieder
jedenfalls kaufen. Nicht um es wieder mit meiner Tochter anzuschauen,
die ist inzwischen selbst Mama. Ich werde es mit ihrem Sohn, meinem
Enkel anschauen. Es kann keinesfalls schaden, dass schon kleine Buben,
diese Rut kennenlernen und sich, so wie ich, ein bisschen in sie
verlieben.(Alois Bierl, Chefreporter beim Sankt Michaelsbund)
Wenn meine Augen über die vielen Verse gleiten, frage ich mich manchmal: Verstehst du das denn? Ich erinnere mich, dass diese Frage auch in der Apostelgeschichte auftaucht, von der mich eigentlich noch viele Bücher trennen. Aber ich blättere vor, eine kleine Erzählung zwischendurch, ein Sprung weg von der strengen Lektüre Zeile für Zeile. Ich weiß auch noch, dass ein Apostel einem wohlhabenden und gebildeten Äthiopier auf die Sprünge hilft. Es ist Philippus. Der Äthiopier muss wohl laut gelesen haben, denn sonst hätte der Apostel ja nicht hören können, über welchen Text er gerade brütet, es ist eine Stelle aus dem Propheten Jesaja. „Verstehst du auch, was du liest?“, fragt Philippus. Was mir entfallen war, ein Engel hatte ihn auf die Straße geschickt, ohne dass der Apostel wusste, wem er dort begegnen würde.
Das vergessene Efod
An vielen Stellen der Heiligen Schrift weiß ich oft nicht mehr weiter, ein Wort, ein schwer verständlicher Satz, ein fehlender Zusammenhang. Was war gleich ein Efod? Das ist mir doch schon begegnet und ich weiß nicht mehr wo. Am Ende des Abschnittes stehen dann, die entsprechenden Bezüge. Ja, das ist doch das Gewand der Hohepriester, das im Buch Exodus so prachtvoll beschrieben wird. Im Buch Richter übertreibt es dann Gideon mit der Freude an der Pracht und aus dem Efod wird ein Götzenbild. Was wäre ich ohne diese Anmerkungen. Oder ein Abschnitt kommt mir tatsächlich wirr vor. Da hilft es doch sehr zu erfahren, dass ich kein Trottel, nicht konzentriert oder fromm genug, wenn ich das nicht verstehe. Denn tatsächlich steht da auch ein kleiner Satz, dass hier verschiedene und teilweise verstümmelte Überlieferungen zusammengefasst sind, die biblischen Schriftsteller lassen ja nichts verkommen. Ich muss nicht einmal laut lesen und dabei gehört werden damit mir jemand erklärt, was ich nicht verstehe. Ein Hoch auf die fleißigen Wissenschaftler!
Gelehrtenschweiß fließt nicht vergebens
Wie mühselig muss es sein, die Stellen zu finden, zu sammeln und zu verbinden, die aufeinander Bezug nehmen. Wie viel Gelehrtenschweiß steckt darin, zerfledderte Handschriften zu vergleichen, Abweichungen und Lücken bei denselben Texten zu bemerken. Und das auch noch zu teilen, damit es alle haben. Mir kommen diese Frauen und Männer tatsächlich auch wie von einem Engel gesandt vor. Wie Philippus wissen sie gar nicht, zu wem sie geschickt sind. Auf ihrem Weg treffen sie bestimmt viele, die sich fragen: „Verstehe ich, was ich da lese“ und ungefragte Hilfe kommt. „Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei.“ Es ist auch nicht gut, wenn er ganz alleine liest, gerade die Bibel. Bei mir zumindest reicht es nicht, mich nur auf den Heiligen Geist zu verlassen, um dieses einzigartige Buch wenigstens in Teilen zu verstehen. Obwohl ich weiß und spüre, dass dieses Buch viel mehr erzählt und in mir auslöst, als ich und auch alle Gelehrten können. Trotzdem ein herzlicher Dank an die vielen unbekannten Frauen und Männer, die mir beim Lesen der Heiligen Schrift helfen, ohne es zu wissen.
(Alois Bierl, Chefreporter Sankt Michaelsbund)
Krieg – na klar! Gewalt und Gemetzel kommen in den Gesetzes- und Geschichtsbüchern der Heiligen Schrift zuhauf vor. Da geht es um Eroberung, aber auch um Widerstand gegen ausbeuterische Mächte. „In der Natur wird gemordet, das ändert sich nicht“, heißt es bei Ödön von Horvath so herzzerreißend unsentimental. Beim Menschen kommt auch noch die Kultur dazu. Das Jus ad bellum, das Recht zum Krieg war für die Völker bis ins 20. Jahrhundert hinein eine Selbstverständlichkeit, auch bei guten Christenmenschen. Juristen, Historiker und Theologen lieferten dafür immer gute Gründe. Erst das Entsetzen über den Zweiten Weltkrieg hat zur Charta der Vereinten Nationen geführt. Dort verpflichtet der Artikel 2 die Staaten dazu, ihre Auseinandersetzungen ohne Waffengewalt zu regeln. Das kümmert Diktatoren und Kriegsunternehmer wenig, wenn sie einen Gewinn für sich sehen. Und ist die gottlose Gewalt erst entfesselt, dann ist das Quälen anderer Menschen sehr schnell gesellschaftlich erlaubt oder wird zumindest hingenommen, Rechtfertigungen sind dafür ja immer zu finden.
