Bibel im 21. Jahrhundert
„Wie lese ich die Bibel mit den Augen des 21. Jahrhunderts?“ – Dieser
Frage geht die MK nach. Von der Arche Noah bis zum Jüngsten Gericht
greift sie heiße Eisen der Heiligen Schrift auf und erläutert sie
interessierten Gläubigen von heute.
Mit dem Tod Jesu ist für seine Jüngerinnen und Jünger die Welt zusammengebrochen. Mit dem gewaltsamen Tod am Kreuz scheint die Sendung Jesu geendet zu haben. Es bleiben Trauer und Furcht. Damit aber enden die Evangelien nicht: Am ersten Tag der Woche finden Frauen das Grab Jesu leer; der Herr ist auferstanden.
Eine ganz besondere Komposition zur Auferstehung Jesu findet sich im Markusevangelium. Der Evangelist berichtet von drei Frauen, die am Ostersonntag zum Grab Jesu gehen, um die Salbung nachzuholen. Sie finden das Grab geöffnet; Jesus liegt nicht mehr im Grab. Stattdessen verkündet ein Engel die Auferstehung: „Erschreckt nicht! Ihr sucht Jesus von Nazaret, den Gekreuzigten. Er ist auferstanden; er ist nicht hier.“ (Mk 16,6) Die Frauen sollen die Botschaft verbreiten, den Jüngern und Petrus Bescheid geben. Doch ganz anders reagieren die Frauen: „Da verließen sie das Grab und flohen; denn Schrecken und Entsetzen hatte sie gepackt. Und sie sagten niemandem etwas davon; denn sie fürchteten sich“ (Mk 16,8).
Im Anschluss (vgl. Mk 16,9–20) bietet das Evangelium eine Zusammenfassung der Erscheinungsberichte, die andere Evangelisten ausführlich überliefern. An dieser Stelle nun gibt es aber ein Problem mit dem Textbestand: Die ältesten Handschriften enden mit Vers 8 und damit mit dem Entsetzen der Frauen. Erst jüngere Handschriften überliefern dann auch die folgenden Verse. Wenn verschiedene Handschriften unterschiedliche Textversionen bieten, stellt sich immer die Frage nach dem ursprünglichen Text. So auch beim Markusevangelium: Welche Variante ist die originale – die kürzere, die mit der Angst endet, oder die längere?
Einerseits spricht vieles dafür, dass die kürzere Variante eines Textes die ursprüngliche ist. An einem Text, der bereits als heilig verstanden wird, nehmen spätere Redaktoren selten Kürzungen vor. Eher fügen sie noch weitere Abschnitte hinzu. Ein zweites Kriterium ist inhaltlicher Art. Es spricht vieles dafür, einen schwierigen Text eher noch zu erweitern und zu erläutern, als einen eingängigen Text durch Eingriffe unverständlicher zu machen. Es ist unwahrscheinlich, dass die längere Version des Markusevangeliums in einigen Handschriften gekürzt worden wäre, um den Preis, so das abrupte Ende zu erhalten. Viel wahrscheinlicher ist, dass der ursprüngliche Markustext als unverständlich empfunden wurde. Spätere Redaktoren haben ihn deswegen erweitert.
Ursprünglich endete das Markusevangelium also wohl bereits mit Vers 8. Warum aber sollte das Evangelium mit Angst und Schrecken enden? Einerseits macht der Text ja selbst klar, dass dieser letzte Vers nicht auch das letzte Wort über die Auferstehung sein kann: Hätten die Frauen wirklich niemandem von ihrer Erfahrung berichtet – woher sollte der Evangelist dann darum wissen? Dass die Furcht vor der Auferstehung betont wird, mag auf den ersten Blick verwundern. Doch: Wann immer der Mensch dem Göttlichen begegnet, kann das auch Furcht auslösen. „Fürchte dich nicht“ muss etwa sowohl Maria bei der Verkündigung der Geburt Jesu zugesagt werden (vgl. Lk 1,30) als auch den Hirten auf dem Feld (vgl. Lk 2,10).
Die Jünger, die Jesus über das Wasser gehen sehen, fürchten sich (vgl. Mk 6,50 parr.): Die Begegnung mit Gott und mit der göttlichen Wirkmacht erschüttert den Menschen und stellt vermeintliche Gewissheiten in Frage. Markus hat seinem Evangelium auf diese Weise ein offenes Ende gegeben: Wer den letzten Vers liest, muss eigentlich das Evangelium nochmals von vorne lesen. Und er wird merken: Jesus selbst hat seinen Tod und seine Auferstehung vorhergesagt (vgl. Mk 8,31; 9,9.31; 10,34). Die Begegnung mit dem Auferstandenen wird in das eigene Leben verlagert: Wo begegnet der Leser des Evangeliums der Auferstehung? Auch die Botschaft des Markusevangeliums ist damit, versteckt vielleicht ein wenig durch den literarischen Schluss: Der Herr ist auferstanden; er ist wahrhaft auferstanden!
(Benedikt Bögle, katholischer Theologe und Jurist. Er arbeitet in München als Rechtsreferendar und freier Journalist)
Auferstehung im Neuen Testament
Alle Evangelien berichten von der Auferstehung Jesu. Bei Abweichungen im Detail ist die Grundstruktur gleich: Frauen wollen am Ostersonntag am Grab Jesu die Salbung nachholen, die nach seinem Tod nicht mehr möglich war. Im Anschluss begegnet Jesus – mit Ausnahme der ursprünglichen Textfassung des Markusevangeliums – seinen Jüngern. Die Berichte von der Auferstehung Jesu unterschieden sich in den Evangelien aber auch – so kennt etwa nur Lukas die Begegnung des Auferstandenen mit den Emmausjüngern (vgl. Lk 24,13–35), nur Johannes erzählt von Maria von Magdala, die Jesus für einen Gärtner hält (vgl. Joh 20,11–18) oder vom „ungläubigen“ Thomas (vgl. Joh 20,24–29). Auch der Apostel Paulus berichtet in seinen Briefen von Begegnungen mit dem Auferstandenen (vgl. 1 Kor 15,1–11). Gleichzeitig entwickelt er eine Theologie der Auferstehung (vgl. 1 Kor 15,12–34).
In Großbritannien wird es Anfang Mai wieder so weit sein: Menschenmassen säumen die Straße, schwenken Blumen und bunte Fahnen und warten auf den einen kurzen Blick, den sie auf den königlichen Tross werfen können, und die Welt schaut dabei zu, wie Charles III. durch die Straßen Londons fährt, um in Westminster Abbey zum König gekrönt zu werden. Manche werden dann vielleicht die stille Hoffnung haben: Jetzt brechen wahrlich neue, bessere, Zeiten an. Auch wenn es in Europa heute nur noch wenige Monarchien gibt, ist es dennoch ein bekanntes Verhalten, dass die Menge ihrem König oder ihrer Königin zujubelt.
Eine jubelnde Menschenmenge säumt den Weg
Beim Blick auf den Einzug Jesu in Jerusalem erscheint die Szenerie ähnlich: Eine jubelnde Menschenmenge, die den Weg zur Stadt Jerusalem säumt, ihn mit ihren Kleidern bedeckt. Jesus, der auf einer Eselin durch ihre Mitte reitet. Und wir schauen dabei wie von Ferne zu oder singen am Palmsonntag am Beginn des Gottesdienstes selbst das „Hosanna dem Sohne Davids“ und reihen uns damit ein in die jubelnde Menge. Ob das Volk damals wirklich schon Jesus als den Messias öffentlich ausrief und ob Jesus selbst dies so geplant hatte, lässt sich nur schwer rekonstruieren. Das heißt aber nicht, dass der Einzug in Jerusalem nicht auch eine historische Grundlage hätte. Dass Jesus mit seinen Jüngern zum Paschafest von Galiläa nach Jerusalem zog, ist unbestritten. Damals kamen jährlich etwa 125.000 Pilger in die Stadt (Jerusalem selbst hatte etwa 55.000 Einwohner), manche reisten schon bis zu sechs Tage vorher an. Vermutlich waren Jesus und seine Jünger also Teil eines enormen Pilgerstroms, der in die Stadt drängte. Auch war es damals üblich, den ankommenden Pilgern am Tempeltor Psalm 118,26 zuzurufen: „Gepriesen, wer einzieht im Namen des Herrn“. Nun beginnen allerdings die Pilger selbst – und zwar jene, die vor und hinter Jesus gehen (vgl. Mt 21,9) – diesen Vers Jesus zuzurufen, den sie in der Menge erkennen und den sie vielleicht schon zuhause in Galiläa gehört und gesehen hatten.
Akklamation des Volkes
Die eigentliche Inszenierung der historischen Begebenheit beginnt erst mit den Autoren der Evangelien. Sie wollen mit der Szene unmissverständlich deutlich machen, dass Jesus wirklich der Messias, der König des Volkes Israel, ist. Gerade weil die Ereignisse, die auf den Einzug in Jerusalem folgen, nicht mehr dem entsprechen, was vom Messias erwartet wird: Leiden und schmählicher Tod anstatt die gewaltsame Befreiung von den römischen Besatzern. Daher greifen die Evangelien auf eine Tradition der damaligen Zeit zurück, die Königsakklamation. In der Antike wurde – anders als heute – mit dem Jubel des Volkes nicht nur eine Form der Verehrung des Herrschers verbunden, sondern sogar die Einsetzung eines Regenten fand auf diese Weise durch Akklamation des Volkes statt. Während der republikanischen Zeit Roms (509 – 27 vor Christus) riefen die Heerestruppen einen siegreichen Feldherrn auf diese Weise zum Imperator aus und auch König Herodes Agrippa II. wurde nach seiner Bestellung von der jüdischen Volksmenge mit „Rette uns König! Wir wollen den Römern nicht mehr hörig sein“ in der Stadt Jerusalem begrüßt (50 nach Christus). Da ist es naheliegend, dass der damalige Leser des Evangeliums beim Einzug Jesu in Jerusalem unweigerlich an eine Königsakklamation dachte. Doch diese Inszenierung unterscheidet sich an maßgeblichen Stellen: Jesus fährt nicht in einer prächtigen Kutsche vor oder reitet wie ein militärischer Feldherr auf einem hohen Schlachtross. Er sitzt auf einer Eselin, also tatsächlich auf Augenhöhe der Menschen. Er hat keine militärische Macht gegen die Römer, er ist nicht die Art Messias, auf den das Volk Israel wartet. Er hat allein die scheinbare Ohnmacht des Kreuzes, um die Menschen aus dem Tod zu befreien. Mit dem Einzug dieses Messias in die Stadt Jerusalem brechen wahrlich neue Zeiten an.
