Das Vaterunser hörbar machen
Gotthilf Fischer, Cliff Richard und Wolfgang Amadeus Mozart – wenn man diese Aufzählung von Musikern liest, würde man sicherlich nicht vermuten, dass ausgerechnet Mozart derjenige unter ihnen ist, der nie das Vaterunser vertont hat. Damit steht er aber nicht allein da. Auch von Händel, Beethoven oder sogar Bach fehlen Vertonungen über dieses zentrale Gebet der Christenheit. Bach vertonte lediglich die von Martin Luther nach dem „Tischsegen des Mönchs von Salzburg“ verfasste Melodie ohne Text in seinen Choralvorspielen für Tasteninstrumente. Daneben verwendete er die Melodie in einigen Kantaten, dort jedoch mit einem anderen Text. Dass viele namhafte Komponisten nie das Gebet vertont haben, lag einerseits daran, dass es kein Teil der katholischen Messvertonung war, aber auch die aufkommende Säkularisierung und der damit verbundene Wechsel der Auftraggeber für Kompositionen können als Gründe gesehen werden. Dennoch gibt es eine Reihe namhafter Komponisten, die sich dieses Gebets angenommen und es in sehr unterschiedlicher Weise vertont haben.
Ohne nachweisliche Autorenschaft ist das wohl jedem Katholiken bestens
vertraute Pater Noster in seiner gregorianischen, einstimmigen Form,
welches in den Gottesdiensten gesungen wird. Die aus dem Mittelalter
stammende Melodie inspirierte viele Musiker der Renaissance, diese in
ihre eigenen Werke aufzunehmen. Ein prominentes Beispiel hierfür ist
Giovanni Pierluigi da Palestrina, der eine allgemein verbreitete
Technik einsetze, um eine bestehende Melodie zu verarbeiten. Hierzu
wurde die Melodie in einzelne musikalische Sinneinheiten aufgeteilt und
in der Art eines Kanons nacheinander durch jede Stimme geführt,
während die Gegenstimmen frei fortfließende Tonfolgen dagegenstellten,
um so ein kunstvolles Gewebe entstehen zu lassen. Durch das zeitlich
versetzte Erscheinen der Melodiefloskel konnte der Zuhörer die bekannte
Tonfolge immer wieder hören und so der Komposition folgen. Palestrinas
Motette Pater Noster für fünf Stimmen a cappella ist ein Beispiel
hierfür.
Ein Komponist, der den Text des Vaterunsers minutiös
ausgedeutet hat, ist der in der Zeit des Dreißigjährigen Krieges lebende
Heinrich Schütz. Er vertonte das Gebet mehrfach auf Latein sowie auf Deutsch. In seinen Symphoniae sacrae III, einer Sammlung geistlicher
Konzerte, findet sich ein Vaterunser, das in einem Viervierteltakt
beginnt. Zunächst werden die bekannten Anrufungen und Bitten des Gebets vorgetragen. Gelangt die Komposition zur Doxologie, also dem Schlussteil des Vaterunsers,
in dem die Allmacht und die Größe Gottes besungen werden, wechselt
Schütz in einen Dreiertakt über. Die Zahl 3 galt als die göttliche Zahl,
hergeleitet aus der Trinität Gottes; die Zahl 4 hingegen stand für die
menschliche Welt, da Menschen vier Extremitäten besitzen oder das
menschliche Leben durch vier Himmelsrichtungen oder vier Jahreszeiten
bestimmt wird. So ist es klar, dass die irdischen Belange der Menschen
in diesem Metrum vertont wurden, während der Schluss des Gebets in
einem göttlichen Metrum erstrahlt.
In seiner zweiten
Vaterunser-Vertonung, die in den Zwölf geistlichen Gesängen zu finden
ist, verwendet Schütz bildhafte Symbole, die den Inhalt des Textes
verdeutlichen sollen. Er lässt beispielsweise zwei Melodien
gegeneinanderlaufen, indem sich eine Stimme aufwärts und die andere
Stimme abwärts bewegt. Auf diese Weise entsteht in den Noten ein Kreuz,
ein sogenannter Chiasmus, das Schütz sinnausdeutend auf dem zentralen
Wort „geheilget“ einsetzt.