Moment der Umkehr
Die Bibel ist da realistisch und auch das Volk Gottes mischt fleißig mit. Und bevor ich zu moralisch werde: die Lust am Mordwerk merke ich auch an mir selbst als Leser. Im Buch Richter ersticht Ehud den dicken König der Moabiter, der das Volk mit Tributforderungen erdrückt, heimtückisch mit einem langen Messer: „Es drang sogar der Griff nach der Klinge ein und das Fett umschloss die Klinge, da er den Dolch nicht aus seinem Leib herausgezogen hatte.“ (Ri 3,22). Das würzt die Lektüre und ich schnalze mit der Zunge, obwohl es mich gleichzeitig ekelt und schaudern macht wie bei einer guten Kriminalgeschichte. Ein paar Abschnitte vorher ist das Schicksal des kanaanäischen Königs Adoni-Besek geschildert. Nach gutem Siegerbrauch schneiden ihm die Judäer die Daumen und die großen Zehen ab. Und da ist ein Moment, der mich stark rührt. Denn Adoni-Besek hat es bei seinen Feinden nicht anders gehalten. „Siebzig Könige mit abgehackten Daumen und abgehackten großen Zehen haben unter meinem Tisch die Reste aufgelesen. Wie ich gehandelt habe, so hat mir Gott vergolten.“ Da kommt mir dieser Tyrann plötzlich nahe, weil er einen Moment der Umkehr zeigt. Mitten in diesen Grausamkeiten denkt einer daran, dass er selbst Schuld auf sich geladen, dass er Verantwortung trägt, wenn Entsetzliches passiert.
Der Frieden ist ein göttlicher Glanz
Immer wieder stoße ich auf diese Goldader der Heiligen Schrift: dass es Frieden und Recht geben muss. In den ersten Büchern der Bibel erscheint sie mir bisweilen sehr dünn. Aber, es kommen ja die Propheten und das Neue Testament. Diese Goldader wird also breiter und tritt immer offener zu Tage und ich finde es redlich, dass die Heilige Schrift nicht davon schweigt, dass mächtige Schichten von Schuld und Gewalt sie immer wieder verschütten. Dennoch: sie ist da, auch wenn sie immer wieder aufs Neue ausgegraben werden muss! Der Frieden ist ein göttlicher Glanz. Von Sigmund Freud stammt der Satz: „Die Kultur muss alles aufbieten, um den Aggressionstrieben der Menschen Schranken zu setzen.“ Davon erzählen auch das Alte und das Neue Testament. Sie verlassen sich allerdings nicht auf den Menschen und seine Kultur. In der großen Entwicklungsgeschichte der Bibel wird deutlich, dass die gebrechlich eingerichtete Welt alleine zum Frieden unfähig ist. Für den braucht es mehr als den Menschen – ohne Gott erreichen sie die Goldader nicht, die durch die Kriege hindurch bricht.
(Alois Bierl, Chefreporter Sankt Michaelsbund)
Diese Unduldsamkeit gegen andere Religionen und Völker, der unerbittliche Ton der Vorschriften, die ständigen Mahnungen treu zu bleiben – dauernd treiben mich diese vielen Stellen im Alten Testament um, sie gehen mir auch auf die Nerven. Und plötzlich kommt mir der Gedanke: da ist doch Angst im Spiel. Gott fürchtet, das von ihm geliebte Volk zu verlieren. Und die Menschen, die ihm folgen, spüren ihrerseits, dass er ihnen abhanden kommen könnte. Natürlich sind überall im Alten Orient religiöse Regeln und Opferbestimmungen zu finden. Doch es klingt immer, wie ein vertraglich besiegeltes Handelsabkommen. Bringst du den Göttern Opfer, dann lassen sie die Ernte wachsen. Do ut des, lautet der lateinische Grundsatz: „Ich gebe, damit du gibst“.
Ein "eifersüchtiger" Gott
Auch in der Bibel ist dieser Tauschgedanke da, aber ich glaube, es geht dort viel mehr um Beziehung, um Liebe. Mir fällt das vor über einem Vierteljahrhundert erschienene Buch Jack Miles ein: „Gott, eine Biografie“. Darin zeichnet der ehemalige Jesuit, Bibelkenner und Literaturwissenschaftler eine Art Lebenslauf Gottes nach, den Miles der Bibel entnimmt, und dessen Wechselbäder der Emotionen und Stimmungen, so wie sie das Volk Israel eben erfährt. Anders als in den antiken Religionen habe der Gott Israels eben keine anderen Götter neben sich, denen er begegnen und mit denen er sich austauschen kann. Er ist ohne himmlische Gefährtinnen und Gefährten, die ihm einigermaßen gleichwertig sind und mit denen er sich befassen, auseinandersetzen muss. Der HERR hat nur Israel zum Partner, für das er eine regelrechte Leidenschaft entwickelt. Er sagt sogar ausdrücklich von sich selbst, dass er ein „eifersüchtiger Gott“ (Dtn 5,9) sei. Wenn es um diese Exklusivbeziehung geht, kennt er keinen Spaß. Fast kommt es einem so vor, als wäre er sonst einsam.