(Regina Frey, akademische Rätin a. Z. am Lehrstuhl für Pastoraltheologie der Ludwig-Maximilians Universität München)
Der „Hosanna“-Ruf
Der Ruf „Hosanna“ geht zurück auf Psalm 118,25 – „Ach, HERR, bring doch Rettung!“ – und wird abgeleitet vom hebräischen hošiea na'. Zunächst wird es als Hilferuf an den Herrn verstanden, jedoch wendet sich das Bittgebet zum Jubelruf angesichts der vertrauenden Gewissheit, dass Gott Rettung gewähren wird, und der Psalm endet mit den Worten: „Dankt dem HERRN, denn er ist gut, denn seine Huld währt ewig!“ (Ps 118,29). In dieser Spannung zwischen Hilfe- und Jubelruf steht die Bedeutung des hebräischen Wortes. Im Judentum wurde das Hosanna aus Vers 25 zusammen mit Vers 26 gesungen, wenn an Wallfahrtsfesten die Pilger in den Tempel einzogen. Von daher kommt die enge Verbindung von „Hosanna“ und „Gesegnet sei, der da kommt im Namen des Herrn“, wie in den Evangelien beim Einzug in Jerusalem Jesus von der Menge zugerufen wird. Im Christentum fand das Hosanna rasch Eingang in die Liturgie und wird bis heute besonders in den Antiphonen des Palmsonntags gebetet und gesungen.
Alle haben
gemeinsam, dass die These im Raum steht, dass Jesus nach Karfreitag
weitergelebt habe. Das widerspricht fundamental dem biblischen Befund:
Jesus Christus ist gestorben und auferweckt worden. Er war wirklich und
real tot.
Leben und Tod Jesu waren nur Schein
Ein genauerer Blick: Zwar stellen sich die Evangelien nicht gegen die
These vom Scheintod Jesu. Aber Matthäus und Lukas wollen einige andere
Vorwürfe entkräften. In Mt 27,62–66 verlangen die Pharisäer und
Hohepriester die Bewachung des Grabes Jesu, weil sie den Verdacht haben,
dass seine Jünger den Leichnam stehlen und erzählen könnten, dass er
auferstanden sei. Nach der Auferstehung bestechen die Hohepriester die
Soldaten, dass sie genau diese Geschichte vom Leichendiebstahl
herumerzählen (Mt 28,11–15). Das Lukasevangelium versucht den Vorwurf
einer Geistererscheinung zu entkräften, indem Jesus einen Fisch isst (Lk
24,36–43). Daran ist zu sehen, dass schon in den Evangelien zu
bestimmten Vorwürfen Stellung bezogen wird.
Die These des
Scheintods kommt einige Jahrzehnte später in die Welt. In den ersten
zwei, drei Jahrhunderten gab es viele christliche Gruppen. Eine davon
wird heute unter dem Stichwort Doketismus gesammelt. Die Doketen gingen
davon aus, dass die Menschwerdung Jesu, damit sein Leben und sein Tod,
nicht wirklich waren, sondern nur Schein. Ein doketischer Theologe,
Julius Cassianus, stellt die These auf, dass nicht Jesus, sondern jemand
anderes gekreuzigt worden sei. Basilides, ebenfalls Doket, meint, dass
es Simon von Zyrene gewesen sei. Maßgeblich hier ist die Abwertung des
Leiblichen. Wenn Jesus keinen richtigen Leib haben konnte, konnte er
auch nicht richtig gekreuzigt werden.
Diese Vorstellungswelt
gewinnt 400 Jahre später wieder an Bedeutung: Der Koran nimmt sie auf.
Der Koran hat sehr wenige Aussagen zur Kreuzigung Jesu, die auch noch
sehr unterschiedlich interpretiert werden können. Aber sie gleichen den
doketischen Ansätzen. Wahrscheinlich hatte Mohammed genau mit diesen
christlichen Gruppen in Arabien Kontakt. In den Suren 3 und 4 wird auf
den Tod Jesu Bezug genommen. Im größeren Kontext ist zu beobachten, dass
es hier um eine Abgrenzung gegenüber dem Judentum geht: Die Juden
glauben Jesus nicht und wollen ihn töten; können es aber nicht, weil
Gott davorsteht, so dass die Juden nicht genau wissen, ob sie ihn
getötet haben oder nicht.
Ansatz der Ersatztheorie
Die islamische Theologie geht nun zwei Wege. Der eine nimmt die
doketischen Interpretation in der sogenannten Scheintheorie auf. Sie ist
nicht der Hauptstrang. Jesus ist hier zwar der Gekreuzigte selbst, wird
aber nur zum Schein gekreuzigt. Leiden und Sterben sind Illusion der
Beobachter. Das Eigentliche kann nicht getötet werden (Sure 3).
Der
andere, verbreitetere Ansatz heißt Ersatztheorie: Nicht Jesus ist
gekreuzigt worden, sondern eine andere Person, zum Beispiel Simon von
Zyrene, ein anderer Jünger Jesu oder gar Judas Iskariot. Ziel der
koranischen Interpretationen ist, die Schmach des Verbrechertodes Jesu
zu negieren, weil ein Prophet so nicht sterben kann. Deswegen stirbt der
koranische Jesus eines natürlichen Todes.
Die These vom
Scheintod kommt also immer wieder vor, mit ganz verschiedenen Ansätzen.
Trotzdem ist gerade der Tod Jesu am Kreuz historisch gesehen das
sicherste Faktum in seinem Leben. Und für die Evangelien und die Kirche
ist er darüber hinaus Voraussetzung der Auferstehung und steht außer
Frage.
(Bruder Jens Kusenberg, Kapuziner und Kaplan im Münchner Pfarrverband Isarvorstadt)
Die Sicht des Islam
Der Koran entstand im 7. Jahrhundert.
Man nimmt an, dass christlich-häretische Gruppen in Arabien waren, die
aus dem römischen Reich gedrängt wurden. Sie sind eine Quelle des Koran.
Ein Prophet kann im Islam nicht als Verbrecher, sondern nur als
Märtyrer sterben oder natürlich. Das gilt auch für Jesus.
Erste und letzte Worte bilden einen wichtigen Rahmen. Was sind die ersten Worte der neuen Ministerin? Was sind die letzten Worte des sterbenden Papstes? Erste Worte zeigen eine gewünschte, erhoffte und zugesagte Richtung auf. Letzte Worte schauen auf den Weg zurück, deuten und komprimieren ihn. Waren Goethes letzte Worte wirklich „Mehr Licht!“? Und äußerte er damit einen neuen Erkenntnisstand oder doch nur den Wunsch nach einer weiteren Kerze? Letzte Worte gehören wohl meist auch in den Bereich der Deutung. „Herr, ich liebe dich“ sollen die letzten Worte Benedikts XVI. gewesen sein. Ein einziger Pfleger will sie gehört haben. Ob es so war oder auch nicht: Diese letzten Worte würden zu Benedikt XVI. passen. So kann man sich wohl auch den letzten sieben Worten Jesu am Kreuz nähern. Kein Evangelist berichtet sie im Zusammenhang. Sie sind eine Komposition aus allen vier Evangelien. Und auch wenn sie der Herr so am Kreuz vielleicht nicht gesagt hat, sind sie trotzdem wahr und richtig, weil Jesus Christus mit seiner ganzen Existenz, seiner Haltung und seinem Handeln durch diese Worte aufscheint.
Unter dem Kreuz entsteht Kirche
„Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun!“ (Lk 23,34):
Selbst noch am Kreuz gilt die Aufmerksamkeit und Sorge des Herrn den
Menschen. Die letzten Herzschläge sind von Barmherzigkeit geprägt. Der
zugewandte Heiland wird hier besonders sichtbar. „Amen, ich sage
dir: Heute noch wirst du mit mir im Paradies sein.“ (Lk 23,43):
Begegnung auf Augenhöhe zwischen dem Menschensohn und dem Verbrecher.
Jesus verurteilt nicht. Er zeigt einen neuen Weg auf und verheißt bleibende Gemeinschaft mit ihm.
„Frau,
siehe, dein Sohn! – Siehe, deine Mutter!“ (Joh 19,26f.): Unter dem
Kreuz entsteht Kirche als Gruppe derer, die aus verschiedenen
Perspektiven auf Christus schauen. Unter dem Kreuz entstehen neue
Zugehörigkeit und verwandtschaftliche Beziehung. „Mein Gott, mein Gott,
warum hast du mich verlassen?“ (Mt 27,46 + Mk 15,34): Jesus nimmt hier
ein altes Psalmwort als persönliches Gebet. Er sieht sich ganz in der
Geschichte Israels. Gleichzeitig wird hier die menschliche Dimension
des Gottessohnes erfahrbar, wenn er seine Verzweiflung ausdrückt.
„Mich
dürstet.“ (Joh 19,28): Wiederum wird der Mensch Jesus von Nazareth
ganz sichtbar. Hier leidet wirklich jemand existentielle Not. Er hat
Durst. So wirklich ist das Kreuz. So echt ist die Solidarität Gottes mit
den Menschen. Bis in die Grundbedürfnisse hinein geht der
Menschgewordene mit hinein.
Welche Worte könnten mein Leben zusammenfassen?
„Es ist vollbracht!“ (Joh 19,30): In der Gewissheit des Kommenden
beendet Jesus am Kreuz sein öffentliches Wirken. Er weiß, dass diese
Etappe endet, damit die neue beginnen kann. Der Gekreuzigte muss
sterben, damit der Auferstandene die Macht des Todes brechen kann.
„Vater,
in deine Hände lege ich meinen Geist.“ (Lk 23,46): Wieder ein Psalmwort
aus der Gebetstradition des auserwählten Volkes, zu dem Gott als Erstes
sprach. Letzte Äußerung der Abba-Relation, der Verbindung von Vater und
Sohn, die Jesus gerade in der Stille und auf Bergen in der Einsamkeit
gesucht hat. Auch am Ende seines menschlichen Weges macht er sich hier
erneut fest, um gut loslassen zu können.
(Pfarrer Stefan Maria Huppertz ist Leiter des Pfarrverbands München West)
Kreuzigungen
Die Kreuzigung war eine Art der Hinrichtung,
die in der römischen Antike durgeführt wurde. Römer vollstreckten sie
an Sklaven, Räubern und Aufrührern, aber nie an Bürgern des eigenen
Volks. Das griechische Wort sta.... (stauros) wird im Deutschen mit dem
Begriff „Kreuz“ übersetzt. Es bezeichnete aber erst einmal den
senkrechten Pfahl, der in der Erde befestigt ist. Daran wurde der
Querbalken aufgehängt, an dem der Gekreuzigte mit ausgestreckten Armen
festgebunden und durch die Handwurzel angenagelt wurde. Am Pfahl wurden
die Füße schließlich angebunden und angenagelt. Der Hinzurichtende muss
das Querholz selbst zum Hinrichtungsort tragen. Zudem trug er ein Schild
mit sich, auf dem der Grund der Hinrichtung stand. Um den Gekreuzigten
zu betäuben, gab man ihm Essig mit Weihrauch und Myrrhe. Diese Art der
Hinrichtung war sehr schmerzhaft, grausam und qualvoll. Der Tod trat
langsam durch Durst, Erschöpfung und Kreislaufkollaps ein. Oft dauerte
es mehrere Tage. Durch Konstantin I. wurde die Kreuzigung 337 aus
Respekt gegenüber Jesus Christus verboten.
