Unterwegs mit Peter Tauber
Das erste Statement setzt Peter Tauber, ohne auch nur ein Wort gesagt zu haben. Ich warte am vereinbarten Treffpunkt – mittags am „Blockhaus“, einer Ausflugsgaststätte im Wald –, und die Kirchturmuhr unten im Tal ist noch nicht ganz fertig mit den zwölf Schlägen, da kommt er um die Ecke. Auf die Sekunde genau, könnte man anerkennend sagen, auch wenn er nicht weit hierher hatte: Er wohnt gleich unterhalb, in der Barbarossastadt Gelnhausen im hessischen Kinzigtal. Auf den waldigen Höhen der hiesigen Mittelgebirgslandschaft wollen wir gemeinsam wandern – und über Gott und die Welt reden.
Wie immer darf mein Gesprächspartner die Route aussuchen, und Tauber
hat sich für eine Strecke entschieden, die zu den sogenannten „Vier
Fichten“ im Büdinger Wald führt – acht Kilometer hin, acht wieder
zurück. Er hat hier schon unzählige Waldläufe absolviert und ist mit
dem Mountainbike gefahren, doch gewandert ist er die Tour noch nie. Und
so ziehen wir bei strahlendem Herbstwetter los und finden über das
Thema Sport schnell den Weg in die Politik. „Am meisten bin ich
gelaufen, wenn’s beruflich heftig war“, erzählt der drahtige 49-Jährige,
der für die Christdemokraten zwölf Jahre Bundestagsabgeordneter, gut
vier Jahre Generalsekretär und drei Jahre Parlamentarischer
Staatssekretär im Verteidigungsministerium war. Aus der Politik zog er
sich 2021 zurück, nachdem er mehrmals schwer erkrankt war. Bevor die
gesundheitlichen Probleme auftraten, stemmte er ein gewaltiges
berufliches Pensum und rannte bis zu 2.500 Kilometer im Jahr, manchmal
sogar mit zwei 10-Kilometer-Läufen an einem einzigen Tag, einem morgens,
einem abends.
„Ich habe wohl keine gute Selbstfürsorge gehabt“, resümiert Tauber mit Blick auf die intensiven Zeiten als CDU-Generalsekretär. „Rund fünf Stunden Schlaf pro Nacht habe ich bekommen“, erinnert er sich, „und jahrelang nicht geträumt“. Doch hadern will er nicht: „Alles hat seine Zeit“, sagt er gelassen, und seine Zeit in der Spitzenpolitik mit allem Schönen und Schwierigen sei nun eben vorbei. Schmunzeln muss ich, als er erzählt, dass er in der Politik „ein gutes Zeitmanagement gelernt“ habe – daran kann angesichts seines sekundengenauen Erscheinens zu unserem Treffen in der Tat kein Zweifel bestehen ...
Wie hart es in der Politik manchmal zugeht, deutet Tauber an, wenn er
erzählt, dass es dort „nicht um Konsens“, sondern aus Prinzip „um
größtmögliche Abgrenzung“ voneinander gehe – auch in der eigenen Partei.
„Selbst wenn ich übers Wasser gehen würde, käme trotzdem noch die
Kritik aus den eigenen Reihen, warum ich nicht auf den Händen übers
Wasser ginge.“ Dennoch habe er sich als überzeugter evangelischer Christ
in diesem oft unerbittlichen beruflichen Umfeld nicht fehl am Platz
gefühlt. Der Glaube habe ihm nicht nur Geborgenheit und Sicherheit
geschenkt, er habe ihn auch Demut gelehrt.