Gott und die Menschen wollen zusammenbleiben
Die spätere christliche Theologie löst das auf, indem sie Gott als dreifaltig beschreibt, der in sich selbst unaufhörlich Begegnung und Kommunikation ist, der lieben kann und liebt, vor Anbeginn der Welt, seit Ewigkeit. Sonst könnte er auch im Alten oder Ersten Testament mit seinem auserwählten Volk niemals ein solches Beziehungsdrama anzetteln. Jeder, der einmal um eine Liebe gekämpft und gestritten hat, weiß, welche drastischen Formulierungen und haarsträubenden Forderungen da vorkommen. Da kommt es zu Geschrei und Gezänk, zu verzweifeltem und widersprüchlichem Geflüster, unbeholfenen Zärtlichkeiten, scharfen Aufforderungen und es spricht die Furcht, dass diese Liebe gleichgültig und vergessen werden könnte, ein unerträgliches Gefühl. Mit diesem Gedanken lese ich diese schwierigen und nervigen Bibelstellen mit ihrer Unduldsamkeit, den Vorschriften und Mahnungen auf einmal anders. Gott und die Menschen fühlen, dass sie zusammenbleiben wollen und wie schwierig das ist. Und ich merke: das geht ja mich an, bis ins Innerste, bis in die Eingeweide – da steckt ja auch mein Beziehungsdrama mit Gott drin.
(Alois Bierl, Chefreporter Sankt Michaelsbund)
Sie sind schwer, umfangreich machen schnell müde und hemmen das
Vorwärtskommen - Bibeleditionen haben so ihre Tücken. Die ersten Wochen
habe ich in einer dicken Ausgabe gelesen, zugegeben mit einem
exzellenten und nicht allzu akademischen Kommentar, der mir manche
Stelle aufgeschlüsselt hat. Trotzdem bereitet mir meine „Neue
Jerusalemer Bibel“ Kummer und manchmal Frust. Ich will die Heilige
Schrift ja von der ersten bis zur letzten Seite lesen und es kommt mir
so schleppend vor. Klar, das Alte Testament ist nicht Harry Potter mit
einer einheitlichen Handlung, so viele Nebenstränge sie auch haben mag,
ein großes und zusammenhängendes Erzähl-Tableau, mit einer Lektüre wie
im Flug. Die Bibel ist ein fein zusammengenähter Flickenteppich. Jede
Überlieferung ist den Autoren kostbar, da darf nichts verlorengehen,
jedes greifbare Stückchen ist verwertet, selbst wenn es nur eine leicht
veränderte Wiederholung ist. Da stockt der Verstand schnell.
Bibellesen ist nicht immer ein Vergnügen
Nein,
Bibellesen ist nicht immer ein Vergnügen, besonders, wenn das
Geschriebene in einem einzigen Band klein und auf dünnem Papier gedruckt
ist. Nehme ich die in einer Woche gelesenen Seiten zwischen Daumen und
Zeigefinger spüre ich den Druck an den Fingerspitzen, weil so wenig
Papier dazwischen und noch so viel Text vor mir liegt. Und die kleine
Dünndruckausgabe mit dem Reißverschluss, die ich unterwegs in der U-Bahn
oder im Zug lese, ist praktisch und handlich, passt sogar in die
Jackettasche, und ich glaube es sieht nicht schlecht aus, wenn ich sie
konzentriert aufschlage und nach einiger Zeit mit einem leichten
Rascheln umblättere. Ja, ich bekenne, es schmeichelt mir, wenn andere
Fahrgäste mich da nicht nur verwundert, sondern auch ein bisschen
bewundernd anschauen. Distinktionsgewinn, nennen das die Soziologen.
Viel Zeit das zu genießen, bleibt mir aber nicht, denn ich muss bei der
kleinen Schrift aufpassen, die Zeile nicht zu verlieren. Und ist ein
biblisches Buch abgeschlossen, wartet schon das nächste.