Ecce homo“ – „Seht, der Mensch“: Diese Worte aus dem Johannesevangelium wurden sprichwörtlich (Joh 19,5). Das Verhör vor Pilatus führt zur Verurteilung Jesu. Er wird erst gegeißelt und verspottet, dann zum Tod am Kreuz verurteilt. Was überliefern die Evangelisten über dieses Verhör?
Die Evangelien schildern die Geschehnisse vom Gründonnerstag bis zum Ostertag weitgehend übereinstimmend, wobei sie im Detail verschiedene Schwerpunkte setzen. Einig sind sie sich in der Chronologie: Am Donnerstag findet ein letztes Mahl statt; anschließend wird Jesus verhaftet, verhört und verurteilt. Am Freitag stirbt Jesus. Im Detail unterscheiden sich die Überlieferungen aber: Zwischen den Synoptikern und Johannes ist etwa strittig, ob der erste Abend des Pesachfestes am Donnerstag gefeiert wurde oder erst am Freitag – und in der Folge, ob das letzte Abendmahl ein Paschamahl war oder nicht.
Die letzten Worte Jesu
Auch die letzten Worte Jesu am Kreuz unterscheiden sich. In einem weitgehend gleichen Gerüst setzen die Evangelisten eigene Schwerpunkte. Das gilt auch für den Prozess Jesu. Die Evangelisten sind sich einig, dass Jesus zunächst vor dem Hohen Rat verhört wurde (Mk 14,53–65; Lk 22,66–71; Mt 26,57–68; Joh 18,12–27). Der dort gemachte Vorwurf ist jener der Gotteslästerung: Jesus hat sich selbst als Sohn Gottes bezeichnet und damit – so sehen es die Mitglieder des Hohen Rates – Gott gelästert. Sie überstellen Jesus nun an die weltliche Gerichtsbarkeit des Pilatus. Der Vorwurf ändert sich, wird politisch: „Wir haben festgestellt, dass dieser Mensch unser Volk verführt, es davon abhält, dem Kaiser Steuer zu zahlen, und behauptet, er sei der Christus und König.“ (Lk 23,2). Nur Lukas kennt noch eine dritte Station des Prozesses: Nach seiner Darstellung überstellt Pilatus Jesus an Herodes, der für Galiläa zuständig war (vgl. Lk 23,6–12).
Das Verhör vor Pilatus
Wie nun gestaltet sich dieses Verhör vor Pilatus? Die drei synoptischen Evangelien überliefern einen denkbar kurzen Dialog: „Pilatus fragte ihn: Bist du der König der Juden? Er antwortete ihm: Du sagst es.“ (Mk 15,2; Lk 23,3; vgl. Mt 27,11). Pilatus kann keine Schuld an Jesus finden. Die Idee des Hohen Rates scheint nicht aufzugehen: Sie wollten offenbar den Eindruck erwecken, Jesus verstehe sich als politischer König über Israel. Pilatus beugt sich dem Druck des Hohen Rates, offenbar um politische Aufstände zu vermeiden. Der Evangelist Johannes überliefert ein längeres Gespräch. Auch hier geht es im Kern um eine einfache Frage: „Bist du der König der Juden?“ (Joh 18,33). Jesus antwortet: „Mein Königtum ist nicht von dieser Welt. Wenn mein Königtum von dieser Welt wäre, würden meine Leute kämpfen, damit ich den Juden nicht ausgeliefert würde. Nun aber ist mein Königtum nicht von hier.“ (Joh 18,36). Jesus sagt, er sei gekommen, um für die Wahrheit Zeugnis abzulegen – Pilatus stellt seine berühmte Nachfrage: „Was ist Wahrheit?“ (Joh 18,38).
Diese verschiedenen Versionen werfen natürlich eine Frage auf: Wie war es wirklich? Es ist nicht die Intention der Evangelisten, ein möglichst wortgetreues Protokoll zu überliefern. Alle Evangelisten überliefern ein Verhör, in dem es um die vermeintlichen politischen Ambitionen Jesu geht. Wenn Johannes den Dialog ausbaut, verfolgt er damit natürlich auch eine theologische Absicht. In mehreren Gesprächen des Johannesevangeliums kommt es zu Missverständnissen. Die Gesprächspartner Jesu nehmen seine Worte wörtlich und bleiben blind für deren eigentliche Bedeutung. So komponiert Johannes es auch beim Verhör vor Pilatus: Jesus betont ja, er sei ein König – meint damit aber etwas ganz anderes als Pilatus, der an einen weltlichen Herrscher in einem Palast denken muss. Die Evangelien unterstreichen, dass Jesu Königreich nicht von dieser Welt ist. Seine Sendung erschöpft sich nicht in irdischer Macht, sondern zielt auf das Kreuz: Dort soll sich die Wahrheit Jesu offenbaren.
(Benedikt Bögle, atholischer Theologe und Jurist. Er arbeitet in München als Rechtsreferendar und freier Journalist)
„Es war aber Nacht.“ (Joh 13,30). Mit diesen Worten kommentiert der
Evangelist Johannes, dass Judas vom Tisch des letzten Abendmahles
aufsteht und sich auf den Weg macht, Jesus zu verraten. „Es war aber
Nacht“ ist nicht nur eine Zeitangabe; denn die Nacht seines Lebens steht
Jesus im Leiden erst noch bevor. Gleichzeitig wird es auch Nacht in
Judas’ Herz, der seinen Herrn verrät und die Mahlgemeinschaft verlässt.
Judas wendet Jesus, dem „Licht der Welt“ (Joh 8,12), den Rücken zu und
betritt die Finsternis.
Die Figur des Judas und sein Verrat
beschäftigen seit zweitausend Jahren nicht nur die Theologie, sondern
auch die Kunst und die Literatur. Wer war dieser Mann, der zum engen
Kreis der zwölf Apostel gehörte, dann aber Jesus verriet? Vieles an
diesem Verrat bleibt für uns im Dunklen. Warum hat Judas das getan?
Judas verspricht den Hohepriestern, Jesus auszuliefern, und erhält dafür
dreißig Silberstücke (vgl. Mk 14,10–11; Mt 26,14–16; Lk 22,1–6). Diesen
Entschluss deuten die Evangelisten als bewusste Wendung gegen Jesus:
„Der Teufel hatte Judas, dem Sohn des Simon Iskariot, schon ins Herz
gegeben, ihn auszuliefern.“ (Joh 13,2). Judas führt die Soldaten zu
Jesus. Er vereinbart mit ihnen ein Zeichen, das unter der Gruppe der
Männer Jesus offenbaren soll: Er gibt Jesus einen Kuss (vgl. Mk 14,45
parr.). Weshalb war dieses Zeichen überhaupt erforderlich? War Jesus den
Soldaten unbekannt? War es so dunkel, dass gerade Judas Jesus
identifizieren musste? Oder unterstreicht der Kuss noch die
Verwerflichkeit des Verrats, wenn Judas den Herrn gerade mit einem
Zeichen der Freundschaft und der Vertrautheit verrät?
Jesus nimmt Leid und Verlorenheit der Menschheit auf seine Schultern
Dem Kuss des Judas folgen Gefangennahme, Verurteilung, Leid und Tod
Jesu. Judas reut nun seine Tat: Er will das erhaltene Geld zurückgeben.
Am Ende erhängt er sich (vgl. Mt 27,3–10). Dieser Verrat lässt sich
zunächst auf mehrere Arten theologisch deuten. Jesus nimmt am Kreuz das
Leid und die Verlorenheit der Menschheit auf seine Schultern. Dazu
gehört nicht nur der körperliche Schmerz, sondern auch das
Ausgeliefertsein: Jesus teilt am Kreuz auch das Leid aller, die
verraten und ausgeliefert werden. Ein weiterer Aspekt des Verrats ist
auch die menschliche Freiheit: Selbst einer der Apostel und engsten
Freunde Jesu hat noch die Freiheit, sich vom Gottessohn radikal
abzuwenden.
In eine gänzlich andere Richtung gehen jene
Interpretationen, die in Judas einen „Zeloten“ sehen, der – zumindest
vor seiner Berufung zum Apostel – mit weltlicher Macht die Freiheit
Israels vor römischer Herrschaft erkämpfen wollte. Hat Judas Jesus
verraten, weil er ihn auf diese Weise dazu bringen wollte, endlich
seine Macht zu erweisen, endlich mit den Heerscharen des Himmels ein
neues Reich zu errichten? Dann hätte Judas zwar die Sendung Jesu
verkannt, aber mit seinem Verrat letztlich nicht den Tod Jesu, sondern
den Erweis seiner Herrlichkeit erzwingen wollen.
Judas als bester Versteher Jesu
Weitere
Deutungen sehen Judas hingegen als den besten Versteher Jesu: Während
die anderen Jünger die Rede Jesu von seinem Leiden und seiner
Auferstehung nicht verstehen, ist nach dieser Auslegung Judas der
Einzige, der es begreift – Jesus muss sterben, um auferstehen zu
können. Der Verrat durch Judas wäre danach eigentlich gar kein Verrat,
sondern die notwendige Voraussetzung für die Auferstehung des Herrn.
Der
Jesuit Christoph Wrembek hat in seinem Buch „Judas, der Freund“ auf ein
großes Kunstwerk hingewiesen, das seinerseits den Tod des Judas
deutet. In der französischen Basilika von Vézelay finden sich
prachtvolle Kapitelle, die die Säulen des Kirchengebäudes abschließen.
Auf einem von ihnen sieht man Judas, der sich soeben erhängt hat.
Wendet man den Blick, sieht man aber seitlich Jesus, der den Erhängten
abnimmt und ihn sich wie ein guter Hirte über die Schultern legt. Dieses
Bild verbindet die Unfassbarkeit des Verrats mit der Hoffnung auf einen
guten Hirten, der womöglich noch die größte Schuld zu vergeben weiß.
(Benedikt Bögle, katholischer Theologe und Jurist. Er arbeitet in München als Rechtsreferendar und freier Journalist)
Mein Knecht, der gerechte, macht die vielen gerecht“ (Jes 53,11): Jedes Jahr ist das „vierte Gottesknechtslied“ als Lesung für die Karfreitagsliturgie bestimmt. Es deutet damit den Text des Propheten Jesaja auf das Leiden und Sterben Jesu Christi am Kreuz. Vier Texte aus dem Jesaja-Buch sind als „Gottesknechtslieder“ bekannt (42,1–4; 49,1–6; 50,4–9; 52,13 – 53,12). Sie drehen sich um einen „Knecht des Herrn“, dessen Berufung, Sendung und Leiden thematisiert werden.