Wie erlebt er die zuletzt vielfach beschriebene Spaltung der Gesellschaft? „Ach, die kann man auch herbeireden!“ In der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland habe es oft knappe Richtungsentscheidungen zwischen zwei grundverschiedenen politischen Lagern gegeben, und er betont: „In der Demokratie braucht es keine größtmögliche Übereinstimmung. Was es braucht, ist, dass die Minderheit akzeptiert, dass die Mehrheit entscheidet.“ Sorgen bereitet Tauber eher eine „Verengung der Diskussion“, die er in Deutschland immer öfter feststellt: Positionen, die außerhalb des Mainstreams lägen, würden zu oft als radikal diskreditiert. Zudem habe sich die Politik vielleicht zu sehr auf Wirtschaftswachstum und Wohlstand konzentriert und Fragen der Identität und des Zusammenhalts – beispielsweise in den Bereichen Migration und Integration – vernachlässigt. Über die erstarkenden populistischen bis extremen Kräfte möchte er lieber gar nicht so viel reden und antwortet auf die Frage, was man gegen diese tun könne, ganz lapidar: „Gute Politik!“
Während wir auf das Ziel und den Wendepunkt unserer Wanderung – die
Vier Fichten – zustreben, wird mir immer klarer, dass sich mein
Gesprächspartner kaum mahnend oder warnend äußert, sondern lieber
konstruktiv die Zukunft in den Blick nimmt. Selbst als ich ihn auf die
großen Krisen unserer Zeit anspreche, sagt er: „Es gibt keinen Anlass,
nicht optimistisch zu sein.“ Und er erinnert daran, unter welchen Bedingungen unsere Eltern und Großeltern nach dem Zweiten Weltkrieg die
Ärmel hochkrempeln mussten: „Wenn die so verzagt gewesen wären, wie wir
das heute oft erleben, würden wir jetzt noch in Trümmern sitzen.“
Kein Zweifel, Peter Tauber hat noch immer viele Ideen und auch die Ambition, sich in der Öffentlichkeit einzubringen. Das zeigt sich nicht zuletzt in der Vielfalt seiner aktuellen Tätigkeiten, etwa als Geschäftsführer des Deutschen Unternehmensverbands Vermögensberatung, als Gründer einer Beratungsagentur, als Mitglied im Vorstand der Konrad-Adenauer-Stiftung, als Buchautor, Vortragsredner und Verfasser von publizistischen Beiträgen, als Habilitand mit Lehrauftrag an der Universität der Bundeswehr München, als Major der Reserve, als Betreiber eines Laufpodcasts, als Mitglied der Landessynode der Evangelischen Landeskirche Kurhessen-Waldeck und als Mitglied im Beirat des evangelischen Militärbischofs.
Was den Glauben anbelangt, lässt Tauber keinen Zweifel daran, dass er
„gern evangelisch“ und „ein großer Fan von Luther“ ist. Und gerade weil
er sich seiner Kirche so verbunden fühlt, reibt er sich hin und wieder
auch an ihr. Wenn er etwa das Gefühl hat, dass diese zu belehrend ins
Leben der Gläubigen eingreift und es mit allzu säkularen
Verhaltensempfehlungen in Sachen Ernährung und Klimaschutz übertreibt,
rückt er lieber das Wesentliche in den Fokus: „Der Auftrag der Kirche
ist doch seit 2.000 Jahren klar: die Frohe Botschaft verkünden und die
Menschen begleiten“.
Wie denn sein Verhältnis zur
katholischen Kirche sei, würde mich interessieren. „Entspannt“, sagt
Tauber und lächelt vielsagend. Was er an ihr schätze, sei ihr globaler
Blick, eine gewisse unerschütterliche Gelassenheit, aber auch rituelle
Formen im Gottesdienst. Kürzlich habe er sich dabei „ertappt“, dass er
Weihrauch eigentlich doch ganz toll finde – „das hat was“. In der
Benediktinerabtei Münsterschwarzach hat er kürzlich in Einzelexerzitien
der Theologie Meister Eckharts nachgespürt, fühlt sich „dem Mystischen
zugeneigt“ und schaut manchmal heute noch übers Internet der Messfeier
der Mönche zu. Ein aufrechter Protestant bleibt er bei alledem dennoch
und verrät augenzwinkernd, wie er bisweilen Flagge zeigt, wenn er mit
allzu selbstsicheren Katholiken zu tun hat: „Wenn mir was sehr
katholisch vorkommt, sage ich, dass ich evangelisch bin, damit sie
dieses Widerständige spüren müssen!“
Während wir auf dem
Rückweg immer tiefer in Glaubensfragen einsteigen, über
Christusnachfolge, Abendmahlsgemeinschaft und die Spannung zwischen
individueller und gemeinschaftlicher Religiosität diskutieren, nähern
wir uns nicht nur dem Ende unserer Wanderung, sondern auch dem
persönlichsten Teil unseres Gesprächs. Peter Tauber erzählt mir von
seinen Eltern, die er beide in diesem Jahr verloren hat, und vom Gebet
am Sterbebett seines Vaters. Zufällig erreichen wir in diesem Moment den
„Neuen Schulfestplatz“ – eine Waldlichtung, auf der im Frühjahr die
Gelnhäuser Waldpartien stattfinden, fröhliche Feste für Jung und Alt.