Bibelausgabe in Großdruck
Aber ein bisschen Belohnung oder Aufmunterung sollte doch sein, wenn das letzte Deuteroniumkapitel hinter einem liegt! Kein Wunder, dass viele die Lektüre vermutlich schon deswegen aufgeben, weil ihnen die Bibel zu unhandlich, zu dick oder wie Augenpulver vorkommt. Nicht jeder kämpft so beharrlich mit der Heiligen Schrift wie Jakob mit dem Engel, und lässt nicht eher davon ab, bis er einen Segen spürt. Seit ein paar Tagen habe ich jedoch Abhilfe gefunden, das Katholische Bibelwerk ist mir für 89 Euro gnädig. Sein Verlag bietet eine Bibelausgabe in Großdruck und vor allem in fünf Einzelbänden. Ich will nicht behaupten, dass es die Kultvorschriften und Landnahmeerzählungen in den Büchern Numeri und Deuteronium nun mit den Schilderungen von Hogwarts an Spannung aufnehmen können. Aber wenigstens liest es sich augenfreundlich. Dazu kommt das Erfolgserlebnis, das nach der nun erfolgten Lektüre des Pentateuchs der erste Band abgeschlossen ist! Bei meinen anderen Bibelausgaben wäre mir diese Wegstrecke kaum aufgefallen. Dabei habe ich jetzt schon die komplette Tora geschafft. Es hat mich gestrafft und angespornt, als ich die letzte Seite umblätterte und nur noch den hinteren Buchdeckel vor mir hatte. Und wenn ich jetzt in der U-Bahn mich über Taschenausgabe beuge, die Augen zusammenkneife, um die Zeilen schärfer zu sehen, dann fällt mir auch das leichter. Denn ich weiß, wenn ich daheim den Lektürefaden wieder aufnehme, dann wartet auf mich zur Erholung ein schönes großes Schriftbild in einem schmalen Band, der mir nicht von vorherein zuflüstert: „Du schaffst mich eh nicht, ich bin ein kaum bezwingbarer Wälzer.“ Psychologie gehört beim Bibellesen halt dazu.
(Alois Bierl, Chefreporter Sankt Michaelsbund)
Bei
vielen Stellen in der Tora, also den ersten fünf Büchern des Alten
Testaments, mit ihren Rechtsvorschriften und Normen komme ich immer
wieder ins Straucheln. Ich versuche dann in der Lektüre nicht
weiterzustolpern, bis ich wieder sicheren Grund erreiche und nicht mehr
auf die Nase fallen kann, sondern stehenzubleiben und mich irritieren zu
lassen. Es sind Stellen wie: „Eine Hexe sollst Du nicht am Leben
lassen.“ (Ex 22,17) „Schläft einer mit einem Mann, wie man mit einer
Frau schläft, dann haben sie eine Gräueltat begangen; beide haben den
Tod verdient.“ (Lev 20,13). Oder die Stelle im Buch Numeri, wo Gott
durch Mose die Steinigung eines Mannes anordnet, weil er am Sabbat Holz
gesammelt hat.
Besonders haarsträubend ist die wenig bekannte
Perikope mit dem Priester Pinhas, der einen Israeliten mit einem Speer
ermordet, weil er eine Midianiterin, eine Fremde, zur Frau hat. Die
Midianiterin sticht er natürlich mit ab und Gott lobt diesen „Eifer“
durch den Mund Mose. Ich halte mir dann vor Augen, dass es Sätze sind,
die sich an Menschen in historischen Momenten wenden, wie sie vor 2500
und oft auch noch viel mehr Jahren bestanden. Sie richten sich an ein
kleines Volk, dass dagegen kämpfen muss, von Großmächten geschluckt zu
werden und unterzugehen, das sich erhalten und scharf von der Kultur,
den Sitten und der Religion seiner Nachbarn und Eroberer abgrenzen will.
Die Schreiber erklären nicht viel dazu. Und vielleicht geht es ja gar
nicht um diese oder jene Handlung, sondern um eine Haltung: Behalte im
Blick, wie Du zu deinen Mitmenschen sprichst, jage ihnen keine Angst
ein, sei achtsam mit Deinem Körper und dem der anderen, gehe pfleglich
mit deinem Leben um und zerstöre nicht die Gemeinschaft, mach sie nicht
kaputt, sonst ergeht es dir übel! So versuche ich als Leser im 21.
Jahrhundert derlei Verse zu deuten. Und dann sind dazwischen ja die
Stellen zu finden, die den Israeliten ins Stammbuch schreiben, den
Fremden nicht zu bedrücken und zu schützen. Trotzdem bleibt da ein
Stachel, weil die Bibel so oft nonchalant meine ethischen Vorstellungen
über den Haufen wirft. Weit entfernt kommt mir da das Wort Gottes und
sein Gesetz vor. Und dann rührt und trifft es mich wieder unmittelbar:
als Zeitgenossen des Artentods, des vom Menschen mit verursachten
Klimadilemmas und einer zerstörerischen Wirtschaftsdoktrin.
Atempause für Schöpfung und Mensch
Im Buch Exodus und Leviticus lese ich, dass nicht allein der Mensch
Ruhepausen braucht, sondern dass sie auch dem Boden, der Natur zu gönnen
sind. Sie sehen ein Sabbat- oder Schmittajahr für alles Ackerland vor,
in dem es brachliegen soll. Auch der Mensch schränkt sich dann ein,
schenkt der Schöpfung und sich selbst eine Atempause, gibt sich mit
Vorräten zufrieden. Als wären diese Bibelstellen für heute geschrieben.