Unterschiedliche Deutungen
In der jüdischen und christlichen Theologie finden sich zahlreiche
Deutungen dieser Texte. Eine erste Deutung liest diese vier Texte
„kollektiv“: Der angesprochene Knecht Gottes ist das Volk Israel. Vor
allem das Leiden des Gottesknechtes passt zur Geschichte Israels: Immer
wieder ist Israel seinen mächtigen Nachbarn ausgeliefert – während der
Sklaverei in Ägypten, im Babylonischen Exil, unter hellenistischer und
römischer Fremdherrschaft. Im letzten Lied heißt es: „Wir hatten uns
alle verirrt wie Schafe, jeder ging für sich seinen Weg. Doch der HERR
ließ auf ihn treffen die Schuld von uns allen.“ (53,6). Israel hat sich
immer wieder verirrt und von seinem Gott abgewendet. Gleichzeitig wird
hier auch schon die Schwierigkeit dieser Deutung sichtbar: Wenn Israel
sich verirrt hat – wer ist dann jener, auf den der Herr die Schuld des
Volkes lud? Der leidende Gottesknecht hat „kein Unrecht getan“ (53,9):
Demgegenüber sieht der Prophet Jesaja die Zeit in Babylonischer
Gefangenschaft nicht als unverschuldet an, sondern durch die Sünden des
Volkes bedingt.
Andere Auslegungen meinen, es gehe um eine bestimmte Person. Wer ist
diese Person? Einige Deutungen sehen Anspielungen auf große
Königsgestalten. Gerade das letzte Gottesknechtslied eröffnet eine
mögliche Sicht auf den Propheten Mose: Immer wieder setzt Mose sich für
das Volk ein, das sich von Gott abwendet. „Mein Knecht, der gerechte,
macht die vielen gerecht“ (53,11): So hat sich auch Mose als der
gerechte Knecht Gottes für das Volk eingesetzt. Und wie der unschuldig
Leidende aus dem Jesajabuch muss Mose noch außerhalb des verheißenen
Landes sterben, die Schuld des Volkes selbst sühnen: „Auch mir grollte
der HERR euretwegen und sagte: Auch du sollst nicht in das Land
hineinkommen“, sagt Mose selbst (Dtn 1,37).
Eine weitere Deutung versteht die Gottesknechtslieder als autobiographische Texte, in denen der Autor seine eigene Rolle als Prophet schildert. Dazu passt der Gesamtaufbau der vier Lieder. Der erste Text verkündet einen Auftrag Gottes an den Propheten: „Siehe, das ist mein Knecht, den ich stütze“ (42,1). Das zweite Lied enthält die Verkündigung dieses Propheten. Das dritte Lied drückt das Vertrauen dieses Sprechers aus, während das vierte Lied das Scheitern und seine Ablehnung thematisiert.
Die Kirche sieht Jesus
Die Kirche deutet die vier Lieder auch auf Christus. Gerade das vierte
Lied lässt sich auf das Leiden Jesu hin lesen: „Er wurde bedrängt und
misshandelt, aber er tat seinen Mund nicht auf. Wie ein Lamm, das man
zum Schlachten führt, und wie ein Schaf vor seinen Scherern verstummt,
so tat auch er seinen Mund nicht auf.“ (53,7). Den Gottesknecht trifft
„Haft und Gericht“ (53,8) – wie Jesus in Gefangennahme und Verurteilung.
Neben diese Schilderung der Leiden tritt die theologische Deutung:
Jesus nimmt tatsächlich als der Schuldlose die Schuld der Welt auf
seine Schultern: „Doch er wurde durchbohrt wegen unserer Vergehen, wegen
unserer Sünden zermalmt. Zu unserem Heil lag die Züchtigung auf ihm,
durch seine Wunden sind wir geheilt.“ (53,5). Es verwundert nicht, dass
die Kirche bei diesen Worten früh an den dachte, der am Kreuz mit
Nägeln und einer Lanze durchbohrt wurde. Das letzte Gottesknechtslied
drückt aber auch Hoffnung aus: „Nachdem er vieles ertrug, erblickt er
das Licht“ (53,11). In dieser christlichen Deutung scheint bereits das
Licht der Auferstehung.
(Benedikt Bögle, katholischer Theologe und Jurist. Er arbeitet in München als Rechtsreferendar und freier Journalist.)
Das Buch Jesaja
Die Bibelwissenschaft geht heute davon aus,
dass die Texte des Jesajabuches nicht auf einen einzigen Propheten
zurückzuführen sind. Vielmehr soll der erste Teil in Jesaja 1–39
(„Protojesaja“) auf einen Propheten im 8. Jahrhundert vor Christus
zurückgehen, während der zweite („Deuterojesaja“, Jes 40–55) und der
dritte Teil („Tritojesaja“, Jes 56–66) in späterer Zeit entstanden
sind. Damit stammt vermutlich vor allem der zweite Teil des
Prophetenbuches, in dem sich die „Gottesknechtslieder“ finden, aus der
Zeit des Babylonischen Exils: In der Zeit von 597 bis 539 vor Christus
wurde zwar nicht das ganze jüdische Volk, wohl aber ein großer Teil nach
Babylon verschleppt; unter ihnen befand sich vor allem die Elite des
Volkes. In dieser Zeit findet eine wesent-liche Entwicklung der
jüdischen Religion statt, die sich fern von Jerusalem und seinem Tempel
sowie in einer heidnischen Umwelt behaupten muss.
Im Gebiet von Gerasa begegnet Jesus einem Menschen, den das Evangelium
als „Besessenen“ bezeichnet (Mk 5,1–20). Er wohnt auf einem Friedhof
und erscheint so wild, dass er nicht gebändigt werden konnte. Tag und
Nacht schreit er und verletzt sich selbst mit Steinen. Kaum sieht er
Jesus, läuft er auf ihn zu und schreit: „Was habe ich mit dir zu tun,
Jesus, Sohn des höchsten Gottes?“ (Mk 5,7). Jesus erkennt sofort, dass
der Mann von einem unreinen Geist besessen sein muss, und fragt diesen
Geist nach seinem Namen: „Mein Name ist Legion; denn wir sind viele“,
antwortet der unreine Geist (Mk 5,9). Jesus befiehlt nun dem Geist, den
Mann zu verlassen – er fährt in eine riesige Schweineherde, die sich
daraufhin selbst ertränkt.
Besessen vom unreinen Geist
Solche „Exorzismen“ finden sich im Neuen Testament an mehreren Stellen.
Jesus begegnet Menschen, die von einem unreinen Geist, einem Dämon
besessen sind, und befiehlt diesen Geistern, auszufahren. Die Menschen
sind daraufhin geheilt. Wie man diese Begebenheiten deuten will, ist
nicht unumstritten. Im Wesentlichen kann man zwei Ansätze ausmachen:
Einmal kann man darauf hinweisen, dass Jesus an vielen Stellen Menschen
von ihren körperlichen Krankheiten heilt. Warum nicht auch von
geistigen, psychischen Krankheiten? Dabei verfügten die Menschen zur
Zeit Jesu nicht über die psychologischen und psychotherapeutischen
Kenntnisse, über die wir heute verfügen. Psychisch schwer kranke
Menschen dürften in erster Linie als „seltsam“ wahrgenommen worden sein.
So wird auch das Verhalten des Besessenen von Gerasa als von der
Norm abweichend geschildert: Er schreit, verletzt sich selbst, wohnt auf
einem Friedhof. Wir würden heute wohl recht schnell auf eine psychische
Krankheit tippen. Wer die Besessenenerzählungen so versteht, kann in
ihnen in erster Linie eine Heilungsbegebenheit sehen: Jesus heilt in
diesem Fall nicht wie an vielen anderen Stellen von einer körperlichen,
sondern von einer psychischen Krankheit. Der Dämon fährt aus, der Mann
ist geheilt.
Eine Kraft, die den Menschen belastet
Die Austreibung der Dämonen hat aber auch noch
einen anderen Aspekt: Die Dämonen werden als unreine, böse Kräfte
verstanden, die von einem Menschen Besitz nehmen. Im Vergleich zu den
„körperlichen Heilungen“ Jesu zeigt sich das schon daran, dass der Dämon
noch ein letztes Mal seine Macht erweist, bevor er endgültig
verschwindet: Der Dämon von Gerasa stürzt die Schweineherde ins Wasser,
ein anderer Dämon verlässt einen Menschen erst, nachdem er ihn hin und
her zerrt und laut aufschreit (vgl. Mk 1,25). Dieser Geist ist damit
doch mehr als einfach nur der Auslöser einer Krankheit; er ist eine
eigenständige Kraft, die den Menschen belastet. Vielleicht entspricht
ja auch das den Erfahrungen, die wir im Lauf der Weltgeschichte gemacht
haben: dass es böse Kräfte und böse Menschen gibt, die andere
unterdrücken, Kriege führen, Menschen töten. Steht nicht vielleicht
hinter diesen Menschen eine böse Kraft, die in der Welt wirkt und die
die Kirche als „Satan“ bezeichnet? Damit haben diese Dämonen etwas Diabolisches, Teuflisches. Indem Jesus sie austreiben kann, zeigt er ihnen die Grenzen ihrer Macht auf. Dabei erkennen die unreinen Geister, mit wem sie es zu tun haben: „Jesus, Sohn des höchsten Gottes“, bekennt der Geist von Gerasa. Wie bei den anderen Heilungen auch geht es dabei nicht darum, Jesus als begabten Magier darzustellen. Den Evangelisten ist nicht daran gelegen, aus Jesus einen außerordentlichen Zauberer zu machen, der erstaunliche und unerklärliche Dinge tun kann. Seine Heilungen – und auch die Dämonenaustreibungen – sind Zeichen des anbrechenden Gottesreiches: Weil Jesus der Christus ist, hat er Macht über diese Welt. Die „Wunder“ zeigen diese Macht auf und verweisen auf den geheilten Zustand der Menschheit im kommenden Reich Gottes. Jesus kann gerade die bösen Mächte zurückdrängen, über die er mit seinem Tod am Kreuz gesiegt hat.
(Benedikt Bögle, katholischer Theologe und Jurist. Er arbeitet in München als Rechtsreferendar und freier Journalist.)
Exorzismus
Unter Exorzismus wird
die rituelle Vertreibung böser Mächte und Geister aus Personen,
Lebewesen oder Gegenständen verstanden. Solche Praktiken gibt es in
allen Kulturen. Sie sollen der ganzheitlichen Reinigung und Heilung
dienen. Das Wort stammt vom griechischen Begriff „exorkizein“ ab und
bedeutet „wegbeschwören“. Die katholische Kirche
versteht unter dem Begriff eine Bitte an Gott, den Menschen von der
Macht des Bösen zu befreien. Der Exorzismus kann auch einen im Namen
Jesu Christi an den Teufel gerichteten Befehl umfassen, den Betroffenen
zu verlassen. Die Vollmacht zum Vollzug des Exorzismus leitet die Kirche
aus dem Neuen Testament ab. Vorbild sind die Dämonenaustreibungen
Jesu. Der Exorzismus besteht aus Gebeten sowie Segens- und
Beschwörungsformeln. In einfacher Form wird er bei der Taufe vollzogen. Der
sogenannte „feierliche“ oder „Große Exorzismus“ darf laut dem
Kirchenrecht von 1983 nur nach Genehmigung des zuständigen Bischofs von
einem geeigneten Priester vorgenommen werden. 1999 legte der Vatikan
neue Richtlinien vor, um stärker die Erkenntnisse der Medizin und
Psychiatrie zu berücksichtigen. Die 90-seitige Sammlung von Gebeten,
Segens- und Beschwörungsformeln ersetzte eine Fassung von 1614. Nach
den neuen Regelungen muss ein Exorzist sorgfältig überprüfen, ob
tatsächlich ein Fall von Besessenheit vorliegt. Gegebenenfalls soll er
sich mit Medizinern und Psychiatern beraten. Seit 1994 gibt es eine
Internationale Vereinigung der Exorzisten, der nicht nur Priester
angehören. 2014 erkannte die vatikanische Kleruskongregation den
Zusammenschluss offiziell an und billigte dessen Statuten. Gründer der
Vereinigung war der 2016 im Alter von 91 Jahren verstorbene Priester .
