Frauen erobern den Jakobsweg
Galiciens Hauptstadt brummt. Wenn der Schein nicht trügt, wird die Zahl der Pilger 2023 erneut alle Rekorde brechen. Mit weit über 400.000 lag die Zahl der offiziell registrierten Pilger Mitte Oktober nicht mehr weit weg von den gut 438.000 Pilgern des Vorjahres. Was den Stadtvätern freilich zunehmend Sorgen macht, sind die zusätzlichen Besucher. All die ohne Pilgerpass, die allenfalls als Übernachtungsgäste statistisch in Erscheinung treten.
Unübersehbar sind inzwischen die Menschenschlangen vor einer der eindrucksvollsten Kathedralen Europas, der Grabstätte Jakobus’ des Älteren, wie sein Bruder Johannes einer der Jünger Jesu. Bis zu einem Kilometer stauen sich die Wartenden an Spitzentagen inzwischen vor dem Eingang zum Apostelgrab. Vom Massenandrang profitieren Hotels und Restaurants, aber auch Bars, Bistros, Cafés und Andenkenhändler. Selbst vor den Gepäckkontrollen am Flughafen ist der Pilgerboom sichtbar, wo sich manchmal gleich Dutzende von Wanderstöcken und Pilgerstäbe stapeln, die Flugreisende bei ihrer Rückkehr in die Heimat aus Sicherheitsgründen nicht mit an Bord nehmen dürfen.
Zwar will man das Wort „Overtourism“ (Übertourismus) in Santiago de
Compostela offiziell nicht in den Mund nehmen, doch viele Einwohner sind
genervt von den Massen, die vor allem am Wochenende die Stadt aus allen
Nähten platzen lassen. Goretti Sanmartin, die neue Bürgermeisterin der
Stadt, hat deshalb zu ihrem Amtsantritt versprochen, mehr dafür zu tun,
den Fremdenverkehr in andere Bahnen zu lenken. Dazu ist auch eine neue
Touristensteuer im Gespräch, die ab 2025 greifen und Übernachtungen um
maximal 2,50 Euro verteuern soll.
Vor allem junge Leute haben Santiago de Compostela als neuen Partyort entdeckt. Dazu trug auch die wachsende Zahl von in der Stadt Studierenden bei, die aus vielen Ländern der Welt kommen und heute mehr als jeden vierten Einwohner stellen. Für sie ist die Rúa do Franco, wo sich Restaurants und Bars wie Perlen an einer Schnur reihen, zur neuen Meile der Lebenslust geworden. Wo früher Pilger nach ihrer Ankunft in Santiago de Compostela Speise und Trank suchten, ist heute geselliges Leben zu Hause, das von einem Tresen zum nächsten führt. In Anlehnung an die am Anfang und Ende der Gasse gelegenen Café-Bars namens Paris und Dakar hat die Jugend hier längst ihre eigene Rallyestrecke Paris-Dakar gefunden, die dem Namen nach an die einst legendären Automobilrennen von Europa nach Afrika erinnert
Angesichts des gelegentlich überbordenden geselligen Treibens hat die Bürgermeisterin diesen Sommer die lokale Polizei angewiesen, besonders darauf zu achten, dass der Übermut junger Leute nicht in Vandalismus umschlägt. Hin und wieder nämlich sprühten Heißsporne Friedensbotschaften und Klimaappelle an die jahrhundertealten Kirchenwände oder schlugen auf den schönsten Grünflächen der Stadt ihre Zelte auf.
Aus allen Richtungen führen seit dem Mittelalter Pilgerwege in die
Stadt, die alle am Grab des Apostels in der für viele Millionen Euro
renovierten Kathedrale enden. Manche Routen erleben derzeit einen neuen
Boom – etwa die Wege aus Richtung Portugal oder der sogenannte
englische Weg, den einst die mit dem Schiff anreisenden englischen
Pilger ab La Coruña im Norden Galiciens nutzten. Sie erlauben nämlich,
Santiago de Compostela in ein bis zwei Wochen bequem zu erwandern und
sich dort im Pilgerbüro mit dem Pilgerpass das offizielle
Wallfahrtszeugnis abzuholen. Das „Credencial del peregrino“ wird
jedem ausgestellt, der mindestens hundert Kilometer zu Fuß oder
zweihundert Kilometer mit dem Fahrrad zum Apostelgrab unterwegs ist.
Nicht
einmal mehr zwei Drittel der Pilger sind auf dem traditionellen und
seit dem Mittelalter beliebtesten Jakobsweg, dem Camino Francés,
unterwegs, der in rund 800 Kilometern von den Pyrenäen quer durch
Spanien nach Santiago führt. Er ist inzwischen zur Achillesferse der
Jakobswege geworden, weil die meisten Pilger erst in Soria oder gar Leon
in die Route einsteigen und die Gastronomen und Hoteliers im Osten
Spaniens, die in den letzten Jahren viel Geld in neue Herbergen und
Gaststuben steckten, verzweifeln lassen. Auch die deutschen Pilger,
neben Amerikanern, Portugiesen und Italienern die stärkste ausländische
Wandergruppe, steigen immer später in den „Camino“ ein.
So
wie die Schwestern von Doris aus dem Sauerland, die erst auf den letzten
Kilometern familiäre Begleitung gefunden hat. „Die hatten keine sieben
Wochen Urlaub wie ich“, sagt sie entschuldigend. Wie viele hat sie Hape
Kerkelings Buch „Ich bin dann mal weg“ auf den Weg gebracht, der in
vielen Dutzend Auflagen erschienene und erfolgreich verfilmte
Bestseller, eines der meistverkauften deutschen Sachbücher.