In einem Podcast habe ich neulich den Geologen Christoph Antweiler
gehört. Er rechnete vor, dass jeder Quadratmeter Festland mit einem
Zentner Baumaterial bedeckt wäre, verteilte man den von Menschenhand
verbauten Beton, den Asphalt, das Glas oder den Stahl auf die
Erdoberfläche. Für jeden Quadratmeter stehen schon jetzt 50 Kilo Schutt
bereit! In ein paar Millionen Jahren wird es eine nur von Menschen
geschaffene geologische Schicht geben. Aus und auf dem Boden wird alles
herausgeholt und so gewaltig geplündert, dass das Leben darauf
allmählich keinen Platz mehr findet, die Erde stöhnt unter der Last des
Menschen. Da habe ich an diese Bibelverse denken müssen. Das „Gift der
Habsucht“, wie Papst Franziskus es nennt, ist der Bibel mindestens
genauso unheimlich wie etwa die Homosexualität. Die bewerten die natur-
und geisteswissenschaftliche Forschung heute anders als das Alte
Testament. Die Warnung vor einem schonungslosen Umgang mit der Erde ist
dagegen wohl zeitlos. Auch sie gehört zu meinen Straucheleinheiten beim
Bibellesen.
(Alois Bierl, Chefreporter Sankt Michaelsbund)
Am
Anfang kostet es etwas Überwindung. Aber bei der Beschreibung des
Bundeszeltes in den Büchern Exodus und Numeri hat sie sich auf alle
Fälle gelohnt. Gott verlangt von Mose, ihm ein Heiligtum zu machen. Und
dann folgen viele Seiten Baubeschreibung und Montageanleitung, ich muss
an Ikea-Regale denken. Nach einigen Versen lese ich darüber immer
oberflächlicher hin, bleibe aber an „Schleifen aus violettem Purpur“,
„vierzig Sockel aus Silber“ oder „gezwirntem Byssus“ hängen. Byssus, das
kenne ich aus dem italienischen Wallfahrtsort Manoppello. Dort hängt
ein Tuch, das ein lebensechtes Bild von Jesus zeigen soll. Kenner sagen,
dass es aus Byssus ist, die Fäden dafür sind aus den Sekreten von
Muscheln gewonnen, weshalb es auch den Namen Muschelseide trägt. Gut
kann ich mich entsinnen, wie gebannt ich vor dem Tuch stand, das jeden
veränderten Lichteinfall aufnahm, von einer Aura umgeben war und sich
ständig anders zeigte.
Ich halte inne, bevor ich dann wieder nur so obenhin über die
Exodus-Zeilen gleite und mich gleichzeitig ermahne: Schade, dass du das
nicht tiefer aufnimmst, du spürst doch, da ist ein Zauber wie in
Tausenundeine Nacht verborgen. Und ich überwinde mich und lese die
vielen Zeilen laut. Ein wenig verschämt, könnte ja plötzlich ein
Familienangehöriger ins Zimmer kommen und sich fragen, was ich da tue.
Ich höre meiner Stimme zu und immer mehr baut sich vor mir dieses
Bundeszelt auf, in dem ein Altar aus Akazienholz steht, zwei Kerubime
aus Gold, kupferne Pfannen. Die Zeltdecken sind aus Ziegenhaar und
Tierhäuten, sie schützen die heilige Bundeslade mit den Gesetzestafeln –
vor denen hängt der Vorhang aus Byssus.
Ich sehe das Zelt
vor mir, wie es auf steinigem Boden in der Wüste steht, rieche das
Leder, den Weihrauch und die verbrannten Harze, alles ist imprägniert
von ihrem Aroma. Der Wind weht hinein, und bewegt sanft das
geheimnisvolle Byssusgewebe. Etwas Unsichtbares zieht ein ins Sichtbare.
Völlig logisch, dass Gott hier anwesend sein muss.
Aus der Tonspur wird Kopfkino
Im
Timna-Park in Israel ist das Bundeszelt nachgebaut und im Internet
schaue ich mir Fotos davon an. Sind ziemlich matt und glanzlos, meine
eigene Vorstellung gefällt mir da viel besser. Mit dem lauten Vorlesen
lade ich mich selbst zum Bibelträumen ein, aus der Tonspur wird ein
Kopfkino, aus dem Wort ein Bild, mein Bild. Ich kann es mit mir
herumtragen, wie die das wandernde Gottesvolk sein Bundeszelt und
auspacken, wenn es dafür Zeit ist. Natürlich merke ich beim Lesen der
Verse, das da manches nicht ganz zusammenstimmt, Wiederholungen
vorkommen und die Bibel-Schreiber wahrscheinlich das mythische
Bundeszelt mit der liturgischen Ausstattung des Jerusalemer Tempels
möbliert haben. Sie haben eine erzählerische Verbindung zwischen den
Jahrhunderte voneinander entfernten Kultstätten geschaffen: dem
transportablen, bescheidenen Zelt und dem festgebauten, prächtigen
Gotteshaus. Vielleicht wollten sie sagen, dass es zu manchen Zeiten eine
bewegliche Verehrung und einen beweglichen Gott braucht und dann wieder
einen festen, sicheren Platz, an dem der Herr unverrückbar festhält, um
sich dort immer finden zu lassen. Sie haben ihre orientalische
Phantasie spielen lassen. Wenn die Bibelgelehrten das durften, kann
Phantasie bei der Lektüre der Heiligen Schrift ja nicht verboten sein.
Lautes Vorlesen hilft ihr auf die Sprünge.