(Gabriele Amorth, KNA)
Kennen Sie das? Sie hatten in Ihrer Jugend ein besonders wichtiges, schönes und prägendes Erlebnis, vielleicht zusammen mit Ihren Freunden; etwas Lustiges oder Abenteuerliches, eine Geschichte, die es wert ist, erzählt zu werden. Gerne wird das dann immer wieder getan, zum Beispiel bei gemeinsamen Festen, bei denen irgendwer anfängt: „Wisst ihr noch, wie wir damals …?“ Ich selbst habe als Kind meinen Eltern und ihren Freunden gerne zugehört bei diesen Geschichten aus ihrer Jugend. Ich fand das ungeheuer spannend. Es gab meinem Leben irgendwie einen größeren Hintergrund und eine spürbare Herkunft.
Erzählen hat eine wichtige soziale Funktion: Im Erzählen wird Gemeinsames gestärkt und das Band, das uns zusammenhält, gefestigt. Dabei haben diese Geschichten aber eine bemerkenswerte Eigenart: Sie tendieren dazu, sich zu verändern, zu wachsen, immer größer zu werden. Das Bedeutsame daran wird verstärkt und ausgeschmückt. Manchmal geschehen dabei auch Verschiebungen und Änderungen, weil Erinnerung etwas sehr Subjektives ist.
Und das begegnet uns auch in der Bibel. Die Autoren der Bibel hatten nicht unsere Auffassung von Geschichte, die sich ganz stark auf Fakten und Beweise stützt (und dabei doch immer vieldeutig bleibt), sondern es ging ihnen um das Herausarbeiten der inneren, religiösen Bedeutung des Erlebten. Dabei bedienten sie sich einer Erzählkunst, die sehr malerisch und ausschmückend war, aber auch eine tiefe Symbolik enthielt, die den Menschen damals im Alten Orient nicht erklärt werden musste, weil es eine für sie intuitiv verständliche Sprachwelt war.
Und so sind besonders die großen geschichtlichen Ereignisse des Volks
Israel nicht nur einmal, sondern immer wieder neu erzählt worden, um sie
den Menschen einer neuen Zeit wieder zugänglich zu machen und ihre
bleibende Bedeutung zu stärken. Ganz besonders fällt das bei der
Erzählung vom Auszug aus Ägypten auf: Bei der Schilderung vom
Durchzug durchs Schilfmeer können wir diese Erzählentwicklung sehen:
In Exodus 14,21 hören wir davon, dass ein starker Ostwind das Wasser des
Meeres forttrieb und das Meer austrocknen ließ. Gleich darauf steht
aber schon, dass sich das Wasser spaltete. Und in Vers 22 dann: „Die
Israeliten zogen auf trockenem Boden ins Meer hinein, während rechts und
links von ihnen das Wasser wie eine Mauer stand.“ Nachdem die
Israeliten hindurchgezogen waren, „flutete das Meer an seinen alten
Platz zurück“ und die nachziehenden Ägypter fanden in den Fluten den
Tod.
Durch die Tiefen gehen, um ein neues Leben zu beginnen
Natürlich sträubt sich unser naturwissenschaftlicher Sinn sofort
gegen Mauern aus Wasser, die links und rechts stehen, und wir fragen
danach, was wirklich ursprünglich geschehen ist. Die Forschung ist sich
einig, dass die Version mit dem starken Ostwind uns da dem
ursprünglichen Ereignis näherbringt. Denn das biblische „Schilfmeer“ ist
zwar nicht mit Sicherheit zu lokalisieren, aber schon der Name spricht
von einem eher seichten Gewässer. Das könnte, wenn man den Weg von
Ägypten nach Israel und all die recht verwirrenden Ortsbezeichnungen im
Text berücksichtigt, zum Beispiel an den „Bitterseen“ des östlichen
Nil-Deltas gewesen sein oder am Sirbonischen See, einem Salzsee oder
-sumpf, der vom Mittelmeer abgeschnitten wurde, oder am Ballah-See
(zwischen dem Golf von Suez und dem Nil). Alle diese möglichen Gewässer
waren eher seichte Seen und kein „Meer“ in unserem Sinn. Also ist es
historisch am wahrscheinlichsten, dass – eventuell durch den Einfluss
des Windes – hier eine Passage zu Fuß und mit leichten Lasttieren
möglich wurde, die den Ägyptern mit schweren Streitwagen nicht möglich
war.
Doch in der Weitergabe dieser Erzählung wurde die Größe
der Rettungstat Gottes immer mehr ausgeschmückt, das Wunder dieser
Ursprungserfahrung des Volks Gottes immer größer, bis aus dem
passierbaren Flachgewässer eine Spaltung des Meeres wurde, die das
Wasser links und rechts wie eine Mauer stehen ließ. Das Meer wird zum
Symbol für die Grenze zwischen Ägypten und der Freiheit, zum Bereich der
überwältigenden Macht Gottes, wobei das Volk „durch die Tiefe“ gehen
muss, um ein neues Leben zu beginnen.
Sehr schön und wieder einmal neu erzählt für Menschen von heute, besonders Kinder, finden wir diese Bilder zum Beispiel auch im Zeichentrickfilm „Der Prinz von Ägypten“ (Dreamworks 1998). Diese Neu-Erzählung steht ganz in der alten Tradition und zeigt uns nun sogar die Fische und einen Wal, die schemenhaft durchs Wasser ziehen. Und wir sehen und empfinden das Wunder von damals neu.
(Susanne Deininger, Pastoralreferentin im Pfarrverband Dachau-St. Jakob und theologische Mitarbeiterin im Dachauer Forum)
Als Gott Mose beauftragt, sein Volk aus Ägypten in die Freiheit zu
führen, gestaltet sich das nicht so einfach: Der Pharao will sie nicht
ziehen lassen. Darauf – so erzählt es die Bibel – sendet Gott Ägypten
zehn lebensgefährdende Plagen, die den Pharao einerseits bewegen sollen,
das Volk Israel freizugeben, und anderer- seits aufzeigen sollen, dass
JHWH stärker ist als die Götter der Ägypter.
Diese Plagen
werfen viele Fragen auf: Wir naturwissenschaftlich geprägte Menschen von
heute wollen wissen, was damals wirklich geschehen ist und ob diese
Plagen in irgendeiner Weise der Realität entsprechen. Aber auch die
Frage nach dem Gottesbild wird oft gestellt, besonders im Blick auf die
letzte und schrecklichste „Plage“, den Tod der erstgeborenen Ägypter:
Was ist das für ein Gott, der unschuldige Kinder in den Tod schickt, um
seine Macht zu erweisen? Ist Gott parteiisch?
Bei der Beantwortung dieser Fragen müssen wir erst einmal grundsätzlich zweierlei bedenken: Zwischen den Geschehnissen, von denen erzählt wird, und dem Text, den wir lesen, liegen circa 500 Jahre Geschichte Israels. In dieser Zeit hat diese Erzählung immer mehr an Bedeutung gewonnen und wurde immer wieder neu erzählt. Dabei wollte man vor allem die innere Bedeutung und bleibende religiöse Relevanz herausarbeiten und hatte eher wenig Interesse an historischen Fakten. Dazu kommt nun als Zweites der blumige und zur Übertreibung neigende altorientalische Erzählstil, den die Leser damals gut entschlüsseln konnten, was uns heute aus der Distanz aber schwerfällt. Die Ägypter, besonders der Pharao, werden hier zum Beispiel sehr überzeichnet, manchmal sogar mit ironischem Humor, den wir so nicht mehr heraushören.
Naturvorgänge in Ägypten
Im Blick auf die Plagen heißt das: So, wie sie hier erzählt werden,
sind sie sicher nicht passiert; nicht so gehäuft, nicht so heftig und
eindrucksvoll. Sie sind übertrieben geschildert, um die Macht Gottes zu
betonen und der Geschichte mehr Spannung zu verleihen. Dennoch ist
dabei nicht alles frei erfunden. So einige Plagen sind Phänomene, die
es in Ägypten durchaus gab: Einige stehen im Zusammenhang mit dem Nil,
der für Ägypten die zentrale Lebensader war. Die Nilpest, bei der sich
das Wasser rot färbte und die Fische starben, könnte entweder auf eine
erhöhte Konzentration von Sedimenten durch Hochwasser oder eine
Algenblüte zurückzuführen sein, die ein Fischsterben durch
Sauerstoffmangel zur Folge hatten. Das wiederum trieb auch die Frösche
an Land, wo sie dann massenhaft verendeten. Ein Rückgang des Hochwassers
führte in den übrig bleibenden Pfützen zur explosionsartigen Vermehrung
von Mücken und anderem Ungeziefer, das dann auch in die Häuser
eindrang. Auch Heuschreckenschwärme, die alles niederfraßen, waren eine
bekannte Erscheinung. Ein Unwetter mit Hagel war wohl im alten Ägypten
nicht alltäglich, ist aber durchaus denkbar. Krankheiten aller Art, an
denen Mensch und Tier starben, waren grundsätzlich eine große Gefahr,
der auch die erfahrenen Ärzte Ägyptens nicht immer etwas
entgegenzusetzen hatten. Mit welchem Phänomen sich die dreitägige
Dunkelheit deuten lässt, ist allerdings unklar. Solche Vorkommnisse
wurden damals oft religiös, zum Beispiel als Strafe der Götter,
gedeutet.
Die Autoren der Plagenerzählung hatten also
durchaus Kenntnisse von den Naturvorgängen in Ägypten, die sie dann für
eine spannende und kunstvoll aufgebaute Erzählung nutzten, die auf den
schrecklichen Höhepunkt der Tötung der Erstgeborenen, der Schonung der
Israeliten und den darauffolgenden Auszug hin gesteigert wurde. Für
diese letzte Plage gibt es keinerlei historischen Nachweis und auch
keine wirklich schlüssige Erklärung.