Und noch etwas hat sich 2023 verändert: Verdankte Santiago de
Compostela im Vorjahr seinen Besucherrekord vor allem spanischen
Pilgern, die nach den Corona-Jahren die neue Lust am Wandern packte,
sorgen dieses Jahr vor allem Ausländer für steigende Besucherzahlen.
Auffallend im Straßenbild der Altstadt sind die vielen Radfahrer, die in
der offiziellen Pilgerstatistik aber nicht so zu Buch schlagen.
Offensichtlich, erklärt man sich das im Pilgerbüro, ist der sportliche
Ansporn bei ihnen größer als die Sinn suche, was die Radler nicht
hindert, ihre Rennmaschinen vor der Kathedrale fürs Handyfoto stolz in
den Himmel zu recken.
Im Mittelalter war es üblich, nach
Erreichen des Apostelgrabes weiter nach Fisterra oder Muxia zu pilgern.
An Spaniens Atlantikküste, wo für die meisten Pilger damals die Welt zu
Ende war, wenn sie die Sonne im Meer verschwinden sahen. Hier auch, an
der Costa da Morte, sollen einst auch die Seelen der Toten in den Himmel
aufgestiegen sein. Kein Wunder, dass man hier zu Füßen des Leuchtturms
am Cap Finisterre auch den Kilometer Null des Jakobsweges markierte –
heute ein beliebtes Fotomotiv der Pilger.
Auch Doris aus dem
Sauerland posierte hier mit ihren Schwestern für Selfies an die
Verwandtschaft. Für den knapp 90 Kilometer langen Weg zum Atlantik
allerdings, Wanderer führt er meist auch ein bisschen anstrengend durch
Felder, Wald, Wiesen und kleine Dörfer, haben sie einen Mietwagen
genommen. „Nach sechs Wochen Wanderung war für mich in Santiago die Luft
raus“, verrät sie. „Sehen aber wollte ich den Endpunkt des Jakobsweges
schon noch“.
Am Cap Finisterre, wo Pilgern die rauhe Luft des
Atlantiks um die Nase weht, ist in den letzten Jahren auch eine alte
Tradition neu aufgelebt. Wie im Mittelalter haben viele Wanderer des
Jakobsweges hier ihre Schuhe und stinkende Kleidung verbrannt, was
inzwischen aus Umweltschutzgründen verboten ist – ebenso wie das
Entsorgen der Pilgergewänder im Meer.
Dafür stapeln sich jetzt
die Devotionalien der Moderne wie Sportschuhe, T-Shirts, Wanderstäbe,
Thermosflaschen, Armbändchen und andere Utensilien der Pilger zu Füßen
eines Kreuzes auf einem Sockel. Andere haben ihre Schuhe einfach nur
auf einen der Felsen gestellt. Mancher hier abgelegte Zettel oder Stein
trägt zudem die in Aufschrift gefassten Früchte eines langen Weges.
„Die Liebe bleibt Mama für immer“ etwa hat eine Pilgerin ihre Erkenntnis
auf dem Weg zu Jakobus festgehalten.
(Günter Schenk, freier Mitarbeiter der Münchner Kirchenzeitung)
Wissenswert
Jakobswege
Der Jakobsweg ist ein europaweites Netz von Straßen und Wegen. Seit dem neunten Jahrhundert führt er Pilger vom Baltikum über Polen, Deutschland, die Schweiz und Frankreich zum angeblichen Grab des Apostels Jakobus in Santiago de Compostela im äußersten Nordwesten Spaniens. Im Mittelalter erstreckten sich die Tagesetappen meist von einem „heiligen Ort“, an dem Reliquien verehrt wurden, zum nächsten.
Neben den fast zahllosen Verästelungen und Zubringern gab es je nach Zählung vier bis sechs Hauptrouten durch Frankreich. Der „Weg der Deutschen“, die „Via Lemovicensis“, ging von Vezelay in Burgund aus und war der Hauptweg für Pilger aus Nord- und Westdeutschland sowie aus Osteuropa. Der sogenannte Küstenweg für Engländer und Iren verlief entlang der französischen Atlantikküste bis nach Spanien. Weiter östlich verliefen die „Via Turonensis“ über Paris, Tours und Bordeaux, die „Podiensis“ über Le Puy und Conques, die „Tolosana“ über Arles und Toulouse sowie der sogenannte Pyrenäenweg über Beziers und Foix.
Die angebliche Grabstätte des heiligen Jakobus entwickelte sich im Mittelalter neben Rom und Jerusalem zu einem der drei Hauptziele der christlichen Pilgerfahrt. Seit 1982 Papst Johannes Paul II. und 1987 der Europarat zur Wiederbelebung der Jakobswege aufriefen, hat eine Renaissance dieser „europäischen Kulturbewegung“ eingesetzt, wie eine immer weiter steigende Zahl von Pilgern belegt. Als erster Märtyrer aus dem Kreis der Apostel wurde Jakobus um 44 im Heiligen Land hingerichtet. Dass er als Prediger in Spanien missioniert hätte, berichten erst schriftliche Quellen ab dem 7. Jahrhundert. Sein angebliches Grab wurde im frühen 9. Jahrhundert auf dem Gebiet der heutigen Stadt Santiago de Compostela („Sternenfeld“) entdeckt. Der „Fund“ machte Santiago neben Jerusalem (Grab Christi) und Rom (Grab der Apostel Petrus und Paulus) in den folgenden Jahrhunderten zum wichtigsten Wallfahrtszentrum der Christenheit.