(Alois Bierl, Chefreporter Sankt Michaelsbund)
Wo
packe ich zwischen Büro, E-Mails und Haushalt, zwischen Kino,
angenehmen Zerstreuungen und Familienleben bloß den Moses hin? Das
Arbeits- und Freizeitleben des 21. Jahrhunderts hat meine Bibellektüre
eingeholt: meistens bin ich entweder in Hektik oder abgespannt und
vertrödele Stunden, ohne es richtig zu merken. Die Bibelausgabe, die ich
von der ersten bis zur letzten Zeile lesen will, hat gut 1800 Seiten,
mit Kommentar. Wenn ich den weglasse, sind es vielleicht noch 1500. In
elf Monaten will ich beim letzten Vers der Offenbarung des Johannes
angekommen sein. Ich habe schon einmal vorgeblättert: „Die Gnade des
Herrn sei mit allen!“ (Off 22,21). Jeden Tag vier bis fünf Seiten oder
auf die Woche umgerechnet 29 bis 35 Seiten in der Heiligen Schrift zu
lesen, das sollte doch zu schaffen sein. Dafür habe ich mich
entschieden, weil der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs mich packt, der
sonderbare Kapriolen schlägt, fürchterliche Wutausbrüche hat und
trotzdem unverbrüchlich treu ist. Es sollte doch ein Vergnügen sein,
jeden Tag ein halbes oder wenigstens ein Viertelstündlein in dem
Liebesroman zwischen Gott und den Menschen zu lesen, der die Bibel doch
ist. Ist nach vier Wochen, aber kein Vergnügen mehr, zumindest nicht
immer, sondern ein Zeitproblem.
Anfangs war ich fleißig und begeistert, bin morgens etwas früher
aufgestanden und achtete streng darauf mein Seitenpensum zu schaffen.
Manchmal ganz romantisch bei Kerzenlicht. Damit war es vorbei, als das
Enkelkind drei Tage und Nächte zu Besuch war, am Morgen frühstücken und
spielen und keinen bibellesenden Opa wollte. Am Abend waren mir Lust und
Ehrgeiz vergangen, Moses oder die Sippenverbände von Ruben, Simeon oder
Levis und wie sie alle heißen zwischen die letzten Stunden des Tages zu
quetschen. Bibellesen ist keine Arbeit, aber doch eine besondere
Handlung und keine Entspannung. Das habe ich vorher schon gewusst, jetzt
spüre ich es auch.
Haltepunkte freihalten
Als ich ein paar Tage mit der U-Bahn zur Arbeit gefahren bin und an
einem Samstag mit der Eisenbahn einen Ausflug gemacht habe, habe ich mir
eine kleine Taschenbibel mitgenommen, um auf den Fahrten zu lesen. Das
hat zwar knapp für das Tages- und Wochenpensum gereicht, aber ich war
kein aufmerksamer und danach ein unzufriedener Leser. Außerdem fahre ich
meistens mit dem Fahrrad ins Büro. Also muss ich meine Lektüre
alltagstauglicher machen. Der Plan ist, drei Haltepunkte im Tag
freizuhalten und an einem davon meine Lektürestrecke zu schaffen:
Morgens vor dem Frühstück, vor dem Mittagessen oder nach dem Abendessen.
Ich setze mich hin, schlage die neue Stelle auf und atme dreimal ruhig
durch und dann geht´s los. Einen Vers aus dem gelesenen Abschnitt
schreibe ich auf und schaue ihn mir vor dem Einschlafen noch einmal an.
Drei Tage hat die Methode schon ganz gut geklappt und an einem davon
haben mich die Verse fortgerissen und ich habe zwölf Seiten geschafft.
Und wenn es einmal nicht klappt, weiche ich aufs Wochenende aus, gehe
früh zu Bett und lese am Morgen. Vielleicht wieder ganz romantisch bei
Kerzenlicht. Bisher hat´s funktioniert, die Bibel hat mich wieder.
(Alois Bierl, Chefreporter Sankt Michaelsbund)
Bürger, die fremde Männer vergewaltigen wollen, Inzest, kinderlose Ehen, Leihmutterschaft und ein Coitus interruptus aus Feindseligkeit. Dazu kommen gerade noch verhinderte Menschenopfer oder ein versuchter Brudermord, um den etwas altkluge Joseph aus dem Weg zu räumen. Ein paar Kapitel zuvor hat es Abel schon erwischt, Blutsverwandtschaft hin oder her, Kain hat zugeschlagen.
Das Buch Genesis kommt mir wie die große und atemlose Drama Queen unter den biblischen Schriften vor. Ich bin nicht völlig ahnungslos in meine Bibellektüre eingestiegen. Aber dass sich die einzelnen Geschichten um Lot, um Hagar, um Tamar und Onan oder um Isaak und all die anderen auf gerade einmal gut 40 Seiten zusammendrängen – es war mir nicht mehr bewusst. Auch nicht, wie knapp und deutlich sie sind. Mich verblüfft, wie entschlossen und tabulos Frauen darum kämpfen, Mutter zu werden. In den meisten Geschichten geht es handfest um Fortpflanzung. In der Geschichte von Lot auch um die Würde und die Achtung vor dem Körper, wenn er zwei Engel in männlicher Gestalt vor der Vergewaltigung durch andere Männer schützt. Wenig später lassen sich seine Töchter zielbewusst von Lot schwängern, weil nach dem Ende Sodoms keine anderen Männer mehr da sind. Aus diesem Doppelinzest gehen mit Moab und Ben Ammi zwar zwei Leibfeinde Israels hervor, aber das Verständnis für das Handeln der beiden jungen Frauen ist da.