Bleibt die Frage nach
Gott: In dieser Geschichte spiegelt sich tatsächlich ein parteiisches
Gottesbild aus einer Zeit, in der der Monotheismus noch nicht entdeckt
war. In dieser Zeit ist JHWH der Eine Gott Israels, während für die
anderen Völker andere Götter zuständig waren. Um nun seine
Überlegenheit aufzuweisen, greifen die Autoren zu erzählerisch
drastischen Ausdrucksmitteln wie eben die Tötung der erstgeborenen
Ägypter. Das reifere nachexilische jüdische Gottesbild „Es gibt nur
einen Gott“, das auch unseres ist, hätte eine andere Erzählung ergeben.
In der Bibel bleiben aber Gotteserfahrungen und -bilder aus
verschiedenen Zeiten gleichberechtigt nebeneinander stehen.
(Susanne Deininger, Pastoralreferentin im Pfarrverband Dachau-St. Jakob und theologische Mitarbeiterin
im Dachauer Forum)
Die Geschichte vom Exodus
Die Geschichte vom Auszug aus
Ägypten (lateinisch „Exodus“) wandelt die Familiengeschichte der
nomadischen Ur-Sippe aus dem Buch Genesis in die Geschichte des Volks
Israel. Wir finden sie in einer Form vor, die relativ spät durch
Redaktion entstanden ist. Mehrere frühere Versionen wurden dabei in
eine Neuerzählung nach dem Exil in Babylon eingefügt. Dabei lassen sich
zwar verschiedene Versionen aufspüren, was aber genau wann entstand, ist
nicht sicher zu sagen. Es lässt sich annehmen, dass es zunächst
mündliche Überlieferungen gab, die später immer wieder etwas anders
schriftlich gefasst wurden, bis hin zu der Fassung in der jüdischen
Tora, die wir auch in unserer Bibel lesen. Dabei wurde allerdings nicht
alles geglättet und so finden wir manche Dinge doppelt, andere Teile
schließen sich nicht ganz logisch aneinander an. Und wir begegnen Gott
in unterschiedlicher Weise bezeichnet: als JHWH und als „El“ (= Gott).
Sie ist also eine Geschichte mit einer eigenen Geschichte. Dabei liegen
zwischen dem Geschehen selbst und unseren Bibeltexten wohl mindestens
500 Jahre.
Wir hören aber, dass einige von euch ein unordentliches Leben führen
und alles Mögliche treiben, nur nicht arbeiten. Diesen gebieten wir und
ermahnen sie in Jesus Christus, dem Herrn, in Ruhe ihrer Arbeit
nachzugehen und ihr eigenes Brot zu essen.“ (2 Thess 3,11–12). Mit
dieser Ansage konkretisiert „Paulus“ (siehe Kasten) das sprichwörtlich
gewordene „Wer nicht arbeiten will, soll auch nicht essen“ (2 Thess
3,10).
Es befremdet, im Neuen Testament so ein knallhartes
Arbeitsethos zu finden. Von Solidarität, sozialem Ausgleich oder
Rücksicht auf die Schwachen ist hier augenscheinlich nichts zu merken.
Grund genug, die Kontexte dieser Stelle etwas genauer zu betrachten.
Unmittelbar
vor der zitierten Stelle weist „Paulus“ auf sein eigenes Beispiel hin:
Er selbst hat üblicherweise seinen Lebensunterhalt mit eigener Arbeit
erwirtschaftet – und sich nicht etwa von reichen Gönnern/-innen
finanzieren lassen. Dieses Bild, das hier von Paulus gezeichnet wird,
dürfte historisch zutreffen: Auch im 1. Thessalonicherbrief hat er
betont, dass er und seine Mitarbeiter für ihren Lebensunterhalt
gearbeitet haben, um der Gemeinde in Thessalonike nicht zur Last zu
fallen (1 Thess 2,9) und unabhängig zu bleiben. Zum Schluss ermahnt er
seine Christen/-innen, diesem Beispiel zu folgen.
Im 2. Thessalonicherbrief wird dies noch zugespitzt und verschärft. Die eigene Erwerbsarbeit scheint überhaupt ein Markenzeichen des Paulus gewesen zu sein, das ihn von anderen Aposteln unterschied. Seine beiden Korintherbriefe sind dafür aufschlussreich (1 Kor 9,1–18; 2 Kor 11,7–10; 12,13–18); hier geht es vor allem darum, dass der Apostel Paulus etwas nicht in Anspruch nahm, was ihm nach allgemeiner Auffassung zustand. Das scheint in Korinth für solches Befremden gesorgt zu haben, dass manche sich fragten, ob Paulus überhaupt ein richtiger Apostel sei. Auch für die Apostelgeschichte ist die Erwerbsarbeit ein fester Bestandteil des Bildes, das sie von Paulus vermittelt (Apg 18,3; 20,33–35).
Paulus entsprach nicht den Idealen der Antike
Damit entsprach Paulus nicht ganz den Idealen der Antike:
Erwerbsarbeit galt überwiegend nicht als erstrebenswert (eine
prinzipiell positive Bewertung von Arbeit finden wir erst in der Regel
des heiligen Benedikt, also circa 500 Jahre nach Paulus). Wer Rang und
Vermögen hatte, ließ seine Sklaven für sich arbeiten. Intellektuelle
lebten normalerweise von ihrem Vermögen. Gewiss gab es in griechischen
Städten anlässlich mancher Feste Geldverteilungen an die Bevölkerung,
aber diese sollten keinen sozialen Ausgleich schaffen oder Teilhabe
ermöglichen, sondern sie bestärkten symbolisch die bestehende soziale
(Hack-)Ordnung: Prominente Angehörige der Oberschicht, die im Stadtrat
saßen und öffentliche Ämter innehatten, bekamen viel, einfache Bürger
bekamen weniger. Wer kein Bürgerrecht hatte, bekam normalerweise gar
nichts. Auch das sprichwörtliche Angebot „Brot und Spiele“ richtete sich
in Rom an Bürger, die dem Kaiser zujubeln und im Übrigen ruhig bleiben
sollten. Von einer Grundsicherung für alle war die Antike weit
entfernt.
Der Slogan „Wer nicht arbeiten will, soll auch nicht essen“
passt jedenfalls nicht zum Selbstverständnis der Oberschicht in der
griechischen und römischen Antike. Er passt eher in ein Milieu, in dem
die Sorge für den eigenen Lebensunterhalt jeden Tag akut war: kleine
Handwerker oder Gelegenheitsarbeiter. Für manche Angehörigen dieser
Gesellschaftsschicht mag die christliche Vorstellung von einer
entscheidenden Zeitenwende attraktiv gewesen sein.
Die Kritik
im 1. und 2. Thessalonicherbrief (1 Thess 4,11–12; 2 Thess 3,11–12)
lässt vermuten, dass manche engagierte Christen/-innen (als „religiöse
Virtuosen“?) aus ihren normalen wirtschaftlichen Verflechtungen
ausstiegen und Zuwendungen von anderen Christen/-innen erwarteten (oder:
die Gutmütig-keit anderer Christen/-innen ausnutzten). Diese radikale
Form der Jesus-Nachfolge setzte voraus, dass es ein Netzwerk von
Unterstützern/-innen gab. Oft ging sie mit der Vorstellung einher, dass
das Ende der Welt nahe bevorstehe (vgl. etwa Mt 10,5–23; Lk 9,1–6;
10,1–16). Diese Erwartung erfüllte sich nicht, und so mussten spätestens
die Christen/-innen der zweiten Generation sich anders orientieren (so
etwa 2 Thess 2,1–11).
Im 2. Thessalonicherbrief – genauso wie in den Pastoralbriefen (1–2 Tim; Tit) – begegnet uns das Anliegen,
unter
christlichem Vorzeichen ein möglichst „normales“ Leben auf Dauer
innerhalb dieser Welt und ihrer Strukturen zu führen. In der Forschung
nannte man das gern „bürgerliches Christentum“. Darin scheint mir aber
der positive Wert der zitierten Textstelle zu liegen: Der christliche
Glaube wird nicht in einem Paralleluniversum gelebt, sondern in dieser
Welt, wie sie ist.
Auch der „Paulus“ des 2.
Thessalonicherbriefes hält eine gläubige Perspektive über diese Welt
hinaus aufrecht (2 Thess 1,3–12; 3,13–14). Aber die dazugehörige
Lebensform muss innerhalb dieser Welt und ihrer Strukturen (die sicher
nicht ideal sind) zweckmäßig und nachhaltig sein. Die „Ordnung“, die
„Paulus“ dafür einfordert, erlaubt es einer christlichen Gemeinschaft,
über den Tag hinaus in dieser Welt zu bestehen.
(Stephan
Witetschek, Privatdozent für Neutestamentliche Exegese,
Heisenberg-Stipendiat der Deutschen Forschungsgemeinschaft und Leiter
des Projekts „Memoria Apostolorum“ an der Katholisch-Theologischen
Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München)
2. Thessalonicherbrief
Im ersten Thessalonicherbrief
(1 Thess) wendet sich Paulus an seine Gemeinde in Thessalonike (heute:
Thessaloniki), die er bald nach der Gründung wieder verlassen hat, und
gibt Anweisungen zu aktuellen Problemen. Dieser Brief gilt als der
älteste erhaltene Paulusbrief (circa 51 nach Christus in Korinth
geschrieben); der Apostel scheint hier noch damit zu rechnen, dass er
selbst den „Tag des Herrn“ erleben könnte (1 Thess 4,15–17). In 2 Thess
wird genau diese Vorstellung abgelehnt (2 Thess 2,1–11). Auch deshalb
neigt man in der modernen Forschung vielfach zu der Annahme, dass der
2. Thessalonicherbrief erst gegen Ende des 1. Jahrhunderts von jemand
anderem unter dem Namen des Paulus geschrieben wurde – vielleicht sogar
in Thessalonike selbst.
Der Zölibat macht Sinn. Er ahmt die Lebensweise Jesu nach, verweist
auf die Hoffnung auf den immer Größeren und hält den Zölibatären
verfügbar. Es sei denn, er kreist eh nur um sich …
Die Ehe
macht Sinn. Sie bildet Gemeinschaft, verweist auf die Verantwortung
füreinander und macht die Eheleute so offen für die Belange anderer. Es
sei denn, das Paar genügt sich selbst allein. Das gilt im Guten und
Schlechten für jede Art von aufrechter Partnerschaft.
Der Zölibat ist nicht besonders respekteinflößend. Er ist eine Art zu leben, die mit Verzicht und Möglichkeiten einhergeht. Die Ehe ist nicht besonders respekteinflößend. Sie ist eine Art zu leben, die mit Möglichkeiten und Verzicht einhergeht. Respekteinflößend ist jede Art von gelungenem und entschiedenem Leben, das ohne Doppelleben und ohne Doppelmoral auskommt. Das hat mit Möglichkeiten und Verzicht zu tun.