Wir bleiben stehen und halten inne. Kein Mensch ist außer uns hier, nur
Vogelgezwitscher ist zu hören. Und die Spitzenpolitik ist in diesem
Augenblick ganz weit weg.
(Joachim Burghardt, Redakteur der Münchner Kirchenzeitung)
Nach seinem Erfolgsbuch „Du musst kein Held sein“, in dem er auf seine Zeit in der Spitzenpolitik, aber auch auf seine schwere Erkrankung zurückschaut, ist Peter Tauber dieses Jahr erneut als Buchautor in Erscheinung getreten.
„Mutmacher – Was uns endlich wieder nach vorne schauen lässt“ heißt sein neues Werk, in dem er über zwölf „Mutmacherinnen und Mutmacher“ und ihre wahren Lebensgeschichten schreibt – Persönlichkeiten aus seinem Umfeld, die sich auf je eigene Weise durch besonderes Engagement, Zivilcourage oder eben Mut hevorgetan haben.
Es sind keine Berühmtheiten, keine Superstars, sondern eher „Helden des Alltags“ – zunächst einmal ganz normale Frauen und Männer, die dann aber doch infolge einer Krankheit, eines Unfalls, eines Zufalls oder auch einer Begegnung mit anderen Menschen einen Weg einschlagen (oder einschlagen müssen), mit dem sie selbst nicht gerechnet hätten. Konfrontiert mit großen Schwierigkeiten, lassen sie den Kopf nicht hängen, sondern mobilisieren enorme Kräfte und packen an.
An diesem Punkt des Sich-Aufraffens könnte jede der zwölf Geschichten enden. Doch es geht in diesem Buch um mehr: Der Autor will nicht nur Lebensschicksale er-zählen, sondern zeigen, wie die zwölf Mutmacher durch ihren Mut auch andere inspirieren und motivieren; wie sie hineinwirken, ja ausstrahlen in eine Gesellschaft, die immer häufiger so wirkt, als sei sie von nicht enden wollenden Krisen und düsteren Zukunftsprognosen regelrecht gelähmt. Das Credo von Peter Tauber ist: Wir alle kennen Menschen wie diese. Wir alle dürfen uns mitreißen und anstecken lassen von ihrem Lebenswillen und ihrer Tatkraft. Ja, mehr noch, auch wir selbst können für andere zu Mutmachern werden.
Sie ist, um es gleich vorweg zu sagen, keine einfache Persönlichkeit – und das ist durchaus als Kompliment gemeint. Denn als Ordensfrau und Buchautorin, Theologin und Philosophin, Seelsorgerin und Mutmacherin, Beraterin und Vortragsrednerin, Podcasterin und – wie sie es selbst zusammenfasst – Mundwerkerin tritt Melanie Wolfers gleich mit einer ganzen Palette von anspruchsvollen Tätigkeiten in Erscheinung.
Auf meine Bitte, sich für unsere Begegnung in München einen Ort auszusuchen, der ihr etwas bedeutet und sich für ein Gespräch über Gott und die Welt eignet, wählt Wolfers nicht etwa eine Kirche aus, sondern den Eisbach im Englischen Garten. Als es dann so weit ist und wir unweit von der berühmten Surferwelle miteinander ins Gespräch kommen, wird schnell klar, dass das eine gute Wahl war: Der Spaziergang am kraftvoll dahinströmenden Wasser ist ein stimmiger Rahmen für die Themen, die wir besprechen werden.
