Sehnsucht nach Gott
Was ist das für ein Buch: ein Erklärbuch, eine Meditation, ein Selbstgespräch? Oder ist es selbst ein Gebet? Ein Gesang? Beatrice von Weizsäcker hat mit „Vaterunser – Gebet meiner Sehnsucht“ ein Werk vorgelegt, das sich auf Anhieb nicht leicht fassen lässt. Aber es lässt sich leicht lesen: mit übersichtlichen Kapiteln, die Zeile für Zeile und Wort für Wort das Vaterunser nachzeichnen und ausfalten. Womit nicht gesagt werden soll, dass das leichte Kost ist. Im Gegenteil: Von Weizsäckers „Vaterunser“ hat auch schwere und dunkle Momente.
Immer wieder erzählt die Autorin aus ihrem Leben, beschreibt ihr Ringen und unruhiges Sehnen, deutet einen Kreislauf aus Scheitern und Aufraffen, aus Verzweifeln und Hoffen an. Dabei beschäftigt sie immer wieder der Verlust ihrer beiden Brüder (der eine starb an Krebs, der andere wurde Opfer eines Mordanschlags) – zwei tiefe Verwundungen, die sie vor dem Hintergrund der Vaterunser-Bitten reflektiert.
Dieser Streifzug durch das Vaterunser ist auch eine Reise durch die
menschliche Gefühlswelt: mal jubelnd, mal still staunend; mal poetisch,
mal völlig geerdet und pragmatisch (von Weizsäcker ist Juristin!), immer
wieder auch entwaffnend ehrlich, sogar zornig – und ratlos. So
persönlich das Buch auch verfasst ist, es ist zugleich ein offenes,
einladendes Buch, das neue Sichtweisen auf das Vaterunser eröffnen und
Impulse für ein persönlicheres, ja ehrlicheres Beten geben kann. Man
wird sich dabei vielleicht nicht jeder Lesart anschließen, nicht jede
Empfindung der Autorin teilen können – aber auch das führt zu einem
Erkenntnisgewinn.
Nach der Lektüre hat sich die Ausgangslage
zwar nicht verändert: Gott bleibt immer größer, für uns nicht habbar,
und selbst als überzeugte Gläubige sind wir dazu verdammt, unser Leben
als Wanderer zwischen den Welten zu fristen – im Irdischen verhaftet,
das Göttliche erahnend. Aber man fühlt sich mit diesem Buch dazu
eingeladen, einzelne Verse unseres wichtigsten Gebets nicht mehr einfach
nur nachzusprechen, sondern sich individuell dazu zu verhalten –
vielleicht bis hin zum Bekenntnis: Dieses oder jenes kann ich (noch)
nicht.
Letztlich geht es um die Sehnsucht nach Gott. Eine
Sehnsucht, die nicht erst im Jenseits gestillt werden soll. Vielleicht
sollten wir dies Gott öfter und eindringlicher entgegenrufen, ihm alle
Türen öffnen, uns nicht mit diesem Getrenntsein arrangieren? Wie
Beatrice von Weizsäcker, der das „tägliche“ Brot nicht mehr genügt, der
der Zeitraum „heute“ in ihrem Sehnen nach Gott schon zu lang wird: „Gib
es mir jetzt“, betet sie fordernd, „in diesem Moment“.
(Joachim Burghardt, Redakteur der Münchner Kirchenzeitung)
MK: Wie ist das, wenn man zu Gott betet, und er antwortet nicht?
VON WEIZSÄCKER: Blöd. Wenn man zu Gott betet, und er gibt keine Antwort, steht man erst mal sehr allein da. Manchmal frage ich ihn: „Warum antwortest du nicht?“ Und manchmal antwortet er dann doch, ich merke es nur nicht. Zum Beispiel durch andere Menschen. Es wäre eine Verengung Gottes, zu erwarten, dass er sofort und in Worten antwortet.
MK: Sie schreiben: „Gott sehnt sich nach uns. Und wenn beides aufeinandertrifft, seine Sehnsucht nach mir und meine Sehnsucht nach ihm, kommen wir zusammen.“ Muss sich beim Gebet also auch Gott bewegen?
VON WEIZSÄCKER: Er muss gar nichts. Aber ich glaube, dass Gott sich nach uns sehnt. Dass er die Hand nach uns ausstreckt und uns helfen will. Das ist seine Sehnsucht. Und ich strecke ihm meine bittende Hand entgegen. Das ist meine Sehnsucht. Dann kann es einen magischen Moment geben, in dem beide Sehnsüchte aufeinandertreffen. Klammheimlich, unsichtbar, niemand weiß davon. Eine Sphäre, wo wir uns begegnen und in Sehnsucht vereint sind. Allein der Gedanke ist schon tröstlich, dass meine Sehnsucht nicht ins Leere läuft – auch wenn die Situation noch gar nicht gelöst ist.
MK: An einer Stelle erwähnen Sie, dass Ihnen Jesus am See Genezareth begegnet sei. Wie war das?
VON WEIZSÄCKER: Ich war mit dem Bayerischen Pilgerbüro im Heiligen Land. Wir sind mit einem Holzboot auf den See gefahren. Mitten auf dem See las uns der begleitende Priester aus der Bibel die Geschichte vom Sturm auf dem See vor. Auf einmal hatte ich das Gefühl, dass Jesus da war. Wenn ich heute Bilder vom See anschaue, ist dieses Gefühl sofort wieder da. Das ist wunderbar. – Wir sprachen davon, wie es ist, wenn Gott nicht antwortet – das war eine Antwort. Dabei hatte ich gar keine Frage gestellt.
MK: Könnte oder möchte Gott vielleicht noch viel öfter spürbar sein und es scheitert an uns?
VON WEIZSÄCKER: Ich glaube: ja. Wenn ich den Tag Revue passieren lasse, fallen mir manchmal Momente ein – ein Blick von einen Kind, der Duft einer Blume, ein Sonnenstrahl. Da hat er gesagt: Ich bin da. Doch vor lauter Geschäftigkeit habe ich nicht mitbekommen, dass seine Sehnsucht schüchtern bei mir anklopfte.
(Interview: Joachim Burghardt)