Der Bischof war nur verheiratet, als Teil einer Familie denkbar
Paulus schreibt in einer Zeit, in der die Familie die gesamte Gesellschaftsstruktur abgebildet hat. Haupt-und-Glieder-Struktur der Familie entsprach der Struktur der Gesellschaft und der Weltsicht der meisten Menschen. Für freie Menschen gab es keine denkbare Alternative zu Ehe und Familie, schon allein, weil gesellschaftliches Ansehen und soziale Absicherung unabdingbar an familiäre Strukturen gebunden waren. Jedes Leben außerhalb der klassischen Familie stellte denkerisch eine Gefahr für das Weltbild dar und das Potenzial für Armut. Somit war auch der Gemeindevorsteher, der Bischof, nur so denkbar: verheiratet, als Teil einer Familie. Paulus verweist darauf, dass nur ein guter Ehemann ein guter Bischof sein kann und nur ein ordentlicher Mann ein ordentlicher Kirchenmann. Bis heute in christlichen Kirchen weit verbreitet, wobei die orthodoxe Kirche zwar durchaus verheiratete Priester kennt, für Bischöfe aber in der Regel auf zölibatäre Mönche zurückgreift.
Mit
seinen Aussagen zeigt Paulus hilfreiche Kriterien für die Besetzung von
Leitungsaufgaben in der Kirche auf: Wäre der, der für die Leitung eines
Pfarrverbandes oder eines Bistums in Betracht gezogen wird, auch ein
brauchbarer Familienvater? Bekommt er sich und seine Aufgaben geregelt?
Ist er liebevoll und zugewandt? Kann er zuhören und entscheiden? Ist er
aufrecht, verlässlich und belastbar? Kann er sich und Situationen
einschätzen und sein Handeln reflektieren? Will er sich für andere
einsetzen, ohne sich selbst aus dem Blick zu verlieren? Hat er ein
Gespür für Möglichkeiten und Grenzen? Ist er treu? Und viele weitere
Fragen und Ansprüche.
So kann der Brief des Paulus an
Timotheus bis heute hilfreich und wichtig sein. Zur Beruhigung aller
Eheleute, Priester, Bischöfe und aller anderen: Eine Versöhnung mit
80-Prozent-Lösungen schützt vor Frustration und zu früher Selbstaufgabe …
Beste Segenswünsche in alle Richtungen und Lebensformen!
(Pfarrer Stefan Maria Huppertz, Leiter des Pfarrverbands München West)
Glaubt mir doch, dass ich im Vater bin und dass der Vater in mir ist.“
(Joh 14,11) „Typisch Johannesevangelium!“, möchte man zu diesem Zitat
sagen: ein Miteinander, Ineinander und Durcheinander von Vater und Sohn,
bei dem sich doch niemand so recht auskennen kann. Aber versuchen wir
es doch einmal und orientieren wir uns dabei am Prolog des
Johannesevangeliums (Joh 1,1–18): Im Johannesevangelium bezeichnet Jesus
Gott oft als seinen Vater – oder einfach nur als „den Vater“. Sich
selbst bezeichnet er dann einfach als „den Sohn“. Wenn dann – wie im
Eingangszitat – vom Ineinander-Sein die Rede ist, dann soll das die
enge Beziehung von Gott und Jesus, von Vater und Sohn beschreiben. Jesus
ist für das Johannesevangelium nicht einfach ein Mensch wie jeder
andere. Er ist ganz bei Gott; nach Joh 1,18 sogar „im Schoß des Vaters“.
Dass er nun als der Mensch Jesus von Nazareth in dieser Welt lebt,
ändert nichts an seiner engsten Verbindung zu Gott. Jesus ist „im
Vater“.
Gott in der Welt bekannt machen
Seine Aufgabe ist aber: Gott in der Welt bekannt machen. In
Joh 1,18 heißt es sogar: Gott auslegen, also interpretieren, für
Menschen erkennbar machen. Eigentlich ist Gott unsichtbar, für uns
nicht erkennbar. Das räumt das Johannesevangelium ohne Weiteres ein (Joh
1,18; auch Joh 6,46). Aber Jesus soll gerade das Unmögliche möglich
machen: Als „Wort Gottes“ steht er für die Kommunikation zwischen Gott
und Welt. Er verkörpert die Zuwendung, ja die Liebe Gottes zur Welt. In
diesem Sinn ist der Vater „in ihm“.
"Vater" und "Sohn" sind Metaphern
Die Beziehungsbegriffe „Vater“ und „Sohn“ sind Metaphern, Bilder, mit
denen unsere Sprache versucht, sich an die Beziehung von Gott und Jesus
anzunähern. Gerade im Johannesevangelium wird Jesus ja einerseits
einfach als „Gott“ bezeichnet (Joh 1,1.18; vor allem Joh 20,28),
andererseits wird er aber von Gott unterschieden (ebenfalls in Joh
1,1.18! – und öfter). Die Begriffe „Vater“ und „Sohn“ eignen sich gut,
um dieses komplexe Verhältnis (eng zusammengehörig, aber doch nicht
völlig identisch) zum Ausdruck zu bringen. Jesus als „Sohn Gottes“ zu
bezeichnen, ist dann also Ausdruck einer „hohen Christologie“, die vor
allem die göttliche Seite an Jesus stark betont, oder?
So eindeutig ist es auch wieder nicht. Im Alten Testament ist Gott der Vater des Volkes Israel, und diese Metapher wird durch alle Höhen und Tiefen der Beziehung zwischen Gott und seinem Volk durchbuchstabiert (Dtn 32,6; Jes 63,16; 64,7; Jer 31,9; auch Hos 11,1–4). Auch im heutigen jüdischen Gottesdienst wird Gott als „unser Vater, unser König“ angesprochen (das christliche Vaterunser unterscheidet sich davon nicht wirklich). In diesem Sinn muss man es wohl zunächst verstehen, wenn Jesus selbst Gott als „Vater“ (etwa Lk 11,2) beziehungsweise „Abba“ (Mk 14,36) ansprach (siehe Kasten).
Christsein heißt, an Jesu Beziehung zu Gott teilzuhaben
Daneben dient aber die Vater-Sohn-Beziehung als Bild für die
exklusive Beziehung eines prominenten Einzelnen zu Gott (2 Sam 7,14; Ps
2,7; 110,3). Zunächst waren dies wohl Aussagen über den König von
Juda/Jerusalem. Als dieses Königtum seit dem Babylonischen Exil (nach
587 vor Christus) erledigt war, bezog man sie auf eine Hoffnungsgestalt:
den Messias. Für die ersten Christ/-innen füllte Jesus diese Rolle
perfekt aus; die oben genannte Stellen aus dem Alten Testament bezog
man gern auf ihn (vgl. zum Beispiel Mk 12,35–37; Apg 2,32–36; 13,33;
Hebr 1,5).
Auf derselben Linie liegt das Johannesevangelium
(siehe oben). Aber auch hier hat die Metapher „Vater“ mehrere
Dimensionen und schöpft aus dem ganzen Reichtum der biblischen
Tradition. In der Ostererzählung des Johannesevangeliums (Joh 20) gibt
der auferstandene Jesus der Maria Magdalena folgende Botschaft an seine
Jünger mit: „Ich gehe hinauf zu meinem Vater und eurem Vater, zu meinem
Gott und eurem Gott.“ (Joh 20,17).
Denken wir weiter: Jesus, der Sohn, und die vielen Kinder (Söhne und Töchter) Gottes sind durch den einen Vater verbunden. Christsein heißt, an Jesu Beziehung zu Gott teilzuhaben. In kanonischer Perspektive gewinnen wir dann einen Zugang zum Vaterunser (siehe Mt 6,9–13). Die Anrede an Gott als „unseren Vater“ verbindet nicht nur Christ/-innen untereinander (das allein ist schon beachtlich!), sondern auch mit Jesus, der in einem ganz eigenen Sinn Gott als „Vater“ (oder: „Abba“) anspricht. Die Metapher „Vater“ ist so vielschichtig, dass sie erlaubt, nicht nur „nach“ oder „wie“ Jesus zu beten, sondern mit Jesus.
(Stephan
Witetschek, Privatdozent für Neutestamentliche Exegese,
Heisenberg-Stipendiat der Deutschen Forschungsgemeinschaft und Leiter
des Projekts „Memoria Apostolorum“ an der Katholisch-Theologischen
Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München
"Abba"
Jesus redete Gott im Gebet als „Abba“ an (Mk 14,36).
Dieses aramäische Wort im Mund Jesu hat sich in der griechischen
Jesusüberlieferung als Fremdwort erhalten. Dabei heißt „Abba“ einfach
„der Vater“ oder „o Vater“ (als Anrede). Es gibt keinen Grund, dieses
Wort an sich als kindliches „Lallwort“ oder als Ausdruck besonderer
Zärtlichkeit und Zuneigung („Papi“ oder Ähnliches) zu interpretieren.
Interessant ist aber, dass kein Geringerer als Paulus die aramäische
Anrede „Abba“ zweimal nennt (Röm 8,15; Gal 4,6). An beiden Stellen geht
es um den Geist Gottes, der Christ/-innen befähigt, Gott als „Abba“
anzusprechen. Dass Paulus hier ein aramäisches Fremdwort wiedergibt (und
dann auch übersetzt), könnte darauf hinweisen, dass er wusste, wie
Jesus gebetet hatte. Das bedeutet: Für Paulus ist christliches Beten,
das vom Geist Gottes inspiriert ist, ein Beten mit Jesus und Teilhabe an
der Gottesbeziehung Jesu.
Nein, hier soll es nicht darum gehen, ob das Wort „Mohr“ im Titel
dieses Beitrags angemessen ist. Es soll auch nicht darum gehen, ob der
Dunkelhäutige unter den Heiligen Drei Königen nun wirklich Melchior ist,
oder vielleicht doch eher Balthasar – oder gar Kaspar? Hier soll es um
die Frage gehen, warum überhaupt zum Bild der „Heiligen Drei Könige“
einer mit dunkler Hautfarbe gehört.
Im Matthäusevangelium
gibt es zwar eine Erzählung über den Besuch der drei „Magier“ beim
neugeborenen Jesus (Mt 2,1–12), aber wenn man von der ikonischen
Vorstellung der „drei Könige“ an der Krippe ausgeht, wird man vor allem
feststellen, wie viel in Mt 2,1–12 nicht steht: Von Königen ist keine
Rede. Dass es drei sind, kann man nur aus den drei Geschenken
erschließen, die in Mt 2,11 genannt werden: Gold, Weihrauch und Myrrhe.
Kein Reittier wird in der Erzählung erwähnt, und wie die drei heißen
und aussehen, erfahren wir auch nicht. Nur über ihre Herkunft lässt
Matthäus eine Bemerkung fallen: Die „Magier“ kommen „aus dem Osten“
(wörtlich: „vom [Sonnen-]Aufgang“, Mt 2,1).