Leidenschaft für Praktisches und Konkretes
Melanie Wolfers, die das einzige katholische Kind in ihrer Schulklasse in Flensburg war, hat vier Jahre in München verbracht. Sie studierte dort Philosophie und Theologie, arbeitete als Hochschul-Seelsorgerin – und, wie sie mir lachend verrät, hüpfte im Sommer gern in den Eisbach, um sich vom Wasser treiben zu lassen. Dann aber entschloss sie sich, dem Orden der Salvatorianerinnen in Österreich beizutreten, und lebt seither in Wien. Aus ihrem Herzensanliegen, sich „den großen Fragen des Lebens zu stellen“ und den Menschen zu helfen, „kraftvoller, freier, beziehungsreicher zu leben“, gingen in den vergangenen Jahren neben Vorträgen und Zeitschriftenkolumnen auch mehrere erfolgreiche Bücher hervor.
Während wir dem Lauf des Eisbachs in den Park hinein folgen, frage ich, wie die vielfältigen publizistischen Ambitionen mit dem Ordensleben zusammenpassen. Wolfers klärt mich auf, dass die Salvatorianerinnen kein kontemplativer Orden sind und auch nicht in Klausur leben. Und sie findet, dass das, was sie tut, sogar sehr gut zur Weisung des Ordensgründers passt, das Wort Gottes „von den Kanzeln der Welt“ aus zu verkünden. Das dafür unerlässliche Werkzeug der Sprache beherrscht die Theologin souverän, sie weiß sich mal akademisch, mal in der zwanglos-saloppen Sprache des Alltags auszudrücken. Immer spürt man dabei ihre Leidenschaft für Lebensthemen, für Praktisches statt Theoretisches, für Konkretes statt Abstraktes.
Wolfers weiß, dass sie viele Leserinnen und Leser hat, die nicht gläubig sind – sie ist ganz bewusst in nicht kirchlichen Milieus unterwegs und trifft dort, wie sie sagt, auf „viele Menschen mit spirituellem Bedürfnis“. Auf theologisches Vokabular verzichtet sie weitgehend – und äußert sich auch generell nur ungern über Kirchenthemen, weil sie, wie sie mit einem schmerzlichen Lächeln sagt, „ihre Energie konstruktiv einsetzen will“. „Ich leide an meiner Kirche“, räumt sie ein, und es braucht nicht viel Fantasie, um zu verstehen, dass sie den permanenten Windmühlenkampf gegen eine männlich und klerikal dominierte Amtskirche nicht für aussichtsreich hält.
Kirche als Halt und spiritueller Schatz
Was bedeutet ihr eigentlich der Katholizismus? Sie lässt keinen Zweifel: „Ich bin eine katholische Ordensfrau.“ Und bekennt, dass die Kirche ihr viel Halt gebe und einen „unglaublichen spirituellen Schatz“ durch die Zeit trage. „Aber dann“, und an dieser Stelle geht sie gedanklich von ihren katholischen Grundlagen in die offene Lebenswirklichkeit der Menschen hinaus, „weitet es sich sofort!“ Und kritisiert das traditionelle kirchliche, oftmals konfessionell eingeengte Denken und Sprechen.
Auf die Frage, wie wir denn von Gott reden können, antwortet Wolfers mit besonders eindringlicher Stimme und kraftvollen Gesten: Wir müssten „neue Worte finden“, eine „bildreiche Sprache“ verwenden, die „von vielen geprägt und aus der Lebensrealität vieler Menschen gespeist“ sei. Formelhafte Dogmen seien „geronnene Glaubenserfahrungen“ und als solche nicht Ursprung, sondern Ausdruck des Glaubens, sie müssten „wieder flüssig gemacht werden“. Die Heilige Dreifaltigkeit etwa würde sie weniger von theoretischen Überlegungen her, sondern lieber aus der Lebenserfahrung zu erklären versuchen: den Vater aus dem Gespür, dass die Welt in der Tiefe gut und sinnhaft ist, den Sohn aus der Begegnung im Mitmenschen, den Heiligen Geist aus der inneren Stimme des Gewissens.