Eine solche Kreuzsymbolik kann auch in
einer einzelnen Stimme entstehen, indem man in einer Viertonfolge
jeweils den ersten und letzten sowie den zweiten und dritten Ton
miteinander verbindet: Die Anordnung der vier Töne ergibt auch ein
Kreuzsymbol, das hier stellvertretend für Jesus Christus gebraucht wird,
der auf die Erde zurückkehren wird, um sein Reich zu etablieren.
Eine weitere sehr interessante Textauslegung benutzt der Komponist bei
der Zeile „und vergib uns unser Schuld“. Die Kompositionsregeln der Zeit
gaben vor, dass das Verhältnis von benachbarten Notenwerten 1:2
entsprach, was in den meisten Fällen eingehalten oder nur geringfügig
erweitert wurde. Dass Schütz ausgerechnet bei dieser Textzeile auf eine
Achtelnote eine punktierte Halbenote, also eine Note bestehend aus sechs Achteln, folgen ließ, bedeutet, dass Gott diesen Regelverstoß vergeben
möge. Solche und noch viele weitere textausdeutende Symbole,
musikalische Motive und Floskeln kann man bei Schütz in fast jedem Wort
und Satzteil finden.
Einen weniger kleinteiligen Ansatz verfolgte der
unter anderem in München tätige Komponist Max Reger. Sein Vaterunser
vertone er für zwölf Stimmen a cappella, die sich auf drei Chöre
aufteilen. Leider bricht die Komposition in der Schlussfuge ab und wurde
von Reger nie vollendet. Erst sein Schüler Karl Hasse komplettierte das
Werk, eine Praxis, die durch Franz Xaver Süßmayrs Vervollständigung
des Mozart Requiems bekannt sein dürfte. Reger, der sich selbst als
katholisch bis in die Fingerspitzen charakterisierte, besaß eine große
Vorliebe für den protestantischen Choral. So ist es nicht
verwunderlich, dass in dem Vaterunser der Choral „Jesus, meine
Zuversicht“ auf die Textzeile „sondern erlöse uns von dem Übel“ eingearbeitet wurde. Dass der Choral die Auferstehung Jesu und die
eigene Zuversicht auf ein göttliches Leben thematisiert, erklärt die
Einbindung des Chorals in die Komposition. Die weiteren Gebetszeilen vertont Reger in jeweils individuellen Klangfarben und
Kompositionstechniken. Dabei versucht er nicht, jedes Wort in Musik zu
verwandeln, sondern nimmt die Stimmung und den Charakter jeder einzelnen Gebetsphrase auf und kreiert dazu ein Klangbild, das diesem Textteil
entspricht. Leise und flehentlich bittenden Passagen folgen
majestätische Chorblöcke, die sich wiederum mit dicht verwobenen
echoartigen oder imitatorischen Klanggebilden abwechseln. Reger selbst
sieht seine Komposition „rein menschlich als Bittender“, der sich
intensiv zu Gott wendet und ihn anbetet. Dieses macht Reger auch gleich
zu Beginn seines Werks deutlich, indem er jeder Stimme die Anweisung
„espressivo“ beifügt und bereits in den ersten fünf Takten fast das
gesamte dynamische Klangspektrum von ppp bis ff ausnutzt.
Neben
diesen reinen Chorwerken haben sich auch Komponisten wie Leonard
Bernstein, Franz Liszt, Igor Strawinsky oder Giuseppe Verdi des
Vaterunsers angenommen und es in symphonische Orchesterwerke eingearbeitet, die es ebenfalls wert sind, entdeckt und gehört
zu werden. Man kann aber auch zu Hanne Haller oder den Beach Boys
greifen, die ebenfalls Interpretationen dieses Gebets zur reichhaltigen Musikpalette beigesteuert haben.
(Nico Schneidereit, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Professur für Musikwissenschaft
an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt (KU))