Vom Land Israel aus wird man dabei an Mesopotamien denken, das Zweistromland zwischen Euphrat und Tigris (im heutigen Irak). Zu unserem Bild von den drei Königen an der Krippe passt das immer noch nicht – im Gegenteil! Wenn sie alle aus der gleichen Gegend kommen, wird man erwarten, dass sie ähnlich aussehen (etwa im abgebildeten Mosaik aus Sant’Apollinare Nuovo in Ravenna). Dass einer von ihnen eine andere Hautfarbe hat, ist da nicht selbstverständlich. Anders gewendet: Die „Magier“ treten im Matthäusevangelium als geschlossene Gruppe auf, nicht als Individuen.
Ist der Mohr ein unbiblischer Missbrauch?
Ist dann der „Mohr“ in unseren Krippen, war dann der schwarz
geschminkte Sternsinger ein unbiblischer Missbrauch? Gewiss haben
diese Darstellungen manchmal rassistische Vorurteile bedient. Gewiss
muss man manche Elemente dieser Folklore heute kritisch betrachten.
Aber ganz so einfach ist es auch wieder nicht: Wenn wir mit dem „Mohr“
in unseren Krippen kritisch (das heißt: unterscheidend) umgehen
wollen, sollten wir nachvollziehen, wie er in dieses Bild hineinkam.
Im Matthäusevangelium gibt es ihn noch nicht, dennoch verkörpern die „Weisen aus dem Morgenland“ hier schon eine Öffnung des Glaubens an den Gott Israels: Die drei „Magier“ treten als Nichtjuden auf, die beim jüdischen König Herodes ganz unbefangen nach dem „neugeborenen König der Juden“ fragen (Mt 2,2). Dann tun sie genau das Richtige: Sie bringen dem Messias Geschenke und verehren ihn (Mt 2,11). Mit diesen beiden Elementen, der (nichtjüdischen) Herkunft aus einem fernen Land und den kostbaren Geschenken, spielt unsere Erzählung auf ein alttestamentliches Motiv an: die „Völkerwallfahrt“. Es ist die hoffnungsvolle Vorstellung, dass am Ende der Zeit alle Völker nach Jerusalem pilgern, um den Gott Israels anzubeten.
Der Gott Israels ist Gott für alle Menschen
Das heißt auch: Der Gott Israels ist Gott für alle
Menschen. In einem einschlägigen Text, Jes 60,1–22, finden wir die
Gaben von Weihrauch und Gold (wie in Mt 2,11; die Myrrhe kommt wohl aus
Hld 3,6), die mit fernen Ländern in Verbindung gebracht werden, von
Spanien („Tarschisch“) bis Südarabien („Saba“) (Jes 60,6.9; auch Ps
72,10). Christliche Ausleger haben diese Texte bald auf die „Magier“
von Mt 2,1–12 bezogen (so auch die liturgischen Lesungen des
Dreikönigstages) und fanden so Material, um diese knappe Erzählung mit
kräftigeren Farben auszugestalten. So wurden die „Magier“ mit drei
Geschenken zu „drei Königen“. Der Universalismus, der in den
alttestamentlichen Texten zum Ausdruck kommt, floss dann in die
Auslegung von Mt 2,1–12 ein. Im 7. Jahrhundert wurden die drei „Magier“
zu Vertretern der drei damals bekannten Erdteile (Afrika, Asien,
Europa). Anscheinend zog man aber erst im späten Mittelalter die
Konsequenz, einen der drei als dunkelhäutigen Afrikaner darzustellen.
Diese
künstlerischen Umsetzungen der Erzählung Mt 2,1–12 entfalten einen
wichtigen Aspekt des Textes: Die ganze Welt kommt zur Krippe, und das
Kind in der Krippe ist für alle Menschen da. Das ist keine strikte
Umsetzung des Textes, sondern ein Weiterdenken mit dem Text, das zu
einem neuen Bild führt. Man spricht hier von der Wirkungsgeschichte des
Textes. Zwar wurde mit dem „Mohr“ an der Krippe mancher rassistische
Unfug getrieben. Aber es wäre zu eng gedacht, ihn deswegen wegzulassen
und die Gesellschaft an der Krippe zu einer einheitlich weißen
Versammlung zu machen. Uns Menschen, die wir zur Krippe kommen, gibt es
eben in sehr unterschiedlichen Gestalten. Vielleicht werden die Krippen
in Zukunft noch vielfältiger...
(Stephan Witetschek , Privatdozent für Neutestamentliche Exegese,
Heisenberg-Stipendiat der Deutschen Forschungsgemeinschaft und Leiter
des Projekts „Memoria Apostolorum“ an der Katholisch-Theologischen
Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München)
Afrika in biblischer Zeit
Im antiken Mittelmeerraum war Afrika südlich der Sahara kaum
bekannt;
Kontakte gab es nur über den Nil, der in den heutigen Sudan führte. (Im
Alten Testament heißt diese Region „Kusch“, in der griechisch-römischen
Antike sprach man von „Äthiopien“.)
Die dort lebenden dunkelhäutigen Menschen erschienen den Griechen und
Römern als Inbegriff des Fremdartigen. Der Geograph Strabon (1.
Jahrhundert vor Christus) behauptete zum Beispiel, dass sie im Mangel
lebten und kein Salz verwendeten. Doch die Apostelgeschichte enthält
eine Erzählung von einem gottes- fürchtigen „Äthiopier“, der auf dem
Rückweg von seiner Pilgerreise nach Jerusalem getauft wird (Apg
8,26–40). Vielleicht ist auch er ein biblischer Anknüpfungspunkt für
den „Mohr“ in der Krippe.
Seit Langem interessiert sich die Forschung für den „historischen Jesus“: Dahinter steckt die Vorstellung, dass aus dem Neuen Testament ein bereits vom Glauben an die Auferstehung her geformtes Bild Jesu scheint. Was aber ist historisch gesichert? Gibt es zweifelsfreie Quellen zum Leben Jesu? Gerade die Weihnachtserzählung wird kritisch beäugt: Stimmt es, was die Bibel von der Geburt Jesu in Betlehem berichtet?
Schon die Evangelisten selbst scheinen sich uneins, was Weihnachten angeht. Nur Lukas und Matthäus kennen eine „Kindheitsgeschichte“ Jesu, wobei sie sich stark unterscheidet: Nach Lukas müssen Maria und Josef wegen einer Steuererhebung nach Betlehem reisen und finden dort keinen Platz in der Herberge. Engel verkünden Hirten die Geburt Jesu.
Bei Matthäus liest sich das anders: Seiner Darstellung nach scheint die Familie von Anfang an in Betlehem zu wohnen: Die Steuererhebung fehlt ebenso wie die vollen Herbergen oder die Huldigung der Hirten. Dafür kommen Weise aus dem Morgenland, die Jesus als dem „König der Juden“ Geschenke bringen. König Herodes fürchtet um seine Macht und lässt alle Erstgeborenen in Betlehem töten. Die Heilige Familie kann gerade noch nach Ägypten fliehen; Jahre später kehrt sie zurück, aus Angst aber nicht in ihre Heimat Betlehem, sondern nach Nazareth in Galiläa.
Viele dieser Details wurden historisch untersucht. So steht fest, dass es Steuererhebungen im Heiligen Land gegeben hat – wenn auch wohl erst nach der Geburt Jesu. Ganz ausgeschlossen ist es also nicht, dass Josef zu seinem Grundbesitz nach Betlehem reisen musste; einen historischen Beweis dafür gibt es aber nicht. Astronomen können eine besondere Sternenkonstellation ausmachen, die die Weisen aus dem Morgenland zur Reise nach Judäa veranlasst haben könnte. König Herodes kommt gerade beim jüdischen Geschichtsschreiber Flavius Josephus nicht sonderlich gut weg – von einem grausamen Kindermord wusste dieser aber nichts. Andererseits: Betlehem dürfte damals ein kleines Dorf gewesen sein; es werden wohl nicht viele, sondern nur einige Kinder gestorben sein. Auch das ist natürlich eine grausame Tat eines Tyrannen, erklärt aber vielleicht, warum davon Jahrzehnte später nichts mehr bekannt ist.
Historische Belege fehlen
Wie also war es mit der Geburt Jesu Christi? Historische Belege fehlen. Jede neue Forschung kann den ein oder anderen Aspekt der Kindheitsevangelien vielleicht erleuchten, nicht aber beweisen, dass es genau so geschehen sein muss. Das aber disqualifiziert die Evangelien nicht: Sie sind nicht das Werk von Geschichtsschreibern.
In den Evangelien lassen sich die Fakten gar nicht trennen von der theologischen Botschaft: Sie sind Deutungen der Geschichte vor dem Hintergrund des Glaubens. So ist etwa der Geburtsort Jesu in Betlehem kein Zufall: Schon der König David wurde dort geboren, in dessen Tradition die Evangelisten Jesus als den neuen König aus dem Hause Davids stellen. Matthäus und Lukas deuten auf ihre je eigene Weise, wie Jesus „aus Nazareth“ eben nicht dort, sondern in Betlehem geboren werden konnte.
Als Deutung des Glaubens wollen diese Texte auch uns heute ansprechen – noch zwei Jahrtausende, nachdem sie entstanden sind. Den Evangelisten geht es darum, zu zeigen, wer Jesus ist: Er ist der Sohn Gottes, empfangen vom Heiligen Geist. Als „König der Juden“ geht er aber nicht den Weg der Mächtigen; er wählt die Machtlosigkeit. Ob er nun nach Lukas in einer Krippe geboren wird und die sozial eher randständigen Hirten zu den ersten Adressaten der Frohen Botschaft werden oder nach Matthäus die erste Erfahrung des neugeborenen Jesus Flucht und Vertreibung sind – beide betonen, dass im Zentrum der Sendung Jesu die Bedürftigen, Armen, Vertriebenen stehen. Diese Botschaft richtet sich an die heutigen Hörer mit derselben Dringlichkeit wie an die ersten Leser: „Heute ist euch in der Stadt Davids der Retter geboren; er ist der Christus, der Herr.“ (Lk 2,11)
(Benedikt Bögle, katholischer Theologe und Jurist. Er arbeitet in München als Rechtsreferendar und freier Journalist.)
Weihnachten in der Bibel
Die Evangelisten gehen mit
der Geburt Jesu unterschiedlich um. Markus behandelt sie gar nicht.
Johannes berichtet zwar nicht von der Geburt; sein Evangelium beginnt
aber mit einem Prolog, der nach der Herkunft und Sendung Jesu fragt.
Sowohl Matthäus als auch Lukas berichten ausführlich von der Geburt
Jesu: Für Lukas stammt die Familie Jesu aus Nazaret, Maria und Josef
müssen wegen einer Steuererhebung nach Betlehem reisen. Dort finden sie
keinen Platz in den Herbergen; der neugeborene Jesus muss in eine
Futterkrippe gelegt werden und wird zuerst von Hirten besucht. Matthäus
berichtet, dass Jesus in Betlehem geboren wurde: Die ersten Gäste sind
die Weisen aus dem Morgenland. König Herodes fürchtet sich vor dem
neugeborenen König und lässt alle Erstgeborenen in Betlehem töten. Die
Heilige Familie flieht nach Ägypten. Später zieht sie nach Nazareth.