Suche nach neuen Möglichkeiten
Bei alledem strahlt die Salvatorianerin viel Humor, Tatendrang, Selbstsicherheit und Zuversicht aus. Letztere ist auch ihr großes aktuelles Thema, das sie im Buch „Zuversicht – Die Kraft, die an das Morgen glaubt“ beleuchtet. Sie grenzt sich darin von einem „naiven Optimismus“ ab, der Negatives ausblendet, und wirbt dafür, trotz der eigenen Brüche im Lebenslauf und des unvermeidlichen Leids der Welt Mut zu fassen und auf die Suche nach neuen Möglichkeiten zu gehen.
Am Ende unseres Spaziergangs ist mir einiges klarer geworden. In den vielen Facetten ihres Wirkens singt Melanie Wolfers letztlich ein Loblied auf das Leben – kein romantisierendes Loblied, sondern eines, das die Härten der menschlichen Existenz im Blick behält und von einer unerschrockenen Kampfeslust gegen das Aufgeben geprägt ist. Und dann sind da zwei Sätze, die mir nicht aus dem Kopf gehen wollen: „Christsein geht nur ökumenisch“, sagte sie an einer Stelle, und „weltabgewandt passt nicht zum Christentum“. Dass mir ausgerechnet eine katholische Ordensfrau diese beiden Gedanken mitgeben würde – damit hatte ich nicht gerechnet.
(Joachim Burghardt, Redakteur der Münchner Kirchenzeitung)
Normalerweise habe ich eine Liste mit vorbereiteten Fragen dabei, wenn ich mich für unsere Reihe „Über Gott und die Welt“ mit einer Persönlichkeit treffe. Nicht so bei Beatrice von Weizsäcker. Ich hatte gerade ihr Buch „Haltepunkte. Gott ist seltsam, und das ist gut“ gelesen und war vom unkonventionellen Schreibstil derart beeindruckt, dass schnell klar war: Das wird anders. Kein gewöhnliches Interview, kein Abarbeiten von Fragen, sondern einfach Begegnung. Und schauen, was passiert. Als Ort für unser Gespräch wünschte sich die Autorin das Benediktinerkloster St. Ottilien in der schönen Ammersee-Gegend, das sie erst vor wenigen Jahren im Zuge von Exerzitien für sich entdeckt hat.
Ein Buch, das aus der Reihe tanzt
Bei der gemeinsamen Fahrt dorthin sprechen wir über ihr Buch, das sie mit dem befreundeten evangelischen Münchner Pastor Norbert Roth geschrieben hat. Es ist ein persönliches Glaubensbuch, in dem von Weizsäcker existenzielle Fragen und Nöte aus dem unmittelbaren eigenen Erleben heraus ins Wort bringt. „Eine Mischung aus Suchen und Ahnen“ nennt sie ihre Herangehensweise. Es sind keine zurechtgeschliffenen theologischen Thesen, sondern eher intuitive Gedanken, die sich wie im natürlichen Fluss aneinanderreihen – und berühren.
Wenn von Weizsäcker beschreibt, wie ihr beim Spaziergang durch St. Ottilien die Unergründlichkeit der Dinge klar wird, liest sich das zum Beispiel so: „Schritt – Atemzug – Gegenwart. Einatmen, lauschen. Ausatmen, staunen. Nichts müssen. Nichts wollen. Nichts wollen müssen. Nichts müssen wollen. Nichts wissen wollen, nichts wissen müssen. Nichts ergründen, nichts verstehen, schon gar nicht mich selbst. Nicht mehr reden. Nichts mehr denken. Nur schweigen, spüren, hören. Einatmen – ausatmen – aufatmen. Und sich beten lassen.“
Ereignisreicher Lebenslauf
Die ausgebildete Juristin hat viel zu erzählen, allein schon aus ihrem ereignisreichen Leben. Nach einer Kindheit und Jugendzeit „in völliger geistiger Freiheit“ in prominentem Elternhaus – ihr Vater Richard war von 1984 bis 1994 Bundespräsident – gelangte sie über berufliche Stationen im Bonner und Berliner Politik- und Medienbetrieb nach München, wo sie sesshaft geworden ist. Zwei Brüder hat sie verloren: Andreas starb 2008 an Krebs, Fritz wurde 2019 ermordet. Sie war zwölf Jahre lang Mitglied im Präsidium des Deutschen Evangelischen Kirchentags – und konvertierte 2020 zum Katholizismus.