Die Menschen sind wertvoll
„Das Leben ist am größten:/Es steht nicht mehr bereit“, heißt es in einem Gedicht von Bertolt Brecht. Wie der wortgewaltige Atheist aus Augsburg schielen die Menschen in der Genesis kaum ins Jenseits, sondern wollen auf der Welt bleiben, wenigstens in ihren Nachkommen. Das ist das Nachleben, auf das sie sich verlassen. Darum sind Kinder so kostbar. Selbst wenn es erotisch einmal knistert wie bei Jakob und Rahel und eine bisschen sentimentale Liebesgeschichte sich andeutet: wenn Frau und Mann zusammenliegen, dann sollte etwas Drittes dabei herauskommen. Für zweckfreie Lust hat das Buch Genesis keinen Sinn, für bürgerliche und auch kirchliche Moral erst recht nicht. Dennoch trägt die Kirche etwas vom Sinn dieses biblischen Erbes weiter: Dass Menschen wertvoll sind, für ihre Eltern und noch mehr für sich selbst und sie deshalb schon im Mutterschoß zu schützen sind. Dass Sexualität eine große Aufgabe ist, kein unverbindlicher Spaß und keine Triebabfuhr.
Hören wir als Zeitgenossen und Genussmenschen des 21. Jahrhunderts nicht gerne, weil immer ein Unterton mitschwingt: Geschlechtsverkehr ist nicht zum Vergnügen da. Gleichzeitig wissen wir, wie eine engherzige verdruckste Sexualmoral mit ihren minutiösen Verboten Frauen, Männer und Kinder kaputtmachen kann. Die Kirchen waren immer sehr gut darin vorzuschreiben, was geht, wenn zwei Leiber zusammenkommen und noch mehr was nicht geht. Und manchmal wünsche ich mir, die Theologen hätten sich mehr Gedanken um das fünfte anstatt um das sechste Gebot gemacht. Das Buch Genesis ist dagegen alles andere als verdruckst und macht nicht viele Vorschriften: Es sagt nur „Das Leben ist am größten“ – behalt es nicht für Dich allein, gib es unbedingt weiter, wenn du es irgendwie kannst und hüte es.
(Alois Bierl, Chefreporter Sankt Michaelsbund)
Das fängt ja verwirrend an. Dass es zwei verschiedene Schöpfungserzählungen im ersten Buch der Bibel gibt, hatte ich parat. Sogar dass die erste in Genesis 1 etwa 500 Jahre später entstanden ist als die zweite in Genesis 2. Ich war sogar ganz stolz darauf, dass ich mich aus Studienzeiten noch erinnerte, dass Genesis 2 dem sogenannten Jahwisten zugeschrieben wird, weil er den Gottesnamen Jahwe gebraucht. Die allerersten Zeilen der Bibel entstammen dagegen dem Textkonvolut der Priesterschrift. Dass die im Babylonischen Exil entstanden ist, habe ich nachschlagen müssen, ebenso dass manche Exegeten den Jahwisten mittlerweile nicht mehr als eigenständige und unabhängige Quelle anerkennen. Und schon bin ich in der Gefahr, dass ich mehr Kommentare zu einzelnen Stellen lese, als die Bibel selbst, bei Einzelheiten hängenbleibe. Gleichzeitig bin ich über das bisschen Vorwissen und die Kommentare froh, weil ich dann nicht an rätselhaften Einzelheiten hängen bleibe, für die mir kluge Leute eine Erklärung geben können. Immerhin eines kann ich mir selbst zusammenreimen: Als die jüdischen Gelehrten den Kanon des Alten, des Ersten Testaments festlegten waren ihnen offenbar beide Erzählungen gleich wichtig, so dass sie lieber ein bisschen verwirren als eine davon streichen wollten.
Die Bibel lässt Freiheit und Widersprüche zu
Die Bibel ist ein Buch, das Freiheit und Widersprüche zulässt. Mir hat sie außerdem gleich auf den ersten Seiten einen Schauder über den Rücken gejagt. Ich habe an die Planetarien gedacht, die ich ab und zu besuche. Meistens sind da Filme zu sehen, die den Ursprung der Welt erklären. Ich schaue sie immer gebannt und gleichzeitig mit großem Unbehagen an. Zuerst sind riesige Gaswolken zu sehen, ein paar Minuten später verkrustetes Gestein, da sind schon ein paar Jahrmillionen verstrichen. Gleich darauf kommen mächtige Meereswogen und unvermittelt ein Schnitt auf riesige Farnwälder. Da sind schon wieder Jahrmillionen vergangen und weit und breit ist kein Mensch zu finden. Es scheint ihn gar nicht zu brauchen, Schöpfung gibt´s auch so.
