Über das Wesen der Kunst
Im Wohnzimmer des Liedermachers Konstantin Wecker stehen seine beiden Passionen im Zentrum: Am schwarzen Schimmel-Flügel bereitet er sich auf seine Konzerte vor, von den unzähligen Büchern, die in Regalen aufgereiht stehen, lässt er sich inspirieren. Wenige Tage nach unserem Gespräch in seinem Schwabinger Haus bricht er zu den Proben für sein neues Tourneeprogramm „Utopia 2.0 – Wir werden weiter träumen“ auf, am 13. und 14. November präsentiert er es im Circus Krone. Damit führt er die Gedanken weiter, die er vor zwei Jahren auf seinem Album „Utopia“ zum Klingen gebracht hat. Mit vielen neuen gesprochenen Texten, aber auch älteren Liedern wie „Der Baum“, das schon in den 1980er Jahren für die Klimabewegung Fridays for future hätte geschrieben sein können.
Weil Kultur für alle da sein soll, sich aber immer weniger Menschen
die Eintrittskarte leisten können, verschenkt Wecker pro Konzert hundert
Sozialtickets. Früher hat er eine ähnliche Aktion für Hartz-IV-
Empfänger gemacht, doch viele Leute hätten sich geschämt, ihren Ausweis
vorzuzeigen. Deshalb muss nun kein Nachweis mehr erbracht werden. „Ich
vertraue meinem Publikum“, sagt der Musiker dazu.
Kürzlich ist im bene! Verlag unter dem Titel „Wir werden weiter träumen – Poesie für eine bessere Welt“ ein Buch mit Weckers Texten der letzten elf Jahre erschienen. Darunter Notizen, die es damals auf seiner Homepage zu lesen gab, zwei Antikriegsmanifeste, die Texte seines letzten Albums und die Gedichte alter Lieder, die seine Lebensthemen Pazifismus und Antifaschismus aufgreifen. Wenn er nach den Konzerten beim Signieren mit seinem Publikum ins Gespräch kommt, erzählen ihm die Leute oft, dass seine Lieder ihnen seit über 30 Jahren Mut machen, zu sich selbst zu stehen. Das will er auch mit diesem neuen Gedichtband erreichen. „Ich glaube, das ist das Wesen der Kunst“, sagt der 76-Jährige. Auch er selbst schöpfe sein Leben lang Kraft aus der Poesie, genau wie aus seinen eigenen Gedichten. Sei es, als er wegen seiner anarchischen Thesen von seinen Mitschülern gemobbt wurde, oder jetzt, im Alter. In seinen Gedichten ruft er dazu auf, mit dem Herzen zu denken – ohne Ego, Eitelkeit und Ratio. Und er will sein Publikum dazu animieren, die eigenen Träume ernst zu nehmen.
Wecker unterscheidet zwischen Realität und Wirklichkeit. „Realität
ist das, was die Herrschenden dir einreden. Aber die Wirklichkeit ist
das, was in uns wohnt. Das hat wahnsinnig viel mit Liebe und Vergebung
zu tun. Das Wesen von allem ist die Liebe, deswegen sind wir auf der
Welt“, meint er, auch wenn es ihm angesichts der täglichen Schlagzeilen
manchmal schwerfalle, das zu glauben. Von den Kirchen würde er sich
wünschen, dass sie sich weniger auf ihre Ver- und Gebote, sondern auf
die Liebe des Jesus von Nazareth berufen. „Jesus ist das große Vorbild
für die friedliche und pazifistische Lebensweise. Das wird von den
Kirchen zum großen Teil vergessen.“
Seit Jahrzehnten hält der
Lyriker an seiner Utopie von einer liebevollen, herrschaftsfreien
Gesellschaft fest – auch wenn ihm klar ist, dass sich das „mit
Politikern, die ihr Privatwohl im Sinn haben“, nicht verwirklichen
lässt. Es regt ihn auf, dass selbst Zeitungen, die die Friedensbewegung
jahrzehntelang positiv begleitet haben, angesichts des russischen
Angriffskrieges auf die Ukraine „jetzt dieses ganze Militarisierungsding
mitmachen“. Noch mehr ärgert er sich darüber, wie sehr sich die Grünen
von ihren pazifistischen Idealen entfernt haben. Mit Petra Kelly, einer
Gründerin der Partei, war er eng befreundet. „Was würde die wohl zu Frau
Baerbock und Herrn Hofreiter sagen?“
Obwohl er seit
Jahrzehnten dafür wirbt, will er seinen Pazifismus niemandem aufzwingen.
„Das ist etwas, wofür ich mich allein entschieden habe.“ Er würde sogar
so weit gehen, sich erschießen zu lassen, anstatt selbst zur Waffe
greifen zu müssen. „Natürlich gibt es gewaltfreien Widerstand, aber der
wird nicht eingeübt, weil der Kapitalismus unglaublich am Krieg
verdient. Es gibt sogar Thinktanks, die daran arbeiten, uns vom Krieg zu
überzeugen.“ Weil er sich selbst in Zeiten des Ukraine-Krieges für den
Frieden einsetzt, wird er in Hasskommentaren als Putin- und Russenfreund
beschimpft. „Aber niemand, der mich nur ein bisschen kennt, kann mir
eine Freundschaft zu Putin unterstellen“, sagt der bekennende Anarchist.
Bei all seinem Kampf gegen Krieg und Faschismus würde er sich nie gegen
den einzelnen Menschen stellen, betont Wecker. „Ich denke mir: Was muss
der für eine schreckliche Kindheit und für Freunde gehabt haben, dass
er diese Ideen überhaupt an sich heranlässt?“
Es ist zur
Tradition geworden, dass der Liedermacher alle seine Konzerte mit dem
Gedicht „Jeder Augenblick ist ewig“ beendet. Im Augenblick leben, das
gelingt ihm vor allem auf der Bühne und beim Schreiben. Mit 33 Jahren
schrieb Wecker das Lied „Liebes Leben“. Darin kommt die Zeile vor: „Kann
doch, was ich bin, nur sein, wenn ich es auch werde“. Genau das will er
nun, im Alter, lernen: „Ich will jetzt alles das werden, was ich in
meinen Texten schon als ganz junger Mann geahnt habe.“
(Maximilian Lemli, Redakteur der Münchner Kirchenzeitung)