In St. Ottilien steuern wir als Erstes die Klosterkirche an, wo von Weizsäcker im Vorraum zwei Kerzen für ihre Brüder anzündet. Dann erkunden wir in aller Ruhe die Kirche, wo mir meine Gesprächspartnerin flüsternd verrät, wie sehr sie es schätzt, dass am Hochaltar der auferstandene und nicht der gekreuzigte Christus die auffälligere Darstellung ist. In der Unterkirche halten wir vor einer Marienfigur inne. „Ich bin ein großer Mary-Fan“, sagt von Weizsäcker lächelnd. Dass sie den englischen Namen verwendet, drückt eine Art zärtlicher Verehrung aus. „An Maria ist so faszinierend, dass sie Ja gesagt hat. Sie hatte die Wahl. Und sie hat in freudiger Erregung, nicht aus Gehorsam Ja gesagt. In einem Vertrauen, von dem man noch nicht weiß, wohin es einen führt.“
Unverkrampfte Annäherung an Gott
Als wir dann durchs Klosterdorf und mit Alpenblick durch die umliegende Herbstlandschaft spazieren, kristallisieren sich im Gespräch zwei Dimensionen in Beatrice von Weizsäckers Spiritualität heraus. Das eine ist ein – auch sprachlich – unverkrampfter Umgang auf Augen-höhe mit dem Göttlichen: „Ich finde es so cool an Gott, dass er ein Geheimnis ist“, sagt sie an einer Stelle. Und an einer anderen, mit Blick auf die Zumutungen des menschlichen Lebens: „Das Gute an Jesus ist: Er kennt ja den ganzen Mist.“ Freimütig räumt sie auch ein, dass sie hin und wieder mit Jesus schimpft. Und weiß heute noch nicht so genau, warum sie 2019, als sie vom gewaltsamen Tod ihres Bruders Fritz schlimm getroffen war, „nicht mit Gott Schluss gemacht habe“.
Die andere Dimension ist die Unergründbarkeit Gottes, die von Weizsäcker tief fasziniert. Nicht zufällig hat sie ihrem Buch den Augustinus-Spruch „Was du begreifst, ist nicht Gott“ wie ein Motto vorangestellt. Und kreist immer wieder suchend, ahnend, um die unfassbare göttliche Wirklichkeit – „ein Geschenk, das man nie ganz auspacken kann“.
Mystische Glaubenserfahrung
Dass sie erst kürzlich, nach langen Jahren des Engagements beim Evangelischen Kirchentag, katholisch geworden ist, ist freilich interessant, und auch, dass sie die starke Gemeinschaft in ihrer Münchner Pfarrei Christkönig, die Sinnlichkeit in der Liturgie und die Rituale als ihre katholischen Zugewinne nennt. Aber spannender noch finde ich die mystische – und vielleicht überkonfessionelle – Glaubenserfahrung, die sich aus ihren Worten nachvollziehen lässt. Mit Gott wie mit einem alten Freund auf Du und Du sein, dann wieder angesichts des größten aller Geheimnisse stammelnd um Worte ringen; von Schicksalsschlägen schwer verwundet werden, dann wieder energisch, aufrecht und heiter durchs Leben gehen – es ist ein intensives Glaubensleben, voller Fragen und voller Staunen.
(Joachim Burghardt, Redakteur der Münchner Kirchenzeitung)