Das Erschrecken darüber, dass Gott, der nicht Zeit und Raum ist, diese unfassbare Zeit und diesen unbegreiflichen Raum werden lässt, sitzt mir nach jedem Planetariumsbesuch in den Knochen. Und noch mehr, dass er irgendwann Menschen in diese Schöpfung setzt, die mit ihrem kleinen Intellekt bloß begreifen, dass sie Gott und sich selbst in dieser stofflichen Welt aus Zeit und Raum nie ganz verstehen können. Trotzdem versuchen sie es unablässig.
Mich ergreift es, dass Gott im ersten Buch der Bibel Adam und Eva die Freiheit lässt, in der Komfortzone des Paradieses zu bleiben oder nach Erkenntnis zu fragen. Die tut weh, sehr sogar. Und doch ist der Sündenfall ein Glücksfall, „glückliche Schuld“, wie es in der Osterliturgie heißt. Denn aus dem Paradies machen sich die zerbrechlichen Menschen auf einen Weg - und auf viele Umwege. Er führt sie durch die Geschichte, die im Reich Gottes münden soll. Dieser gleichzeitig treue und unfassbare Gott ist sogar auf diesem Weg dabei. Er spricht zu Männern und Frauen und die Bibel hält fest, wie sie diesen Gott verstehen, oft genug missverstehen. Und jetzt drängt es mich unwiderstehlich, in dieser Geschichte weiterzulesen, völlig egal, welcher Abschnitt nun vom Jahwisten oder aus der Priesterschrift stammt.
(Alois Bierl, Chefreporter Sankt Michaelsbund)
Von der Erschaffung der Welt bis zu ihrem Ende in 365 Tagen in einem Buch. Oder in 73 Büchern in einem Band. So viele zählt die katholische Kirche zu ihrem Bibelkanon. In einem Jahr will ich die Heilige Schrift komplett lesen. Darum heißt das Ganze auch: vom Anfang bis zur Apokalypse.
Vor 33 Jahren habe ich das schon einmal gemacht. Zugegeben mit vielen überschlagenen Seiten, wie man Fachliteratur studiert, weil ich meine Prüfungen bestehen wollte. Nun will ich mir dieses merkwürdige Buch noch einmal geben. Dieses Mal wirklich Zeile für Zeile und festhalten, wie es mir dabei so geht, welche Stellen mir auffallen und welche Tricks ich finde, um durchzuhalten. Schon lange wollte ich diese Lektüre in meinem Leben wiederholen. Mittlerweile weiß ich auch, wie schnell drei Jahrzehnte vergehen und ich kann nicht davon ausgehen, noch einmal so viel Zeit zu haben, so hoch liegt das Durchschnittsalter bei Männern in Deutschland nicht.
Vor ein paar Monaten ist mir in einem öffentlichen Bücherschrank, in denen Leser ihre alten Bücher verschenken, eine „Neue Jerusalemer Bibel“ ins Auge gefallen und ich habe sie etwas gerührt mitgenommen. Durch die gleiche Ausgabe habe ich mich damals durchgeschlagen und war froh, als die letzte Seite umgeblättert war und die bunten Karten auf der Innenseite des Buchdeckels auftauchten. Die in der Neuen Jerusalemer Bibel enthaltenen wissenschaftlichen und dennoch gut verständlichen Kommentare habe ich besonders gemocht. Wegegeben habe ich mein Exemplar trotzdem, wozu sollte ich es noch einmal brauchen, die Prüfungen waren geschrieben. Ich erinnere mich noch die körperliche Erleichterung als ich den kiloschweren Band nicht mehr in meiner Hand spürte und an die innere, die damit einher ging.
Man liest du mit dem Herzen gut
Exegetische Fragen plagen mich heute nicht mehr, viele andere aber sehr wohl. Wenn ich sonntags die Lesungen und das Evangelium höre, kommen mir diese Lebensfragen in der Bibel gut aufgehoben vor, obwohl oder weil sie so ein widerborstiges Buch ist, widersprüchlich und abgründig, selbst in den zur Verkündigung ausgewählten Stellen, die vieles weglassen. Jeder Vers fordert zu unzähligen Deutungen heraus. So oft sie auch bestens begründet sind, schlau und oft brillant, mich haben sie oft davon abgelenkt, mich vom Text wie von einem Strom treffen, treiben und auch tragen zu lassen.
Ein Gedanke des Philosophen und Märchenforschers Franz Vonessen lautet: Nicht du deutest das Märchen, das Märchen deutet dich und der Gedanke lässt sich auch auf die Bibel übertragen. Du liest dich darin selbst, lernst dich kennen, musst darauf antworten und kannst das niemand anders überlassen. Nicht einmal den scharfsinnigsten Theologen, selbst wenn sie als Schwimmhilfe im Strom der heiligen Wörter unentbehrlich sind. Wenn´s um wichtige Angelegenheiten geht, sieht man nicht nur mit dem Herzen gut, man liest auch nur mit dem Herzen gut, selbst wenn der Kopf dazu unentbehrlich ist. Und jetzt geht´s los: Genesis 1. Eine symbolische Woche braucht Gott, um uns Menschen auf die Erde zu stellen. Und in einer Woche muss mir dazu etwas einfallen.
(Alois Bierl, Chefreporter Sankt Michaelsbund)